Der verschollene Telefonanschluss
Soweit meine Erinnerung reicht, hatten wir immer ein Telefon zu Hause. In den 1930er Jahren wohnten wir im Stadtviertel Villa Devoto der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires und unsere Telefonnummer war die 0107 (hinter der Vorwahl), was auf die niedrige Anzahl der zugelassenen Apparate deutet.
Es war eines der ersten Modelle die von der damaligen Telefongesellschaft angeboten wurden. Wegen seiner Bauart wurde der Apparat als candelero
(Kerzenständer) bezeichnet. Der Hörer hing an einer Gabel seitlich am Ständer. Am Fuß des Apparates befand sich die Wählscheibe. Unser Telefon stand auf einem hohen Fensterbrett, also außer Reichweite von uns Kindern. Das hatte auch einen guten Grund: Wir hatten nämlich entdeckt, dass der Anrufer eine heftige Schall Rückkopplung spürte, wenn man den Hörer gegen die Sprechmuschel hielt, was zur zeitweiligen Taubheit und starken Schmerzen führte. Das machte uns natürlich großen Spaß, war aber für die Eltern völlig unakzeptabel.
Später wurde der Apparat durch eines der klassischen schwarzen Bakelit Modelle ersetzt, mit kombiniertem Hörer und Mikrofon in einem Griff. Dieses wurde zum unentbehrlichen Objekt des Hauses. Am meisten benutzte es meine Mutter, die stundenlang mit ihren Geschwistern oder Freundinnen kommunizierte. Auch benutzte sie regelmäßig das Telefon, um beim Bäcker, Fleischer, dem Wurstladen und anderen Zulieferern ihre Bestellungen zu machen. Die Waren wurden uns dann ins Haus geschickt und die Rechnungen in ein schwarzes Heftchen eingetragen, das der Lieferant für jeden seiner Kunden führte. Am Ende des Monats kam er dann vorbei, um das Geld einzukassieren. Bei größeren Abrechnungen bekam der Kunde noch ein Dankeschön-Geschenk
, wie zum Beispiel eine Schachtel Kekse oder eine Flasche Wermut.
Die eigentliche Bedeutung, zu dieser Zeit einen Telefonanschluss zu besitzen, wurde mir aber erst bewusst, als im Jahr 1930 eine Revolution ausbrach (Siehe meine Geschichte Meine erste Revolution
). Eines Abends erhielt mein Vater einen Telefonanruf, der ihn offensichtlich sehr beunruhigte. Der Anruf kam vom nächsten Polizeirevier, mit der Aufforderung einem in der Nachbarschaft wohnenden Offizier mitzuteilen, er solle sich umgehend auf der Wache melden. Da der Betroffene kein Telefon besaß, gab es keine andere Möglichkeit ihn zu benachrichtigen.
Die Freude über den ersten Anruf meiner späteren Ehefrau werde ich nie vergessen. (Siehe meine Geschichte Regentropfen
). Leider kamen wir aber später nicht dazu öfters zu telefonieren. Jeder hatte ja seine eigenen Beschäftigungen, sei es beim Studium oder bei der Arbeit.
Aber das Telefon hatte immer einen besonderen Platz im Haus. Und ich meine das nicht nur symbolisch. Das Zimmer, in dem das Telefon stand, hieß tatsächlich das Telefonzimmer
. Es war ein sogenanntes Durchgangszimmer, welches das kleine Esszimmer (auch Kuckuckszimmer genannt, weil dort die Uhr aus dem Schwarzwald hing) mit dem Eingangsflur und dem Wohnzimmer (großes Zimmer genannt) verband.
Im Telefonzimmer befanden sich lediglich einige Kommoden und die Nähmaschine. Das Telefon musste stehend bedient werden, da es — wie schon erwähnt — auf einem hohen Fensterbrett stand.
Als ich 1948 heiratete, ließ ich auf dem hinteren Teil des Grundstücks meines Vaters meine eigene Wohnung bauen. Dort beantragte ich sofort einen Telefonanschluss, bekam aber lediglich eine Zweigverbindung zu der originalen Leitung. Dazu gab es einen Umschalter und eine Klingelverbindung, mit der man von einem zum anderen Haus schalten konnte. Die Nummer blieb die gleiche.
Schließlich, nach dem Tod unserer Eltern, beschlossen meine Schwester und ich die Immobilie zu verkaufen, um die Erbschaft zu vereinfachen. Ich hatte inzwischen eine Neubauwohnung im naheliegenden Viertel Villa del Parque erworben und meine Schwester entschloss sich in die Provinz Córdoba umzuziehen.
Da meine neue Wohnung knappe 1000 Meter Luftlinie von der alten entfernt lag, versicherte mir die Telefongesellschaft, dass es keine Probleme für den Umzug der Anlage geben würde. Auch die Nummer würde dieselbe sein, da wir uns ja in der gleichen Vorwahlzone befanden. Also wartete ich zuversichtlich auf meinen Telefonanschluss.
Ich wartete Tage, Wochen und Monate. Jedes Mal wenn ich mich bei der Telefongesellschaft erkundigte, bekam ich dieselbe Antwort: Es dauert nicht mehr lange, sie müssen noch etwas Geduld haben
.
Eines Tages entschloss ich mich die Nummer meines
Telefonanschlusses anzuwählen. Tatsächlich meldete sich jemand und so erfuhr ich, dass dieser Benutzer vor kurzem seinen Anschluss bekommen hatte. Als ich die Telefongesellschaft daraufhin empört ansprach, bekam ich zur Antwort: Es handelt sich um eine Notwendigkeit im politischen Bereich
. Es wurde mir erklärt, dass gerade zur Zeit meines Umzuges eine hohe politische Persönlichkeit eine Wohnung in der Gegend bezogen und selbstverständlich sofort einen Telefonanschluss benötigte. Ich dürfte aber beruhigt auf einen baldigen Anschluss warten, ich stehe ja auf der Warteliste.
Viele wichtige Ereignisse meines Lebens musste ich ohne Telefonanschluss überstehen. Nur dank meiner Freunde, die wichtige Anrufe für mich und meine Familie annahmen und dann persönlich übermittelten, sowie auch durch die Möglichkeit, über die Tagesstunden das Telefon in meinem Büro zu benutzen, konnte ich irgendwie mit der Außenwelt in Kontakt bleiben. (Siehe meine Geschichten Geburt unter Alarmzustand
und Wie ich den Falklandkonflikt erlebte
). Der schwarze Apparat, den wir aus der alten Wohnung mitgebracht hatten, stand jahrelang leblos in unserem Flur.
Als ich viele Jahre später — schon in Europa — davon hörte, dass Leute in der DDR etwa 15 Jahre warten mussten, bis sie ihren bestellten Trabbi bekamen, wurde mir bewusst, das auch ich 15 lange Jahre auf meinen verschollenen Telefonanschluss in Argentinien gewartet hatte.