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Picknick nein, Ausflug ja

In meiner Kindheit und Jugendzeit kannten die Menschen in meiner Umwelt und ich das Wort PicknickDen meisten Quellen zufolge ist das Wort Picknick französischen Ursprungs und kam im 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit der adligen Mode auf.Quelle: siehe Wikipedia.org nur aus der Literatur und Malerei. Im Geiste sahen wir dann vornehme Menschen, Angehörige des Geburts- oder Geldadels. In feinen Gewändern gruppierten sie sich in gepflegten Parklandschaften bei fröhlicher Stimmung um weiße Tücher, die auf sauberem Boden lagen und mit erlesenen Speisen und Getränken bestückt waren. Lakaien warteten dezent im Hintergrund auf die Wünsche ihrer Herrschaft.

Wir hingegen machten Ausflüge, wenn wir an einem freien Sonntag die freie Natur und/oder eine Sehenswürdigkeit in der näheren Umgebung genießen wollten. Aber meistens wurde in meiner Familie daraus nichts. Normalerweise nutzten meine Eltern den Sonntag bis Anfang des Krieges so, wie es in der Verfassung stand und heute noch steht: … zur seelischen Erhebung. Das hieß für unsere Familie: von 14 bis 16 Uhr Andacht im Ostpreußischen Evangelischen Gebetsverein, alle vier Wochen anschließend reihum noch Hausandacht bei Kaffee und Kuchen. Für uns Kinder, die wir selbstverständlich die Eltern begleiten mussten, war das eine immense Geduldsübung.

Von den wenigen freien Sonntagen hier einige Erinnerungsfetzen.

Kurz vor dem Krieg, als ich sechs Jahre alt war, kann ich mich erinnern, dass meine Eltern mit mir an einem Sonntagnachmittag bei schönem Wetter in ein in der Nähe gelegenes Ausflugsgebiet, genannt Heimelsberg, gingen. Alle Leute hatten sich in Schale geschmissen, das war damals sonntags so üblich. Dort befand sich ein Gartenlokal mit einer Kinderrutsche, die in einen Sandkasten mündete. Das zog mich magisch an und ich reihte mich in die Schlange ein, die andere Kinder bildeten, die auch rutschen wollten. Es gab auch mal eine kleine Rangelei wegen der Reihenfolge. Meine Eltern sahen es nicht gern, weil ich die gute Sonntagskleidung dreckig machen konnte und mahnten mich zur Vorsicht. Die Rücksichtnahme auf die Sonntagskleidung verleidete mir ziemlich den Spaß. Vati trank ein Glas Bier halb und halb, Mutti eine Tasse Kaffee und ich durfte mir nach langem Betteln an der Seltersbude eine Flasche farbiges Knickerwasser kaufen, das war mein Höhepunkt. Das gab es für mich sonst nie, weil das Wasser angeblich nicht gesund sei.

Einmal besuchten wir einen kleinen Zoo. Dort wurden sonntags Eisbären vorgeführt. Die Tiere mussten eine lange Leiter hinaufklettern, bekamen oben eine volle Babyflasche mit Schnuller, packten sie mit ihren riesigen Tatzen und rutschten saugend im Sitzen eine lange Rutsche hinunter. Die Menschen ergötzten sich an diesem Anblick an den sonst so geschmeidigen Raubtieren, die bei dieser Tätigkeit tollpatschig wie Babys aussahen.

Bei heißem Wetter fuhren wir einmal mit der Straßenbahn an die Ruhr, die der ganzen Region ihren Namen gab: Ruhrgebiet. Die Ruhr ist einer der landschaftlich schönsten Nebenflüsse von Vater Rhein. Die Fahrt dauerte eine gute Stunde. Am Zielort setzten sich meine Eltern auf die Uferwiese und genossen die Sonne. Sie schärften mir ein, nicht tiefer als bis zu den Knien ins Wasser zu gehen, denn die Ruhr hat eine starke Strömung und viele Strudel. Keiner von uns konnte schwimmen. Mein größter Spaß war, im seichten Uferbereich zwischen den Steinen mit der Hand Fische zu fangen. Es gelang mir, einen kleinen SchlammpeitzgerDie Schlammpeitzger oder Schlammbeißer (Misgurnus) sind eine Gattung der Schmerlen (Cobitidae)Quelle: Wikipedia.org. zu erwischen. Den gab ich in ein mit Wasser gefülltes Marmeladenglas, tat einige Wasserpflanzen hinzu und brachte ihn unter großen Mühen in der ruckeligen Straßenbahn mit einigem Wasserverlust nach Hause. Mutti gab mir ein größeres Weckglas, so bekam das Fischlein einen etwas größeren Lebensraum. Gefühlt stundenlang hockte ich vor dem Glas und beobachtete gespannt seine Schwimmkünste, meistens war es aber nur ein Rauf und Runter an der Glaswand. Seine Lebensdauer betrug leider nur einige Tage.

Nach dem Ausbruch des Krieges 1939, als ich sechs Jahre alt war, gab es keine Ausflüge mehr. Die Gefahr durch Luftangriffe war zu groß.

Nach Ende des Krieges 1945 bis zur Währungsreform 1948 herrschten Hunger und äußerste Mangelwirtschaft im zerstörten Deutschland. Die in dieser Zeit unternommenen Fahrten aufs bäuerliche Land in überfüllten Eisenbahnzügen kann man wirklich nicht als Ausflüge bezeichnen. Sie waren reine Hamsterfahrten, um bei den Bauern im Tauschhandel Grundnahrungsmittel zu organisieren und unsere Arbeitskraft gegen Essen und Trinken anzubieten.

Nach der Währungsreform war ich schon 15, in den Flegeljahren und fühlte mich zu alt und fand es uncool würde man heute sagen, um mit den Eltern Ausflüge zu unternehmen. Nur einmal kann ich mich erinnern, dass ich in dieser Zeit mit den Eltern einen Ausflug gemacht habe, es war zur weltbekannten Dechenhöhle bei Iserlohn, einer zur Besichtigung freigegebenen Tropfsteinhöhle mit prähistorischen Funden. Das änderte sich aber nach 20 bis 30 Jahren, als meine Eltern alt waren und ich ins gesetzte Alter gekommen war. Dann machten meine Frau und ich mit ihnen gerne Ausflüge per Auto im feinem Dress und Einkehr in einem gepflegten Café.

Als Teenager machte ich viel lieber mit Gleichaltrigen Radtouren oder wir zelteten an sommerlichen Wochenenden in der freien Natur und machten abends Lagerfeuer, am liebsten am Möhnesee, einer großen Talsperre im Sauerland, oder an ausgebaggerten und mit Wasser gefüllten Kies- und Sandgruben in der Haard im nördlichen Ruhrgebiet. Dort im weißen Sand konnte man sich wie am Mittelmeerstrand fühlen. Um diese Zeit gab es noch keine geordneten Zeltplätze, jeder konnte sein Zelt aufschlagen, wo es ihm gefiel. Wenn wir dort übernachteten, bauten wir uns aus Steinen eine kleinere Feuerstelle, holten trockenes Holz aus dem Wald und kochten uns Erbsensuppe oder brieten Bratkartoffeln am Lagerfeuer. Im Schein des Feuers war es richtig romantisch und animierte uns zum Singen, oft mit Mundharmonikabegleitung. Es war schon merkwürdig, tagsüber jazzten wir herum und abends stimmten wir Volkslieder oder Fahrtenlieder an, wie z. B. Hohe Tannen weisen die Sterne... oder Jenseits des Tales standen ihre Zelte....
Wenn wir Glück hatten, kampierte eine Mädchengruppe in der Nähe.

Meine Mutter gab mir, wie andere Mütter ihren Söhnen auch, mehrere Butterbrote mit, meistens auch noch in einem Marmeladenglas Kartoffelsalat mit einem hartgekochten Ei oder einer Frikadelle, und wenn es hoch kam, ein kaltes Kotelett. Trinkwasser besorgten wir uns unterwegs aus irgendeinem Wasserhahn. Alles das schmeckte in der freien Natur viel besser als zu Hause. Es war eine herrliche Zeit.

Alle unsere Ausflüge dienten aber nicht dem Zweck, im Freien mit höfischer Etikette ein erlesenes Menü auf kostbarem Tafelgeschirr zu uns zu nehmen, wie auf den entsprechenden Gemälden aus der Zeit der Romantik zu sehen ist. Uns ging es in unserer Jugend darum, die schöne Natur zu genießen, den grauen Alltag hinter uns zu lassen, ungezwungen und rustikal nach unseren Vorstellungen zu leben und zu essen.