Mutti - Sophie Goldschmidt
Anekdoten aus der Erinnerung an unsere Mutter Sophie Goldschmidt, geboren 1880 als Tochter des Dekans Karl Bickel
Berlin Steglitz, Rathstraße (heute Gritznerstraße) 11, 2. Stock:
Sonntagmorgen, 1940. Es klingelt, Mutti öffnet. Vor der Tür ein Goldfasan
, d.h. der NS-Blockwart in Parteiuniform: Heil Hitler! Frau Goldschmidt, Sie sollen mit Ihrem Mann gesehen worden sein.
Mutti - ganz große Dame: Na und?!
Dem Parteigenossen verschlug es die Sprache. Ich trat hinzu und erklärte, meine Mutter lebe getrennt von ihrem Mann, der sich in London befinde. Irritiert verabschiedete sich der Bonze: Heil Hitler
. Vermutlich war Mutti mit Eugen Schiffer (vgl. unten) beobachtet worden, den sie nach einem Besuch bei uns zur U-Bahn Breitenbachplatz (ungefähr zehn Minuten Weg) begleitet hatte - untergehakt, zumal er (80 Jahre alt) etwas unsicher zu gehen pflegte.
Anmerkung zum Verständnis dieser Anekdote:
Im September 1935 traten die sogenannten
Nürnberger Rassegesetzein Kraft. Danach galten alsArierund damit alsReichsbürgerdie Deutschen, deren Großeltern väterlicher und mütterlicherseits im Säuglingsalter nachweislich kirchlich getauft worden waren. War dieses nicht der Fall, so galten vormalige Juden, wie Hans GoldschmidtJulius Hans Goldschmidt (geboren am 22. Mai 1879 in Hamburg; gestorben am 6. November 1940 in London) war ein deutscher Historiker. Klick für Wikipedia.org und Eugen Schiffer, die erst sich selbst als Erwachsene hatten taufen lassen, als Juden. Hans Goldschmidt hatte eineArierinzur Frau; sie lebten in einerMischehe. Ihre Kinder – Ulrich, Dieter, Eva – fielen daher unter die Kategorie derMischlinge ersten Grades. Diese waren meist – zumindest einstweilen – in geringerem Maße als dieJudendiskriminiert.ArischenEhefrauen wurde nahegelegt, sich scheiden zu lassen, um selbst unbehelligt leben zu können; mit dem Ehemann konnte dann, so wie mit allen Juden, hemmungslos umgesprungen werden. Entsprechendes galt fürarischeMännerjüdischerFrauen. Einer Scheidung fast gleich geachtet konnte gelten, dass die Ehepartner sich zumindest getrennt hatten. So hatte sich Mutti bei der in Deutschland seit jeher üblichen polizeilichen Meldung Ende 1939 nach ihrem Umzug von Potsdam nach Berlin alsgetrennt lebendregistrieren lassen.
1943 nach schweren Bombenangriffen bemühten wir uns – wie viele Berliner – aufhebenswerte Gegenstände wie Schmuck, Papiere, lebensnotwendige Kleidung und anderes aus Berlin herauszubringen. Uns stand dazu im ansonsten vermieteten Haus in Potsdam, Im Bogen 11, der Fahrradraum zur Verfügung. Also machen sich am Samstagnachmittag Freundin Hanna Giesen und ich reichlich beladen auf den Weg zu Fuß 15 Minuten zur S-Bahn Feuerbachstraße, umsteigen in Wannsee, in Potsdam raus zur Straßenbahn, Haltestelle Im Bogen
, nach weiteren zehn Minuten sind wir am Ziel, also mindestens eineinhalb Stunden Weg. Mutti blieb zu Hause, sie wollte aber, dass wir auch ihren Teppich, ein gutes deutsches Maschinenfabrikat, mitnähmen, der etwa zweieinhalb mal dreieinhalb Meter groß war. Hanna und ich erklärten, das ginge über unsere Möglichkeiten. Mutti rief uns laut im Treppenhaus nach: Das vergesse ich Euch nie!
– Der Teppich blieb erhalten, reiste nach dem Kriege mit ihr nach Saskatoon, zur Familie von Dieters Schwester Eva, musste dort von allen geschont werden, blieb aber dort, als Mutti nach Deutschland zurückkehrte.
Zunehmende Luftangriffe auf Berlin. Vorwarnung im Radio. Jedermann macht sich kellerfertig
mit Helm, Gasmaske, Schutzkleidung (Trainingsanzug, Mantel, feste Schuhe, Taschenlampe u. a.), Brustbeutel mit Ausweis, Geld etc.. Mutti vor Nervosität eigentlich unausstehlich. Die Sirenen heulen, Alarm, es bleiben höchstens fünf Minuten, bis die Bomben fallen, also alle Hausbewohner, zehn bis 15 Personen, ab in den Keller. Mutti ist dort Seniorin. In stoischer Ruhe, Besonnenheit und Hilfsbereitschaft ist sie ein beruhigendes Element, verhindert hysterische Ausbrüche, unterstützt eine Mutter mit Kleinkind.
Dietrich berichtet: Ursel war 1942 – vermittelt über Schiffer – zu Otto und Elisabeth Junghann (er im Ruhestand seit 1933, bis dahin linksliberaler Regierungspräsident und prominenter Politiker, sie Oratoriensängerin) als Untermieterin gezogen. Bald war sie Hausfreundin und schließlich Hüterin der großen, behaglichen Wohnung, als die Junghanns nach Fieberbrunn/Tirol übersiedelten, um den Bedrohungen der zunehmenden Bombenangriffe zu entgehen. Die Wohnung lag in Schmargendorf, Johannisbergerstraße 27. Zwei Erinnerungen an Mutti verbinden sich damit. Ursel und ich waren einander schon zugewandt, Mutti konnte sich nur mühsam damit abfinden. Eines Abends besuchte ich Ursel. Um zehn Uhr klingelte das Telefon, Mutti herrisch: Wo bleibt mein Sohn?
Was sollte ich machen? Die Zeiten waren nicht für Krach geeignet – ich ging bald wieder zu ihr. Später zog ich ganz zu Ursel, und Mutti folgte.
In die geräumige Wohnung nahmen wir auch meinen treuherzigen Studienfreund Gerhard Güterbock auf, der ausgebombt
war, das heißt, seine Wohnung verloren hatte. Er kam abends von der Arbeit zu seinem Domizil bei uns. Es hatte bereits Vorwarnung
gegeben. Wir saßen zu dritt entsprechend gestiefelt und gespornt
beim Abendessen. Gerhardchen platzt herein: Nanu Frau Goldschmidt, schon so sportlich?
Mutti erstarrte, erleichternder Humor war ihr leider fremd.
Eugen SchifferEugen Schiffer (* 14. Februar 1860 in Breslau; † 5. September 1954 in Berlin) war ein deutscher Jurist und Politiker (Nationalliberale Partei, DDP, LDPD, FDP). Schiffer setzte sich im Kaiserreich für eine Rechtsvereinheitlichung ein.Klick für Wikipedia.org (1860–1954) samt seinen Töchtern Marie, die ihm seit dem Tod der Mutter 1919 den Haushalt führte, und Mathilde (Tilla), verheiratet mit dem Wirtschaftsprüfer Waldemar Koch, war seit Ende der zwanziger Jahre zu einem guten Freund unserer Familie geworden. Er war ein prominenter Jurist und nationalliberaler Politiker seit Beginn des Jahrhunderts, Minister und Vizekanzler in den ersten Jahren der Weimarer Republik. 1924 hatte er sich aus dem aktiven Politikerleben zurückgezogen, blieb jedoch schriftstellerisch tätig, überlebte trotz jüdischer Herkunft in Berlin die Katastrophe der Jahre 1933–1945, war 1945–1948 nochmals politisch tätig als Leiter der Justizverwaltung der Sowjetischen Besatzungszone, bevor er endgültig in seiner alten West-Berliner Wohnung in den Ruhestand trat. Ich habe an anderer Stelle ausführlich über das Leben von Eugen und Marie Schiffer berichtet (vgl. Anm.). Schiffer – geistreich, gebildet, humorvoll, schlagfertig – pflegte mindestens seit den zwanziger Jahren regelmäßig einen je nach Lage der Zeit großen oder kleinen Kreis befreundeter Frauen und Männer, die meisten aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens, um sich zu versammeln; eine Art modernen Salons. Mutti hielt sich dazu, kaum je Vati, dessen Schwerhörigkeit eine Gesprächsteilnahme praktisch ausschloss. In den schlimmsten Jahren der Verfolgung 1939–1945 tat Mutti alles, was sie nur konnte, Schiffer und seiner Tochter Marie zu helfen. Als Schiffers ab 1943 im Jüdischen Krankenhaus im Norden Berlins unter Gestapo-Aufsicht interniert
waren, besuchte Mutti sie unbeirrt – im Wechsel mit einigen befreundeten Damen, Käthe Lindemann, Margarete, genannt Blerka
Kubier, Ursel und andere, und brachte Essen mit, soweit verfügbar.
Nach dem Kriege bis in das Todesjahr kam Mutti – seit Februar 1945 in Göttingen – nur besuchsweise nach West-Berlin. So entwickelte sich zwischen ihr und Schiffer ein lebhafter, teilnahmevoller, meist humorvoller Briefwechsel, der Mutti von einer lockeren, mitunter geistvollen, fast lustigen Seite zeigte, deren wir uns sonst bei ihr kaum entsinnen. Der Briefwechsel gehört zu den wenigen erhaltenen Stücken ihres Nachlasses. Am 14. Februar 1950 feierte Schiffer in großer Runde seinen 90. Geburtstag. Mutti und Ursel waren zur Gratulation aus Göttingen gekommen. Mutti verband ihren Glückwunsch mit der Frage, was der Jubilar sich zum hundertsten Geburtstag wünsche. Schiffer ohne Zögern: Sophie, einen Sohn!
Schallendes Gelächter, doch Mutti verschlug es die Sprache, irritiert und verlegen errötete sie wie eine junge Frau!
Als Schiffers Leben sich dem Ende zuneigte, half Mutti bei seiner Pflege. Am Morgen eines Herbsttages fragte Schiffer sie, was heute für ein Tag sei. Antwort: 5. September 1954
. Schiffer: Dies ist mein Sterbetag
. Am Abend erreichte ihn der Tod.
Berlin-Halensee, Martin-Luther-Krankenhaus
Mutti ist nach ihrer Rückkehr aus der Neuen in die Alte Welt viel gereist. Im Herbst 1959 klagte sie nach dem Besuch von Konzerttagen des Cellisten Pablo CasalsPablo Casals (* 29. Dezember 1876 in El Vendrell, Spanien; † 22. Oktober 1973 in San Juan de Puerto Rico) wurde vor allem als Cellist weltberühmt, wirkte aber auch als Komponist und Dirigent.Klick für Wikipedia.org in Frankreich über zunehmende Halsbeschwerden. Röntgenuntersuchung in Berlin: Lymphdrüsenkrebs, Röntgen-bestrahlung im Martin-Luther-Krankenhaus. Bald konnte sie es nur noch tageweise verlassen, so zum Besuch bei uns in Lankwitz an Weihnachten 1959. Bei der Rückfahrt ins Krankenhaus passierten wir ihre Wohnung in der Rappoldtsweiler Straße (Zehlendorf) und unser gerade erworbenes Haus Vogelsang 4 (Dahlem). Wir konnten ihr dort wenigstens vom Garten aus die beiden Zimmer zeigen, die wir ihr zudachten, sobald sie das Krankenhaus würde verlassen können. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Bereits zu Silvester und Neujahr musste sie in ihrem Bett im Krankenhaus bleiben, aber sie lebte nun ganz auf ihren 80. Geburtstag am 11. Januar hin.
Ursel berichtet: Zu Recht erwartete sie etliche Gratulanten. Sie bat mich, Sherry und anderen Wein zu besorgen, Salzgebäck und Baumkuchen, den ersten meines Lebens. Geschirr brachte ich von Zuhause mit, ebenso Tischdecken, Servietten etc. Sie wollte es schön haben. Am 11. Januar war ich von früh bis abends dort, außer bei ihrer Mittagsruhe. Die Gratulationscour begann früh mit den Schwestern, die Arztvisite wurde hinter der Gratulation versteckt, ein Vertreter der Stadt Berlin kam mit Blumen und einer großen Konfektschachtel, damals üblich zu den 80., 85. und 90. Geburtstagen. Ab elf Uhr tröpfelten Freunde herbei, ihre Namen weiß ich nicht mehr außer den Damen Hamm und Borisch, bei denen sie ihre Wohnung hatte, sowie Dorothee Schuke und etliche aus dem Kreis um Schiffer. Nur nicht Marie Schiffer, denn sie lag selbst als Patientin im gleichen Krankenhaus mit einer bösen Gürtelrose.
Mutti war sehr guter Dinge, im Mittelpunkt des Geschehens genoss sie den Baumkuchen und stieß mit den Gratulanten an. Sogar ihr Mittagessen aß sie noch ohne Hilfe. Dann hielt sie Mittagsruhe.
Zur Nachmittagsbesuchszeit kamen noch ein paar Leute mit Blumen, als letzter Dieter mit der ganzen Kinderschar. Das Baby Dorothea (sieben Monate) legten wir zu ihr ins Bett, was sie freute. Martina (knapp sechs Jahre) entdeckte sofort die große Konfektschachtel und fragte: Omi, gibst du uns davon was ab?
Mutti ließ sich die Schachtel rüberreichen und wählte für die Kleinen aus. Ob sich die Großen
, Johannes und Christopher selbst nehmen durften, erinnere ich nicht, wohl aber, dass Martina unbefangen fragte: Dürfen wir noch eins?
Darauf Mutti (bis heute unvergesslich): Ihr Gierwammel!
Aber sie bekamen ein weiteres Stück Konfekt. Abends war sie rechtschaffen erschöpft.
12. Januar. Ich kam erst zur Besuchszeit um 15 Uhr und war mit ihr allein. Sie schlief viel vor sich hin und schien mich ganz vergessen zu haben. Plötzlich richtete sie sich auf und fragte: Wann beginnt der Winterschlussverkauf?
Meine Antwort: Die letzte Woche im Januar.
Sie: Gut, ich muss mir einen neuen Wintermantel kaufen. In diesem Fetzen (wörtlich) gehe ich nicht mehr auf die Straße.
Erschreckt dachte ich: Sie hat Recht, sie wird ihn nicht mehr tragen.
Damit fiel sie zurück in ihre Kissen und schloss wieder die Augen. Ich fragte vorsichtig, ob sie möchte, dass ich ihr von der vielen Post vorlesen sollte, aber sie winkte ab: Morgen, komm früher
. So geschah es, dass ich von nun ab viel neben ihr saß, vorlas und nach ihrem Diktat Dankesbriefe schrieb. Es wurden nicht mehr viele. Zum Glück hatte ich mit Ulos und Evas angefangen. Sie unterschrieb nur noch die immer weniger werdenden Zeilen, zwischen denen sie immer wieder weg dämmerte. Am 18. Januar entschlief sie für immer. Sechs Tage vorher wollte sie noch einen Mantel kaufen und schien nicht an ihr Ende zu denken.
Vgl.: D. Goldschmidt: Hans Goldschmidt - 22. Mai 1879 – 6. Nov. 1940. Curriculum Vitae und Bibliographie. Privatdruck. Berlin, Oktober 1980.
D. Goldschmidt: Eugen Schiffer (14.02.1860-05.09.1954), in: W. Pauly (Hg.): Hallesche Rechtsgelehrte jüdischer Herkunft. C. Heymanns Verlag, Berlin, 1996, S. 69-92
Victor Klemperer hat in seinen umfangreichen Tagebüchern Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten
(2 Bände 1933-1945, Aufbau-Verlag, Berlin 1995) akribisch über die unendliche Reihe von Schikanen, Demütigungen, materiellen Schädigungen und Bedrohungen seines Lebens in Mischehe
berichtet. Daraus die Auswahl: V. Klemperer: Das Tagebuch 1933-1945 – eine Auswahl für junge Leser. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1997, 239 S., 14,90 DM