27Jan2024

Demo gegen rechts und Rechtspopulismus

Erich Kästner

„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat“, sagte Erich Kästner, Autor und Zeitzeuge der Ereignisse von 1933 bis 1945, angesichts der Verbrennung seiner Werke.

Seither bewahren Zeitzeugen Berichte aus dieser Zeit vor dem Vergessenwerden in der Hoffnung, diese Zeiten werden nie wiederkommen. Und wieder rollt ein Schneeball durch unser Land. Wieder werden geheime Treffen abgehalten, finanzstarke Industrielle übernehmen die Wahlkampfkosten von Parteien brauner Gesinnung.

Auch damals, 1933, gab es GeheimtreffenDas Geheimtreffen vom 20. Februar 1933 war eine Zusammenkunft Adolf Hitlers nach der Machtergreifung mit 27 Industriellen in Hermann Görings Amtssitz im Reichstagspräsidentenpalais zur Finanzierung des Wahlkampfes der NSDAP bei den halbfreien Reichstagswahlen vom 5. März 1933.Siehe Zeittafel der Machtergreifung 1933 [... Klick], wie beispielsweise das am 20. Februar 1933 im Reichstagspräsidentenpalais, Görings Amtssitz, mit finanzstarken Industriellen. Zweck war die Finanzierung des Wahlkampfs der NSDAP, die bei der Wahl am 5. März stärkste Kraft wurde, kurz darauf mit dem Ermächtigungsgesetz die Weimarer Demokratie beseitigte und für viele Jahre ein verbrecherisches Regime errichtete, dessen unmenschliche Taten bis heute nicht vollständig aufgearbeitet sind. Und die Konservativen waren dabei die Steigbügelhalter für den Aufstieg der Rechtsextremisten. Die kaisertreuen Monarchisten, welche nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg den Sozialisten die Schuld an diesem Desaster in die Schuhe schoben und dafür eifrig an der Dolchstoßlegende strickten. Am 30. Januar 1933 glaubte der Reichspräsident von Hindenburg noch daran, den Emporkömmling Adolf Hitler kontrollieren zu können, als er ihn zum Reichskanzler machte, und wurde damit Opfer seiner eigenen Legende. Heute ist es kaum anders. Statt einer konstruktiven Oppositionspolitik der konservativen Kräfte erleben wir Hetze, die öffentliche Pflege von Feindbildern, Verunglimpfung politischer Gegner und Rufe nach Neuwahlen. Die politischen Ziele, die jetzt als neu verkündet werden und Wählerstimmen generieren sollen, haben dabei größte Ähnlichkeit mit den ausgedienten, von denen man sich gerade aus der Einsicht verabschieden musste, dass sie nicht zukunftsfähig sind. Aber sie scheinen einfach und schnell begreifbar zu sein und sind deshalb so erfolgreich, denn einfache Lösungen liebt das Volk.

Der Schneeball, von dem ich spreche und den es jetzt zu zertreten gilt, der rollt in unseren Köpfen und droht zur Lawine zu werden. Nicht der Rechtspopulismus und seine Vertreter sind das Problem, sondern wir Wähler, die wir glauben, den Regierenden Denkzettel verpassen zu müssen, weil uns deren Entscheidungen nicht gefallen, weil wir sie nicht verstehen oder sie uns nur Bauchgrummeln verursachen. Die Wähler, die an die einfache Lösung aller Probleme glauben, so, wie sie von Rechtspopulisten vor jeder Wahl versprochen werden. Und die Wähler, die glauben, dass die Ausweisung von Migranten alle Probleme lösen wird. So hat das deutsche Volk schon einmal gewählt, und auch gleich zum letzten Mal, denn nach dem 5. März 1933 gab es keine freien Wahlen mehr. Das stärkste Mittel, unser freiheitliches und demokratisches System zu bewahren, ist die freie, allgemeine und geheime Wahl unserer Abgeordneten. Darüber hinaus auch das politische Engagement jedes Einzelnen, um politische Entscheidungen und Gesetze nachvollziehen zu können, die in Berlin getroffen werden.

Wie ging es 1933 weiter? Ein weiteres Geheimtreffen fand am 20. Januar 1942 in einer Villa am Großen Wannsee in Berlin statt. Dort kamen die Vertreter der Reichsregierung und der SS zusammen. Unter dem Vorsitz des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich in seiner Funktion als Chef der Sicherheitspolizei wurde euphemistisch die Endlösung der Judenfrage beschlossen. Endlösung meinte im Klartext die systematische Ermordung von Millionen Menschen jüdischen Glaubens. An dieser Schuld haben wir Nachgeborene heute noch schwer zu tragen.

Bemerkenswert, dass immer dann, wenn die Verantwortlichen selbst erkennen, wie menschenverachtend sie reden, euphemistische Worthülsen verwendet werden. Als politisches Ziel manch einer Partei wird jetzt die Remigration genannt. Gemeint ist die Ausweisung, die Vertreibung missliebiger Mitmenschen. Und auch die derzeitig Regierenden sprechen aus Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen neuerdings von irregulärer Migration. Wie bitte? Auch hier verhüllende, euphemistische Worthülsen? Irreguläre Migration setzt doch voraus, dass es auch eine reguläre Migration gibt. Seit Jahren nehmen wir zur Kenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Einwanderung ist sogar erwünscht, wenn es sich um Fachkräfte handelt. Erst vor kurzem haben Bundeskanzler und Finanzminister sich dafür stark gemacht und Pflegepersonal in Brasilien, Facharbeiter in Ghana angeworben. Auch frühere Regierungen hatten entsprechende Ideen und warben mit Greencards um Fachkräfte aus dem Ausland.

Dabei hat man scheinbar vergessen, dass es Menschen sind, die zu uns kommen, um zum Wohle des deutschen Volkes hier zu arbeiten. Eine sinnvolle Integrationspolitik hat es erkennbar nicht gegeben. Wie in den 1950er Jahren, als Gastarbeiter aus Portugal, Spanien und Italien zu uns kamen, um unsere zerstörten Städte wieder aufzubauen, glauben wir anscheinend immer noch, dass diese Menschen wieder nach Hause gehen, wenn sie das Ende ihres Berufslebens erreicht haben? Und warum muss ein Facharzt aus dem Iran seine Ausbildung noch einmal machen, um hier eine Zulassung zu bekommen? Warum darf ein Asylsuchender während seines Verfahrens keine Ausbildung zum Facharbeiter machen? Warum dürfen Asylsuchende während des laufenden Verfahrens nicht arbeiten? Arbeiten und Geld verdienen, um damit den eigenen Lebensunterhalt zu finanzieren, heißt ein menschenwürdiges Leben zu führen. Garantieren wir nicht mit unserem Grundgesetz, auf das wir mit Recht stolz sein dürfen, im Artikel 1 die Unantastbarkeit der Menschenwürde?

Der Philosoph Immanuel Kant hat in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die Achtungswürdigkeit und die Menschenwürde an sich im weitesten Sinne definiert. Das Grundprinzip der Menschenwürde besteht für ihn in der Achtung vor dem Anderen, der Anerkenntnis seines Rechts zu existieren und in der Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Kant geht davon aus, dass der Mensch ein Zweck an sich sei und demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden darf. Das heißt: Die Menschenwürde wird verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt – etwa durch Sklaverei, Unterdrückung oder Betrug.

Nach 1933 gab es kein Recht auf Menschenwürde mehr, es hieß fortan: Recht ist, was dem Volke nützt! Von Stund an wurden vom NS-Regime Begriffe wie unwertes Leben, Sozialschmarotzer und Untermenschen verwendet, die es auszumerzen, das meint ausrotten, an der Verbreitung hindern, vollständig zu vernichten, galt. Wohin das führte, wissen wir, auch wenn es von einigen geleugnet wird.

Erschüttert hat mich der Inhalt eines Gesprächs mit einer Nachbarin, als wir auf die politische Landschaft Deutschlands zu sprechen kamen. Es muss mal aufgeräumt werden in diesem Land, es sind ja nur noch Ausländer hier, sagte sie.

Es rauscht gewaltig im deutschen Blätterwald, die Veröffentlichung des Netzwerks CORREKTIV und die Offenlegung des Geheimtreffens in einem Landhotel nahe Potsdam schrecken die Öffentlichkeit auf. Hochrangige Vertreter der AfD, der Identitären Bewegung, zweier CDU-Mitglieder, Mitglieder der Werteunion, Neonazis und finanzstarke Vertreter der Wirtschaft waren dabei. Eingeladen hatte Gernot Möring, ein ehemaliger Zahnarzt aus Düsseldorf, und er hat einen Masterplan, die Vertreibung von Emigranten aus Deutschland. Remigration nennen sie ihre Absicht, das Land von den ungeliebten Ausländern zu befreien, und sie bedienen sich dabei schamlos der Sprache des NS-Regimes, das Deutschland 1933 in den Abgrund führte.

Allerorten wird jetzt zu Demos gegen rechts aufgerufen. Doch davon werden sich die Rechtspopulisten und Neonazis nicht beeindrucken lassen. Sie wissen, dass sie nur warten müssen, bis der Sturm der Entrüstung sich gelegt hat, dann werden sie weiter die Grenzen des Zumutbaren austesten.

Die Lawine aufhalten heißt: jetzt den Schneeball zertreten, heißt: wählen gehen und die Augen offenhalten, heißt: den Rechtspopulisten und Menschenfängern nicht auf den Leim gehen! Und es bedeutet auch, mutig und optimistisch in die Zukunft zu schauen, der Angst keine Chance zu geben. Die heutige Entwicklung muss bekämpft werden, man darf nicht warten, bis die unselige Saat aufgeht, die von Rechtspopulisten heute gelegt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball wieder eine Lawine wird.

Erich Kästner drückte es so aus: Erst wenn die Mutigen klug und die Klugen mutig geworden sind, wird das zu spüren sein, was irrtümlicherweise schon oft festgestellt wurde: ein Fortschritt der Menschheit. Hartmut Kennhöfer, 20. Januar 2024