Kirchliches Vergnügen
In den Jahren 1955 oder 1956, jedenfalls lange vor Beginn meiner Konfirmanden-Zeit, nahm meine Mutter mich manchmal am Sonntag mit zur Andacht in die Broder-Hinrick-Kirche in Hamburg-Langenhorn, um mich schon rechtzeitig auf die Zeremonie vorzubereiten.
Der Weg dorthin war lang und beschwerlich, denn von der Heidberg-Siedlung, in der wir wohnten, mussten wir zu Fuß bis zur Kirche laufen. Es dauerte fast eine Stunde, bis wir an unserem Ziel ankamen, und das war schon sehr ermüdend. Es gab damals noch keine Busverbindung, und zu Hause mangelte es an Fahrrädern für uns alle. Ich glaube heute, dass meine Mutter den Kirchgang wählte, um auch einmal eine Freizeit für sich selber zu nutzen. Mein Vater blieb zu Hause, um meinen kleinen Bruder, der vier Jahre jünger ist als ich, zu hüten. Ich beneidete ihn glühend, denn eigentlich hatte ich mit zehn oder elf Jahren noch nicht allzu viel Interesse am Kirchgang. Ich fand es eher meistens langweilig und war froh, wenn die Stunde vorüber war und wir wieder nach Hause spazierten.
Aber an einen sonnigen Sonntag kann ich mich gut erinnern, da war alles anders.
Nach den Eingangsliedern und der üblichen Begrüßung durch den Pastor kam die Predigt mit dem aktuellen Thema des Sonntags. Dazu musste man natürlich eine Weile still sitzen und zuhören.
Im gleißenden Sonnenschein entdeckte ich plötzlich eine kleine Spinne, die anfing, ihr Netz zu weben. Dabei befestigte sie das eine Ende des Fadens an der Kirchenbank und für das andere Ende hatte sie sich ausgerechnet die Haare meiner Mutter ausgesucht. In einer Locke der dauergewellten Frisur hielt der Faden hervorragend, und so wanderte sie auf demselben hin und her zur Kirchenbank und zurück zum Kopf, um ihr Werk immer fester zu verankern. Die Sonne glitzerte darauf, und ich schaute ihrem Treiben ganz fasziniert zu. Die kleine Spinne wurde allerdings jäh gestört in ihrer fleißigen Arbeit, denn die Predigt war plötzlich zu Ende, und zum Gebet erhoben sich die Gläubigen, so auch meine Mutter. Der Faden zerriss in diesem Moment und das Schauspiel war beendet. Der Gottesdienst allerdings kurz danach auch.
Auf dem Heimweg wollte meine Mutter mit mir ein wenig über den Inhalt des Themas diskutieren, doch ich musste ihr nun gestehen, dass ich der Predigt des Pastors nicht zugehört hatte.
Ich berichtete ihr stattdessen über mein Erlebnis, aber sie war nicht böse über meine Unaufmerksamkeit, schließlich sind Spinnen auch Gottes Geschöpfe und haben ihre Berechtigung, selbst in der Kirche.
An manchem Sonntag danach habe ich Ausschau gehalten nach der kleinen Spinne oder einem anderen spannenden Erlebnis in der Kirche, aber es hat sich nichts ähnliches mehr zugetragen.
Im März 1960 wurde ich dennoch konfirmiert, mein Verständnis für die kirchlichen Besuche und den Glauben war in den folgenden Jahren mächtig gewachsen.
Mein Mann und ich haben im Jahre 1966 sogar die Broder-Hinrick-Kirche für unsere kirchliche Trauung ausgewählt, und das zeugt wahrlich nicht von einer Spinnen-Phobie.