Teil 10 - Barskamp, 1889-1900
Kapitel 16
Superintendentur Diepholz
Endlich kurz vor Weihnachten kam die Ernennung des Konsistorial-Assessors und zweiten Schlosspredigers Wagenmann zum Superintendenten. Diesmal ging das Vokationsverfahren glatt. Am Epiphaniassonntage hielt der Ernannte seine Aufstellungspredigt, bei welcher Gelegenheit er bei uns logierte und vier Wochen später wurde er von Generalsuperintendent Steinmetz, der in Vertretung des schwer und hoffnungslos erkrankten Generalsuperintendenten Schünhoff die Geschäfte führte, eingeführt, wobei ich die Predigt hielt.
Wagenmann war nun ja noch jünger als Holtermann. Er hatte bei seiner Einführung das 32. Jahr noch nicht vollendet und war außer Bartels der Jüngste in der Inspektion, jünger als sein eigener Kollaborator. Ich bin in der Folgezeit von Amtsbrüdern wiederholt auf meinen jugendlichen Ephorus angeredet worden. Aber er war ein feiner taktvoller Mann, der sich besonders zu mir sehr nett stellte. Eben so fein und liebenswürdig war seine Frau, eine geborene Iffland aus Bückeburg. So knüpfte sich mit seinem Hause bald ein ebenso freundschaftlicher Verkehr an als mit dem seines Vorgängers. Es ist in der ja nur kurzen Zeit unseres Zusammenseins auch nicht zu der leisesten Trübung des Verhältnisses gekommen.
Als Bleckede wieder besetzt war, traten natürlich auch die Gedanken an das eigene Fortkommen wieder in den Vordergrund. Durch das Pfarrbesoldungsgesetz war zwar ein Teil der Einbuße, die ich durch Errichtung der Kollaboratur gehabt, wieder ausgeglichen. Aber immer näher trat die Notwendigkeit, Gerhard auf eine Schule zu schicken. Als in der Stadt Hannover neue Stellen errichtet wurden, trat ich mit Hoppe in Korrespondenz. Aber ehe ich so weit kam, einen Entschluss zu fassen, erhielt ich im April 1900 eines Morgens von ihm die Nachricht, dass ich zum Superintendenten in Diepholz ernannt sei. Ich ging nach Bleckede zu Wagenmann, um nähere Erkundigungen einzuziehen. Der zeigte mir einen gleichzeitig bei ihm eingegangenen Brief des Konsistorialrats Müller, der ihm die gleiche Mitteilung machte und zugleich näheres über die Gehaltsverhältnisse enthielt, die für mich besonders von Wichtigkeit waren. Denn Diepholz gehörte zu den geringst dotierten Superintendenturen. Wäre das Pfarrbesoldungsgesetz nicht inzwischen in Kraft getreten, so hätte ich mich sogar gegen Barskamp erheblich verschlechtert. Nun machte das keinen Unterschied mehr, und da ein Zuschuss zum Grundgehalt gewährt wurde, verbesserte ich mich schon im Pfarreinkommen. Dazu kamen dann die Ephoralbezüge. So blieb mir kein Zweifel, dass ich die Stelle annehmen müsse. Sonntag Exaudi hielt ich meine Aufstellungspredigt. Bei dieser Gelegenheit erkundigte ich mich natürlich vor allen Dingen nach den Schulverhältnissen. Es bestand eine gehobene Schule, in die die Mädchen bis zur Konfirmation gehen konnten. Gerhard, mit dem ich das Pensum von Obertertia angefangen hatte, war allerdings darüber hinaus, für ihn musste das Gymnasium ins Auge gefasst werden.
Den Bescheid, dass gegen meine Ernennung keine Einsprache geschehen, erhielt ich in Swinemünde. Dorthin fuhren wir nämlich gleich nach Pfingsten zu einer Familienzusammenkunft. Es war ja das Jahr, in dem unserer Eltern goldene Hochzeit gewesen wäre. Schon zu dem eigentlichen Gedächtnistage hatten wir auf Anregen Alexanders unserer Mutter ein Bild unseres Vaters, vergrößert nach einer Daguerreotypie, die ihn als Bräutigam darstellte, geschenkt. Mutter wollte aber gern in diesem Jahr alle ihre Kinder und Schwiegerkinder um sich sehen, umso mehr, als auch Uli, der nun seit 16 Jahren in Valparaiso war, zum ersten Mal mit seiner Frau und seinen drei Kindern die Heimat besuchen wollte. Ganz leicht wurde es nicht, einen allen passenden Termin herauszufinden, und manche Tropfen Tinte hatte Mutter, wie sie sagte, verschreiben müssen, um alle unter einen Hut zu bringen. Im letzten Augenblick trat noch ein Umstand ein, der es noch verhinderte, dass die ganze Sippe gleichzeitig versammelt war. Georgs Töchterchen Rena bekam Diphtheritis, die zwar gut verlief, aber doch sie und ihre Mutter eine Woche zurückhielt. Und als beide nachkamen, hatte Grete, die seit einigen Jahren bei einer reichen Dame in Leipzig eine sehr angenehme aber auch stark bindende Stelle als Gesellschafterin hatte, schon wieder abreisen müssen. Wenigstens alle Kinder konnten einige Tage beisammen sein, und ihr Konterfei wurde mit dem der Mutter und der anwesenden Schwiegerkinder und Enkel auf einem großen Gruppenbild vereinigt. Wir hatten Irmgard mitgenommen. Alexander ebenfalls sein viertes Töchterlein, Mechthild. Uli war wie gesagt mit seinen drei Kindern da. Das Zusammensein war sehr hübsch. Verschiedene Ausflüge an die schönen Punkte der Insel wurden unternommen. Alexander hatte angeregt, an eine größere Anzahl von Verwandten und Freunden der Familie Begrüßungen zu senden. Ein Anschreiben wurde hektographiert und von allen unterschrieben. Darauf trafen in den folgenden Tagen eine Menge Antwortschreiben ein, die uns sehr erfreuten.
Nach unserer Rückkehr hatte ich noch einmal Gelegenheit, vor unserm Umzug in Diepholz vorzusprechen und mich von den Arbeiten an dem wegen seiner Feuchtigkeit verschrienen und deshalb stark reparaturbedürftigen Pfarrhause umzusehen. Ich folgte nämlich der Einladung zu einer Missionsfestpredigt in Barkhausen im Osnabrückschen, wohin gleich nach Ostern mein Kollaborator Bartels übergesiedelt war. Ich hatte ihm übrigens die Stelle vermitteln helfen. Es war eine Stelle, in der er gerade seine Gaben entfalten konnte. Unterwegs überschlug ich in Diepholz einen Zug und besuchte Pastor Menke, dessen Frau ich dabei gleich kennen lernte. Bei meiner Aufstellungspredigt war sie gerade verreist gewesen.
Nun rückte der Abschied von Barskamp heran. Vorher machten die Kinder noch alle nacheinander die Masern durch, zuletzt Annelise, die gerade damit durch war, als der Umzug vorgenommen werden musste. Sie, die eben ihr erstes Jahr vollendete, und Gerhard, der beim Packen uns schon an die Hand gehen konnte, blieben bis zuletzt bei uns. Die mittleren sechs wurden von Tante Martha [Borchers], die bei uns und uns eine treue Hilfe war, einige Tage zuvor fortgebracht, drei nach Osterholz, drei nach Misselwarden. Der Gedanke an die Veränderung reizte sie. Am schwersten war der Abschied von Barskamp wohl für Gerhard. Martin freute sich auf den Umzug, seit er gehört, dass in Diepholz auch eine Feuerwehr. Den Übungen der Feuerwehr, die auf dem Marktplatz vor unserm Hause abgehalten wurden, eifrig zuschauend, hatte er uns erklärt, hier bleiben zu wollen, sich auch schon davon vergewissert, dass der Hauptmann der Feuerwehr eine Kinderbettstelle für ihn hatte. Nun war er doch andern Sinnes geworden.
In Bleckede wurden wir bei einer Konferenz weggefeiert. Den Amtsbrüdern war ich, besonders seit ich die Superintendentur versehen, recht nahe getreten. Auch mit dem Kirchenvorstand bestand wieder ein durchaus freundliches Verhältnis. Bei Wenk brachte ich die letzten Nächte zu, während meine Frau mit Annelise bei Hofbesitzer Adolf Schäfer, mit dessen Töchtern Thekla und Magdalene befreundet waren, herbergte, Gerhard bei unserm Nachbar, dem Vorsteher Fabel.
Am 9. Trinitatis-Sonntage, 12. August, hielt ich vor dicht besetzter Kirche meine Abschiedspredigt über die Sonntagepistel. Montag den 13. schieden wir.