Teil 10 - Barskamp, 1889-1900
Kapitel 11
Drei Hochzeiten und die Bleckeder Kreisbahn
Im Sommer 1895 reisten wir nach langer Zeit wieder einmal gemeinsam nach Pommern, und zwar mit unsern drei ältesten Mädeln Thekla, Magdalene und Käthe. Es war ein großes Ereignis für die Kinder. Ich sehe Käthe noch in ihrem neu angeschafften Kostüm mit befriedigtem Gesicht bei der Fahrt nach dem Dahlenburger Bahnhof auf dem Wagen mir gegenüber sitzen. Es war ein wundervoller Juli-Morgen, und wir hatten mit dem Frühesten aufbrechen müssen. Finkenwalde war das erste Reiseziel. Da wir in Berlin nur Fahrkarten bis Stettin erhielten, wären uns dort während des Umexpedierensbeim Umsteigen [34] die Kinder um ein Haar davon gefahren. Es ging aber alles noch gut, und wir landeten glücklich in Finkenwalde, wo wir uns etwa 14 Tage vor Anker legten, manchmal unter der Hitze leidend, aber auch kleine Ausflüge in die Gegend machend, die auch ihre Reize hat. Sehenswert sind die Buchenwaldungen an den Oderhöhen mit den nach Humboldts Urteil majestätischsten Buchen der Welt. Von da ging's über Stettin mit dem Dampfschiff durch Pagenwasser und Haff nach Swinemünde. Hier bei Wieseners und auf der Rückreise in Gifhorn bei der andern Großmutter verbrachten wir den Rest meines Urlaubs.
Im Herbst desselben Jahres machte ich mit meiner Frau noch einmal eine Reise, auf die wir diesmal Gerhard mitnahmen, nach Schwerin, wo meine Schwägerin Marie Gabert nach dem Tode ihres Mannes wohnte. Anlass war die allgemeine lutherische Konferenz. Wir hörten Vorträge von Polstorff, der sich mit Frank auseinandersetzte, und von Bückmann über das Thema: Dass die Worte Christi 'Das ist mein Leib' noch feststehen
, dieses aus Anlass der neuesten Veröffentlichungen Harnacks über das Heilige Abendmahl. Die Großherzogin wohnte mit ihrer Tochter, der nachmaligen Großherzogin von Oldenburg, den Verhandlungen bei. Der Großherzog ließ der Konferenz zu Ehren in der Paulskirche die Matthäuspassion aufführen.
Dann folgte im Januar 1896 eine Reise zu einer Hochzeit. Mein Schwager Friedrich [Borchers], bisher ein eingefleischter Junggeselle, hatte im Spätsommer des vergangene Jahres in Hahnenklee, wohin er zu einer Sommerfrische gegangen war, eine junge Witwe, Georgine Maseberg, kennen gelernt, die sein Herz bezwungen. Und nun fand in Hannover, wo dieselbe bei ihrer an Professor Scheller verheirateten Schwester wohnte, die Hochzeit statt. In der ganzen Familie war große Freude über die Heirat, und die neue Schwägerin hatte bald die Herzen der Verwandten gewonnen. Für uns war die Reise außerdem noch dadurch bemerkenswert, dass wir auf ihr zumersten Mal die einen Monat zuvor eröffnete Kreisbahn des Kreises BleckedeDie Bleckeder Kreisbahn war ein Eigenbetrieb des damaligen Kreises Bleckede. Das Netz umfasste ab 1904 60 km in der Spurweite 750 mm. Es wurde bis 1910 betrieben.Siehe Wikipedia.org [35] benutzten, die ja für die ganze Gegend ein großes Ereignis war. Als wir von Hannover abreisten, war sehr unfreundliches Wetter, und wir freuten uns, dass wir vom Bahnhof Dahlenburg nicht erst mit dem Omnibus in den Flecken fahren und von da in einen unser wartenden offenen Wagen uns setzen mussten, sondern ohne einen Fuß nass zu machen uns direkt vor unserm Hause absetzen lassen konnten. Denn die Kleinbahn hielt direkt vor unserm Hoftor. Ein größerer Gegensatz ließ sich kaum denken zwischen unserer bisherigen Weltferne und unserer nunmehrigen Angeschlossenheit an den Weltverkehr. Ich konnte, wenn ich verreisen wollte, meine augenblickliche Beschäftigung, den Unterricht der Kinder oder amtliche Schreibereien, fortsetzen, bis ich das Klingeln der Kleinbahn hörte. Dann Stock und Hut genommen, und in den Zug gesetzt und fort. Für unsere Kinder war die Sache natürlich höchst interessant. Gewöhnlich setzten sie sich, wenn ein Zug nahte, auf die steinernen Pfosten der Hofpforte und beobachteten, was im Zug vorging. Die Reisenden hatten sich auch schon an den Anblick der Kinder gewöhnt und schauten nach ihnen heraus.
Die Erinnerung an zwei weitere Hochzeiten in der Familie möchte ich hier gleich anschließen, obgleich ich der Zeit damit etwas vorgreife. Die erste war die meines Schwagers Albert [Borchers], des Bergmanns, im August 1897. Er hatte sich mit Antoniette Richter, der Tochter des Bergdirektors Richter in Planitz bei Zwickau, verlobt. Dort war die Hochzeit, und wir fuhren zu dreien, meine Frau, meine Schwiegermutter, die gerade bei uns zum Besuch war, und ich hin. In Magdeburg gesellte sich meine Schwägerin Wilhelmine zu uns. Eine besondere Freude war mir's, in Leipzig, als wir vom Magdeburger zum Bayrischen Bahnhof fuhren, meiner Frau all die mir von meiner Universitätszeit her bekannten Stätten zu zeigen. Spät abends kamen wir nach Planitz und wurden beim MarkscheiderDer Markscheider ist ein speziell im Bergbau tätiger Vermessungsingenieur.Siehe Wikipedia.org [36] Otto einquartiert, bei dem wir die in ihrer Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme fast bedrückend sächsische Höflichkeit gründlich kennenlernten. Tagsüber waren wir natürlich im Hochzeitshause, das eine wundervolle Lage hatte mit prächtiger Aussicht auf die zu Füßen liegende Stadt Zwickau und das ganze Industriegebiet des Muldetales. Zwickau wurde natürlich auch besichtigt, besonders auch die schöne alte Marienkirche. Die Trauung in der prächtigen neuen Planitzer Kirche hielt mein Schwager Friedrich. Das sehr opulente Hochzeitsmahl wurde im Gasthause gegeben. Wir reisten am Tage nach der Hochzeit ab, da ich mir vorgenommen hatte, mit meiner Frau einige alte Leipziger Freunde zu besuchen, bei denselben mich auch angemeldet hatte und von ihnen mit Freuden willkommen geheißen war. Zunächst gings nach Kohren zu Jentsch. Bis Altenburg fuhren wir mit der Bahn. Von da holte uns der Wagen von Jentsch ab. Schon eine ganze Strecke vor dem wundervoll gelegenen Städtchen kam uns das Ehepaar mit den beiden Töchtern Hanna und Christine, von denen die jüngere mein Patkind war, entgegen. Wir stiegen aus und gingen den Rest des Weges zu Fuß zu der sehr stattlichen Pfarre, in der wir die gastlichste Aufnahme fanden und von wo uns alle Sehenswürdigkeiten der Umgegend gezeigt wurden. So Gnandstein mit der Lutherkanzel, der Rochlitzer Berg mit dem Friedrich-August-Turm und zu Füßen des Berges Wechselburg mit der fürstlich Schönburgschen Schlosskapelle. Hier hatte ich ein eigentümliches Erlebnis, das kennzeichnend war für die römisch-katholische Frömmigkeit. Ich bat den uns führenden Mann in meiner gewöhnlichen Sprechweise um einige Erklärungen, worauf er mich darauf aufmerksam machte, dass es sich nicht schicke, in einer Kirche so laut zu sprechen. Gleich darauf kam eiligen Schrittes ein anderer Mann herein und stellte unsern Führer zur Rede, wie er dazu käme, Fremde zu führen, das sei seine Sache. Es kam zu einem Wortwechsel zwischen beiden, der damit endete, dass die beiden angesichts des Allerheiligsten sich gegenseitig Prügel androhten - aber es geschah submissa vocemit unterdrückter Stimme [37] - Von Kohren fuhren wir dann nach Leutzsch zu Schnedermanns, bei denen wir auch einige sehr nette Tage verlebten. Besonders interessierte mich das neue prachtvolle Universitätsgebäude, das Schnedermann uns zeigte.
Die zweite Hochzeit, die wir in diesen Jahren noch mitmachten, war die meiner jüngsten Schwester Vera in Swinemünde im Juni 1898. Vera hatte ihr Examen als Zeichen- und Turnlehrerin gemacht und durch Vermittlung ihres Schwagers und Vormunds Hellmuth Wiesener eine entsprechende Anstellung in Swinemünde gefunden, und Mutter war dorthin übergesiedelt. Aber ihres Bleibens sollte dort nicht länger sein. Karl Fricke, ein Bekannter aus der Kinderzeit, Freund meiner beiden Brüder Jonathan und Uli, Sohn des Geheimen Justizrates Fricke, der seinerzeit merkwürdigerweise gerade am Tage von Veras Geburt ans Appellationsgericht in Cöslin gekommen war und dort an der table d'hôteTable d'hôte (frz. wörtlich für Tisch des Gastgebers
) ist ein Begriff, der in der Gastronomie verwendet wird, um eine kleine, feste Karte zu beschreiben, die ein Menü anbietet, in dem kaum Abweichungen möglich sind.Siehe Wikipedia.org [38] das von der ganzen Stadt besprochene Ereignis erfahren hatte, später den Eltern nach Stettin gefolgt war, hatte sie sich, nachdem er zweiter Pastor in Schlawe geworden war, zum Gespons ersehen, und wir feierten eine fröhliche Hochzeit, die Hellmuth Wiesener in seinem Hause ausrichtete, nachdem er das Paar in seiner Kirche getraut hatte. Diesmal nahmen wir unsere beiden ältesten Kinder Gerhard und Thekla und auf Veras besonderen Wunsch auch Käthe, an der sie 1895 einen Narren gefressen hatte, mit. Am Polterabend, der auch in der Pfarre gefeiert wurde, traten Gerhard und Thekla als Semmeljunge und Milchmädchen auf. Käthe sagte ein kleines Gedichtchen, das sie mir schon zum Geburtstage aufgesagt hatte, in sinngemäßer Abänderung. Sehr hübsch war's, dass während des Hochzeitsmahles Veras Schülerinnen samt und sonders im Garten erschienen bei dem schönen Wetter, um ihrer Lehrerin zu huldigen. Vera ging zu ihnen hinaus und dirigierte einen Reigen in ihrem Hochzeitsstaat. Wir blieben nach der Hochzeit noch einige Tage.
[35] Die Bleckeder Kreisbahn war ein Eigenbetrieb des damaligen Kreises Bleckede. Das Netz umfasste ab 1904 60 km in der Spurweite 750 mm. Es wurde bis 1910 betrieben.
[36] Der Markscheider ist ein speziell im Bergbau tätiger Vermessungsingenieur.
[37] mit unterdrückter Stimme
[38] Table d'hôte (frz. wörtlich für
Tisch des Gastgebers) ist ein Begriff, der in der Gastronomie verwendet wird, um eine kleine, feste Karte zu beschreiben, die ein Menü anbietet, in dem kaum Abweichungen möglich sind.