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Wiederbegegnung mit Ostpreußen nach 42 Jahren
oder: Studienfahrt in die (k)alte Heimat 1987
Kapitel 3: Allenstein und Osterode

Am 23. Mai 1987 ist nach dem Frühstück eine Besichtigungsfahrt durch Allenstein vorgesehen. Allenstein heißt auf Polnisch Olsztyn. Wir machen uns selbständig und fahren mit der Taxe 119, die Adam uns schon am Abend vorher besorgt hat, nach Osterode. Der Fahrer der Taxe spricht gut deutsch. Wir haben einen Pauschalpreis von zehn DMark pro Stunde vereinbart. Um 09.30 Uhr fahren wir ab. Die Taxe - ein Polski Fiat – ist zwar ohne Komfort, aber der Motor läuft. Die Fahrt über die Ortschaft Dietrichswalde, in der auch heute noch viele deutschstämmige Menschen wohnen, geht an Alt Jablonken vorbei, in Richtung Stadtteil Pausen – Senden, am Friedhof und dem ehemaligen Abdecker Werner vorbei. Links ist das Panorama von Osterode zu sehen. Davor die Drewenzwiesen mit der Drewenz. Oben, auf der Anhöhe, die Pappelgruppe, wo früher der Sportplatz (ehemaliger Militärsportverein) von Grollmann war. Rechts davon erkennt man deutlich ein Haus. Das Haus meiner Schwiegereltern, Roonstraße 25, könnte es sein. Natürlich sind wir alle aufgeregt, zumal man uns gesagt hatte, dass dieses Haus nicht mehr vorhanden wäre. Wir müssen uns also Gewissheit verschaffen. Durch die Sendenstraße geht’s links ab in die Drewenzstraße, Hindenburgstraße am ehemaligen Schützenhaus oder dort, wo es einst gestanden hat, vorbei, rechts ab, am Osteroder Kreiskrankenhaus vorbei in die Maerckerstraße. Von der Artilleriestraße geht links eine Straße ab, die parallel der Maerckerstraße in die Kaiserstraße einmündet. Hier parken wir die Taxe. Neben einem Neubau, vermutlich einer Schlosserwerkstatt, ist Einblick in den Hofplatz – unserer alten Wohnung – möglich. Leider ist das Wetter regnerisch. Die Gebäude der ehemaligen Jahnschule und dahinterliegend der Mädchenschule stehen unbeschädigt. Der von einer Mauer mit Eisenstäben umgebene Schulhof ist zu sehen und dahinter auch die Steinmauer, die den Sportplatz abgrenzte. Das hohe Gebäude mit der Turnhalle und den Werkräumen ist fort. Links der Artilleriestraße stehen noch die alten Häuser der Graudenzerstraße. Die Häuser, die Straße und auch der Himmel sehen heute farblos aus. Der Gehweg ist nach deutscher Auffassung von Ordnung katastrophal! Nur vorsichtig gehen, damit es nicht zum Beinbruch kommt. Der ehemalige Fußweg zur Jakobstraße ist jetzt die Umgehungsstraße in Richtung Hohenstein, Allenstein und Warschau. – Das Wohnhaus Maerckerstraße 33 ist nicht abgebrannt, wie die übrigen Häuser in dieser Straße.

Mein Vater schrieb uns seinerzeit, dass er gelöscht habe, weil er ja auch noch nach 1945 dort gewohnt hat. Das Gartengelände hinter den Häuserblöcken ist heute bebaut. Es sind die üblichen mehrstöckigen Einheitswohnhäuser. Wir fahren nun zur Kaiserstraße in die Innenstadt. Rechts geht die Mackensenstraße ab, links ist die ehemalige Panzerkaserne. Vor dem mit einer Schranke versehenen Toreingang steht ein polnischer Soldat Posten. Rechts die Häuser der Kaiserstraße, wo auch Verwandte von mir gewohnt haben. Links geht die Olgastraße ab. Dahinter rechts die Spangenbergstraße. Der frühere freie Platz zwischen der Herder- und der Spangenbergstraße ist nun eine ungepflegte Parkanlage. Links ist der katholische Friedhof. Dahinter die Einmündung in die Seminarstraße und rechts geht die Schillerstraße ab. Geradeaus geht es in die Bergstraße, unten die Bahnhofstraße und Seeuferpromenade, davor die Bahnschranken. Am Anfang der Bergstraße/Schillerstraße ist der Aufgang zur katholischen Kirche. Der Haupteingang ist nach wie vor von der Schillerstraße aus. In der Bergstraße fehlen linksseitig viele Häuser. Auch das frühere große Haus von Möbel-Lemcke ist verschwunden. Vor der Bahnschranke war früher das Hotel Nordischer Hof. Auch das später verrufene Lokal Stuka ist nicht mehr dort. Über die Bahngleise fahren wir nach rechts in die Wasserstraße hinein. Links steht noch das Gebäude von Kühls Hotel. Die Häuser auf der rechten Seite sind fast alle fort. Dafür ist neben der Schulstraße ein freier Platz für parkende Autos. Dort parken wir auch. Das Hotel, das äußerlich keinen schlechten Eindruck macht, soll nicht mehr empfehlenswert sein, sagt unser Fahrer. Die Uferpromenade ist noch vorhanden und dort ausgebaut, wo Häuser nicht wieder aufgebaut sind. Hier ist auch ein Anlegesteg für die weiße Flotte. Der Drewenzsee ist so schön, wie er früher war. Das Wasser erscheint klar. Ob es aber noch so sauber wie früher ist, weiß man nicht. Vergebens halten wir über dem See nach dem Bismarckturm Ausschau. Es sind dort nur hohe Bäume zu sehen.

Erinnerungen werden wach, als die damalige weiße Flotte des Kapitäns und Reeders Tetzlaff mit den Schiffen Konrad, Herta und Heini zum Bismarckturm, nach Pillauken, durch den Oberländischen Kanal, über die RollbergeRollberge (auch Rollbrücken genannt) ersetzten früher regional Schleusen und dienten der Beförderung von Schiffen über Land zwischen zwei Kanälen oder Wasserstraßen mit ungleichem Wasserspiegelniveau. Rollberge waren auch Vorläufer der Schiffshebewerke. Die vertikale Hebung geschieht durch den Transport auf einer im Kanalbau geneigte Ebene genannten Rampe. Ein antikes Beispiel für einen Schiffskarrenweg ist der Diolkos.Siehe Wikipedia.org bis Elbing, durch den Duzkanal nach Tharden und nach Grünortspitze fuhren. Heini fuhr später für das Lokal Grünortspitze nach Bedarf. Die heutige weiße Flotte ist mit den damaligen Schiffen nicht mehr identisch. Die Sonne will heute nicht scheinen. Es regnet unaufhörlich, dabei würde bei sonnigem Wetter vielleicht alles viel schöner aussehen. Wir durchwandern die Stadt am Postamt vorbei. Die alte Straße zum Marktplatz und die Burgstraße sind gesperrt. Es sind hier neue Wohnhäuser im Bau. Der Marktplatz ist kaum wiederzuerkennen. Die Geschäftshäuser beidseitig des Marktplatzes und das Rathaus in der Mitte des Platzes sind nicht mehr vorhanden. Dafür sind Neubauten für Wohnzwecke errichtet, aber keine Geschäftshäuser. Der ehemalige Drei-Kaiser-Brunnen ist heute ein Drei-Nixen-Brunnen. Keine Geschäfte, keine Industriebetriebe, nur Wohnhäuser! Die Ritter- und Kirchenstraße gibt es nicht mehr. Vom Neuen Markt zur Ludendorfstraße führt die Baderstraße. Die alten Häuser beidseitig der Straße, darunter auch das Geschäftshaus Breda - Groß- und Einzelhandel -, sowie das Kino Kammerlichtspiele an der Drewenz sind abgerissen. Dafür geht jetzt ein Fußpfad an der Drewenz entlang zur Drewenzstraße. Das Gebäude der ehemaligen Osteroder Zeitung an der Ecke Baderstraße/Ludendorfstraße steht noch. Rechts in der Ludendorfstraße stand früher die Synagoge, die aber schon seinerzeit in der sogenannten Kristallnacht, ein Opfer der Flammen geworden war. Den Berg rauf geht es durch den alten Torbogen zum evangelischen Stadtfriedhof. Auch der Weg zur Bergkaserne ist noch so steil wie früher. Dort wohnte Ullas Freundin, deren Aufenthaltsort uns bis heute nicht bekannt ist. In der ehemaligen Ludendorfstraße – zuletzt Franz-Seldte-Straße genannt – steht noch die Hindenburgschule, sehr gut erhalten. Offensichtlich dient sie auch heute noch Schulzwecken. In der Aula hatten Hindenburg und Ludendorf im ersten Weltkrieg 1914/18 ihr Hauptquartier während der Schlacht bei Tannenberg. Jetzt gehen wir in Richtung Roßgartenstraße am Gerichtsgebäude und dem Gefängnis vorbei. Die Gebäude dienen heute noch dem gleichen Zweck.

Im Garten

Meine Schwiegereltern und Verwandschaft im Garten des Hauses Roonstraße 25 in glücklichen Zeiten. Aufnahmen um 1940

An der Einmündung der Ludendorfstraße in die Roßgartenstraße waren früher das Büro Willi Messer und die Maschinenfabrik Kühn. In der dahinterliegenden Autowerkstatt habe ich in den Jahren 1935 bis 1938 den Beruf des AutoschlossersLesen Sie auch:
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Lehrzeit in Osterode
erlernt. Das Lokal Liedtke gegenüber steht nicht mehr. Rechts dahinter war früher das Haus der Freimaurer, später bis 1945 Kreisleitung der NSDAP. Es ist auch heute noch gut erhalten, macht sogar einen gepflegten Eindruck, und dient als Hotel. Die Schlosserei Pulz und die Schmiede Babiel sind nicht mehr vorhanden. Dafür arbeitet aber die Mehlmühle immer noch. Das Sägewerk, früher Berkau und Auge, ist auch in Betrieb. Rechts geht der Weg ab zur Fließstraße. Früher stand dort die Baptistenkapelle. Sie steht auch heute noch da, dient aber offensichtlich anderen Zwecken. Wir schauen zur Rotenkrugchaussee, wo eine Brücke über den Oberländischen Kanal führt, der hier den Drewenzsee mit dem Pausensee verbindet. Die Schleuse ist noch vorhanden und intakt. Die Rotenkrugchaussee führt weiter über Pillauken nach Elbing. Links geht die Bismarckstraße ab, wo noch viele alte Villen stehen. Wir gehen die Uferpromenade am Kanal entlang bis zum Bismarckturm mit dem schönen, alten Baumbestand. Leider ist alles sehr ungepflegt. Wir gehen bis Wiechersruh, von wo aus man den schönen Blick auf das Panorama von Osterode hat. Die Badeanstalt hinter dem Bismarckturm gibt es nicht mehr. Wir kehren um. Wir gehen durch die Drewenzstraße in die Friedrichstraße und sehen durch die Häuserlücken die alte Landkirche, die jetzt auch wieder benutzt wird. Sie war im Krieg ausgebrannt und wird noch immer restauriert. Wir informieren unseren Taxifahrer, dass es noch eine Weile dauern wird. Durch die Schulstraße, Preußenstraße geht es nun an der Bahnlinie entlang, weil die Roonstraße schon nach 100 Metern für den öffentlichen Verkehr gesperrt ist. In der Preußenstraße treffen wir eine Frau. Sie ist die Tochter des deutschen Schneidermeisters Wrobel, die dort wohnt und in zweiter Ehe mit einem Polen verheiratet ist. Sie kennt sich hier aus und führt uns über die Bahnlinie auf die verlängerte Feldstraße. Von hier aus können wir deutlich das im Kasernenbereich liegende ehemalige Elternhaus, Roonstraße 25, von der Giebelseite – Hofseite – sehen. Joachim fotografiert, derweil wir uns davor stellen. Militärische Anlagen dürfen in Polen nicht fotografiert werden. Weil die ehemaligen Stallungen abgebrochen sind, kann man das Haus von dieser Stelle aus gut sehen. Das Haus scheint alles gut überstanden zu haben. Wie gerne wären wir näher an das Haus herangegangen, doch kommt man von keiner Seite näher heran. Das gesamte Kasernengelände ist eingefriedet. An dieser Stelle durch einen hohen Drahtzaun. Dieses Haus habe ich am 20. Januar 1945 als letzter von uns verlassen. Der Frau, die uns bei unserem Vorhaben so nett unterstützte, schenken wir Geld, Strumpfhosen, Seife, Schokolade. Sie nimmt unsere Geschenke dankbar an. Wir gehen nun durch die Feldstraße zur Hindenburgstraße. Dort wo früher der Rummelplatz war, ist heute eine Getränkehandlung. In der Hindenburgstraße steht das ehemalige Finanzamt noch. Dahinter, auf einer Anhöhe, ist der Wasserturm sichtbar.

Gegenüber steht das ehemalige Kaiser-Wilhelm-Gymnasium. Wir biegen in die Schillerstraße ein. Hier ist wenig zerstört. Das Gebäude der ehemaligen Stadtverwaltung mit dem Standesamt ist gut erhalten. Gegenüber ist das Gemeindehaus mit Konfirmandenraum – wir haben alle seinerzeit am Konfirmandenunterricht teilgenommen. Oben sind die beiden Pastorenhäuser und die evangelische Stadtkirche mit ihren Zwillingstürmen. Das Portal ist noch wie früher. Wir läuten an der Tür des ersten Pastorenhauses. Der Pastor öffnet. Er spricht deutsch. Unserer Bitte entsprechend schließt er die Kirche auf und lässt uns eintreten. Wir schauen nach 42 Jahren alles an. Auch fotografieren dürfen wir. Die Kirche ist wie früher gut gepflegt. Sie dient nach wie vor der reformierten Gemeinde als Gotteshaus. Wenn man bedenkt, dass seit der Vertreibung im Jahre 1945 aller Deutschen, 95 % der Bevölkerung heute katholischen Glaubens sind, bleiben nicht mehr sehr viele, die für die Erhaltung der Kirche beisteuern. Wir lassen eine Spende für die Kirche zurück. Wir gehen weiter und besuchen auch die katholische Kirche in der gleichen Straße. Auch sie hat ihr Aussehen nicht verändert.

Bismarckturm 1930

Der Bismarckturm am Drewenzsee, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Aufnahme um 1930.

Gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, war der katholische Kindergarten. Ulla und Joachim gingen als Kinder gerne dorthin. Wir besuchen in der ehemaligen Mackensenstraße die Cousine von Heinz Sadtkowski, die dort mit einem Polen verheiratet ist und schon Enkelkinder hat. Joachim übergibt einen Brief im Auftrag von Heinz und Lenchen. So lernen wir auch das Innere eines Einheitshauses kennen. Nun wird es aber Zeit, den Taxenfahrer aufzusuchen. Ich fahre mit der Taxe zum Bahnhof, während Ulla, Joachim und Anneliese am See entlang – über die Uferpromenade – zu Fuß nachkommen. Anschließend fahren wir alle noch einmal zum Bismarckturm. Dort befindet sich ja ein Lokal und wir haben alle mächtigen Kaffeedurst. Allerdings werden wir enttäuscht. Der Bismarckturm ist von hohen Bäumen ganz verdeckt, deshalb kann man ihn auch von Osterode aus nicht mehr sehen. Natürlich ist das Bildnis von Bismarck herausgebrochen. Die Anlage ringsum, früher sorgfältig gepflegt, ist restlos verwildert. Unkraut überwuchert die Wege, der Rasen ist nicht geschnitten. Über eine kleine Holzbrücke gelangen wir über einen Bach zum ehemaligen Strandbad, das immer sehr gepflegt war. Niemand stört es wohl, dass in der Holzbrücke eine große Lücke klafft, durch die ein Kind fallen könnte. Das Strandbad, wie bereits erwähnt, existiert nicht mehr. Alle Gebäude sind abgebrochen und der weiße Sand ist verschmutzt. Einige verfaulte Pfähle im Wasser lassen die früheren Stege und Sprungtürme ahnen. Dahinter wird Flößholz gelagert. Im Restaurant am Bismarckturm ist gerade eine Gruppe Touristen beim Abendbrot. Es riecht auch ganz appetitlich, doch leider gibt es für uns keinen Kaffee. Wir waren ja auch nicht vorher angemeldet. Das lässt uns aber nicht verdrießen. Wir fahren jetzt durch die Bismarckstraße in Richtung Roter Krug und biegen nach rechts auf die Umgehungsstraße nach Hohenstein ein. Diese Straße ist, nach Meinung des Taxifahrers, auf dem Wege nach Allenstein besser. Wo früher einmal das Tannenbergdenkmal stand, – es wurde 1945 von den zurückgehenden deutschen Truppen gesprengt – ist heute grüner Wald. In der Gastwirtschaft an der Straße bekommen wir endlich unseren Kaffee. Er wird in Gläsern serviert. Über Hohenstein, wo noch einige alte Gebäude stehen, fahren wir nach Allenstein zurück. Dort holen wir die Stadtbesichtigung unter kundiger Führung unseres Taxifahrers nach. Siebeneinhalb Stunden Taxibenutzung! Wir zahlen 35 Dollar. Der Taxifahrer setzt uns dann wieder am Novotel in Allenstein ab. Ein anstrengender aber interessanter Tag liegt hinter uns.


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