5Dez2023

Kindheitserinnerungen 1947

Itte Jakob

Auch 1947 gab es nicht genug zu essen, ich wusste gar nicht mehr, wie es sein könnte, einmal satt zu sein.

Meiner Mutti muss das doppelt wehgetan haben, denn sie bemerkte einmal: „Es gab eine Zeit, da gab es alles zu essen, und da wolltest du fast nie essen. Jetzt, wo es nichts gibt, hast du immer Hunger und würdest alles essen“.

Ganz stimmte das nicht, denn einmal war Pferdefleisch organisiert oder geschenkt worden, das ich trotz meines Hungers nicht herunterbrachte. Hartmut aß mit Heißhunger meine Portion mit; er muss noch mehr unter der fehlenden Nahrung gelitten haben als ich, war er doch sechs Jahre älter und damit in einem Alter, wo gerade Jungen pausenlos essen können, ohne zuzunehmen. So verschmähte Hartmut weder Pferdefleisch noch die scheußlichen Steckrüben.

Mit neun Jahren erhielt ich meinen ersten Klavierunterricht bei einer Lehrerin, die in der Nähe des Lyzeums wohnte, in das ich bereits durch die Eilversetzungen ging.

Im Frühjahr 1947 wurde mir der Blinddarm herausgenommen, und zwar in dem gleichen Krankenhaus, in dem ich geboren war (Wandsbek, Jüthornstraße). Die damalige Schwester Annemarie war jetzt Oberschwester und freute sich sehr, das Vorkriegskind wiederzusehen. Leider wog ich nach wie vor viel zu wenig (Frühgeburt) für mein Alter, und insofern hatte sich in neun Jahren nichts verändert.

Als Vati und Mutti so nach und nach ihre Freunde von „vor-dem-Ausbomben“ wiederfanden und auch in die Wohnung einluden, kam einmal ein Rechtsanwalt zu Besuch, der Glück gehabt hatte, seine Villa in Marienthal war im Bombenhagel stehen geblieben. Diesem Rechtsanwalt erzählte Vati von der Zeit in Rahlstedt, wo wir in der kalten Dachwohnung erfroren wären, wenn Vati nicht nachts mit Hartmut die letzten Begrenzungspfähle zwischen Bürgersteig und Straße abgesägt hätte, mit denen wir dann wenigstens für kurze Zeit ein bisschen für Wärme sorgen konnten.

Darauf stand dieser Rechtsanwalt mit folgenden Worten auf: „Mit einem Vater, der seinen Sohn zum Diebstahl anhält, will ich nichts zu tun haben!“

Nun, auch wir wollten diesen Mann nie wiedersehen, denn Hartmut hat damals nicht gestohlen, sondern geholfen, dass seine beiden Schwestern nicht erfroren.

Im Sommer 1947 kam für mich die Kinderverschickung in ein Kinderheim nach Westerland auf Sylt, wo ich vier herrliche Wochen mit anderen, viel zu dünnen Kindern an Strand und im Wasser verbrachte, aber jeden Tag satt wurde. Bloß die blauschwarzen Muscheln schmeckten mir wenig, alles andere war gut. Zu dieser Zeit besaß ich sogar zwei Schlafanzüge gleicher Machart, die Großmutti genäht hatte. Beide Schlafanzüge waren im Gepäck für das Kinderheim dabei. Als ich sah, dass meine Zimmergenossin gar keine Nachtkleidung besaß, lieh ich ihr den zweiten Schlafanzug, und beide machten wir uns einen Spaß daraus, zu behaupten, dass wir beide ganz zufällig die gleichen Schlafanzüge hätten. Ob uns das wohl wirklich jemand geglaubt hat?

Zu dieser Kinderverschickung war ich ausgewählt worden, weil ich sechs Kilo Untergewicht hatte. Aus Muttis später angefügten Tagebuchnotizen konnte ich rekonstruieren, dass ich etwa 23 Kilo gewogen haben muss und sieben Zentimeter zu groß war. Nach der Rückkehr aus dem Kinderheim hatte ich nur noch 3,7 Kilo Untergewicht.

Wenn wir als Familie abends zusammensaßen, diskutierten Vati und Mutti manchmal über den Morgenthau-Plan, der nicht zustandegekommen war. Immer wieder hieß es, dass wir dann verhungert wären, wäre er verwirklicht worden. Aber wir hungerten doch auch so …

Manchmal fiel mir ein Lied ein, das ich vor dem Ausbomben oft im Radio gehört hatte und bei dem Mutti manchmal Tränen in den Augen gehabt hatte: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh‘n, und dann werden alle Träume wahr!“ Ich meinte mich zu erinnern, dass es ein Mann gesungen hatte. Aber viele Jahre später wusste ich, dass es Zarah Leander gewesen war.

An dieses Lied dachte ich immer wieder während der Hungerzeit, in der Vati mich „Indisches Hungerkind“ nannte. Das Wunder wäre, wenn es wieder etwas zu essen geben würde. Ende des Jahres 1947.

Alle meine Kindheitserinnerungen ab 1943 können Sie nachlesen. Itte Jakob, 5. Dezember 2023