4Jan2016

Vom Wandel der Anrede

Michael Malsch

Bis zum Mittelalter hatten die Menschen im deutschen Sprachraum nur einen einzigen Namen. Dann aber wurde es üblich, um Menschen mit demselben Namen auseinanderhalten zu können, dem Namen ein Attribut hinzuzufügen, den ÜbernamenÜbername ist ein Terminus aus der Sprachwissenschaft, mit dem ein Beiname bezeichnet wird, der einer Person gegeben wird, um sie genauer zu beschreiben.Siehe Wikipedia.org. Er charakterisierte den Namensträger durch den Herkunftsort (Malsch), den Beruf (Müller), seine Eigenschaften (Wunderlich), sein Aussehen (Dürr) oder über andere Merkmale (Fuchs, Herbst, Schilling). Aber man rief ihn weiterhin mit seinem ersten Namen, der deshalb zu Recht Rufname genannt wird.

Dieser Rufname ist im Laufe der Jahrhunderte immer mehr durch den Übernamen verdrängt worden. Auch die Pluralform der pronominalen Anrede, die früher nur dem Adel und dem Klerus vorbehalten war (Ihro Gnaden, Eure Heiligkeit), setzte sich für jeden Fremden durch.

Als ich 1966 mit dem Studium an der Freien Universität Berlin begann, trugen die Studenten Jackett und Schlips und siezten sich. Erst meine, die 1968er Generation, fing an, sich zu duzen. Sicherlich war dabei auch eine Portion Auflehnung gegen das Establishment, gegen den Muff von tausend Jahren.

Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann das strikte Siezen langsam zu bröckeln. In den 1960er und 1970er Jahren vollzog sich in Schweden die sog. Du-ReformDie Du-Reform (schwedisch: du-reformen) bezeichnet eine Änderung im Gebrauch der Personalpronomen in der Anrede, die in Schweden im Laufe der 1960er und 1970er Jahre stattfand.Siehe Wikipedia.org, mit der die Gleichheit der Menschen betont wird.

Aber in anderen Gruppierungen der Gesellschaft war auf diesem Gebiet keine große Veränderung zu erkennen. Parallel existierten schon immer die Mischformen des Hamburger Sie (Gudrun, schließen Sie bitte die Tür) und des Kassiererinnen-Du (Frau Meier, schließ bitte die Tür).

Erst in den 1980er Jahren lockerten sich die Konventionen. Wenn man auf einer Party eingeladen war und den Gastgeber duzte, duzte man auch dessen gleichaltrige Freunde mit. Und im Berufsleben war zu beobachten, dass junge Firmengründer hierarchieübergreifend das Du einführten. In den Fitness-Studios wurden auch die Kunden mit einbezogen. Und als ich kürzlich in MottenburgOttensen ist auch unter dem Namen Mottenburg bekannt, der von vielen Ottensern selbst verwendet wird. Über die Entstehung dieses Namens existiert eine Vielzahl von Varianten.Siehe Wikipedia.org war und mir einen Latte Macchiato bestellte, fragte mich (70) die junge weibliche Bedienung (<20): Willst du auch einen Keks dazu?

In Funk und Fernsehen hielt sich das Sie bis zum Ende des Jahrtausends. Moderatoren in Talk-Shows siezten ihre Gäste, wenn sie auf Sendung waren, auch wenn sie diese persönlich kannten und privat duzten. Vermutlich wollten sie so den Schein der Neutralität wahren. Wenn ihnen doch mal ein Du rausrutschte, versuchten sie, den Zuschauern lang und breit zu erklären, dass man sich doch privat kennen würde, wodurch die Situation ins Peinliche abrutschte. – Nur einer brach mit der Konvention, und das war Thomas Gottschalk. Er duzte konsequent alle Gesprächspartner (bis auf die Bundeskanzlerin), die ihm in die Quere kamen. Inzwischen ist es selbst in der traditionsbewussten Tagesschau selbstverständlich, dass sich die Moderatoren untereinander und mit den interviewten Auslandskorrespondenten duzen. Und die verwenden bestimmt nicht das Kassiererinnen-Du.

Am 23. Oktober 2014 las ich im Hamburger Abendblatt in einem Artikel mit dem Titel Deutschlands erstes Du-Dorf, dass sich ein Dorf vom Sie verabschiedet habe. Rodenäs heißt dieses Dorf. Es liegt ganz oben links auf dem Schleswig-Holsteiner Festland. Vielleicht liegt es an der Nähe zu Dänemark, wo man ein Sie nicht kennt.

Ich kann die Motive derer verstehen, die weiterhin das Siezen erhalten wollen. Sie sagen, man könne jemanden so besser auf Distanz halten, man verschaffe sich so mehr Respekt. Aber die Engländer, bei denen das Thou seit Jahrhunderten ausgestorben ist, schaffen es doch auch, respektvoll miteinander umzugehen.

Warten wir es ab. Möglich, dass das Sie in den Wellenbewegungen der Geschichte eine Renaissance erlebt, möglich auch, dass das Sie in 50 Jahren ganz verschwunden ist.

Michael Malsch, 1. November 2014, bearbeitet am 23. Oktober 2015