Sommer 1960, Schulferien in Hamburg
Im Sommer 1960 verbrachten viele Kinder ihre Ferien zu Hause in Hamburg. Dann war es auf den Spielplätzen immer sehr voll. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Klassenkameraden in den Urlaub ins Ausland flogen. Die am weitesten entfernten Urlaubsziele lagen in Bayern oder in den Bergen Österreichs und der Schweiz. Manche erzählten nach den Ferien auch von Italien, das war dann aber auch das am weitesten entfernte Urlaubsland, über das erzählt wurde.
Ich durfte für acht Tage in den Osten von Hamburg, zum Urlaub machen. Die Verwandtschaft wohnte in Billwerder-Moorfleet und hatte dort ein kleines Behelfsheim am Industriekanal. Der Stadtteil, einer von den 104 Stadtteilen Hamburgs, verfügt über eine S-Bahn-Station der Deutschen Bundesbahn. Früher standen hier drei Sendemasten, heute steht hier nur noch der 304 Meter hohe Sendemast auf dem Gelände des Norddeutschen Rundfunks in Moorfleet und den Kleingarten mit dem Behelfsheim gibt es nicht mehr.
Meine Eltern brachten mich mit der Linie 14 der Hamburger Straßenbahn und der S-Bahn nach Billwerder-Moorfleet zu Tante Ilse und Onkel Adolf. Die warteten bereits an der Station auf uns, mit meinem Cousin und der Cousine. Viele Sachen brauchten meine Eltern nicht für die acht Tage zu packen. Weil nicht so oft gewaschen wurde und wir nur wenig Zeug besaßen, hieß es früher immer, mach dich bitte nicht so dreckig. Aber eine kleine Reisetasche wurde es dann doch.
Natürlich gab es bei dem Besuch bei Tante und Onkel Mittagessen vom feinsten und zur Kaffeezeit den schönen selbstgebackenen Kuchen. Und auch die Milch aus der Glasflasche mit dem dünnen Aluminiumdeckel von Alstermilch
oder Hansano
für den Kakao fehlte nicht. Gegen Abend fuhren meine Eltern mit der S-Bahn ohne mich wieder nach Hause.
Am nächsten Morgen durfte ich mit meinem Cousin Milch und frische Brötchen kaufen gehen. Es ging zweimal links und an vielen Gartenparzellen vorbei, in den Einkaufsladen der Produktion. Hier gab es Milch in Flaschen, Brötchen, Brot und Zeitungen. So eine Vielfalt an verschieden Brötchensorten wie heute gab es damals noch nicht zu kaufen, es gab nur die eine Sorte Hamburger Schrippen
, die wir Brötchen
nannten. In der Nähe des Bahndamms der S-Bahn kamen wir am Sportplatz des dortigen Sportvereins vorbei. Der Rückweg ging viel schneller, denn wir hatten ja Hunger und freuten uns aufs gemeinsame Frühstück.
Auf den Frühstückstisch in der Küche kamen verschiedene Marmeladensorten, natürlich alle selbstgemacht und aus eigener Ernte. Tante Ilse hatte im Garten viele verschiedene Obstsorten, die sie im Laufe des Spätsommers erntete. Denn die Behelfsheime hatten dahinter zur Selbstversorgung viel Gartenland zum Pflanzen und Ernten. Das war bei allen Behelfsheimen in der Umgebung so. Diese Parzellen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg den ausgebombten Wohnungssuchenden zugeteilt. Die Pacht für das Grundstück war nur gering.
Nach dem Frühstück bekamen mein Cousin und ich eine tolle Aufgabe von meiner Tante zugeteilt:. Wir sollten zum Kohlenhändler gehen und einen Zentner lose Briketts im Jutesack kaufen. Das waren die gebrauchten Kaffee- oder Kakaosäcke, welche die Kohlenhändler für ihre festen Brennstoffe zum Transportieren benutzten. Der Händler hatte sein Geschäft in Richtung der roten Funktürme. Nebenan gab es noch sehr viele Holzbaracken, die nach dem Krieg gebaut wurden, um die größte Wohnungsnot zu lindern. Mit einem selbstgebauten Ziehwagen mit zwei 28-Zoll-Vorderrädern von einem Fahrrad zogen wir los. Diesen Ziehwagen konnte man auch an ein Fahrrad mit Anhängerkupplung ankoppeln. Auf der Straße am Industriekanal war damals noch nicht viel Autoverkehr. Wenn man fünf Autos in der Stunde zählen konnte, waren es viele. Der Kohlenhändler hatte viele Kleinabnehmer vor uns zu bedienen. Sie wollten wie wir, alle festes Brennmaterial kaufen. So vergingen bestimmt 15 Minuten, bis wir bedient wurden. Auf dem Rückweg schoben wir den Ziehwagen mit den Briketts am Kanal entlang. Das machte sehr viel Spaß. Meine Tante beheizte mit diesen Briketts den Küchenofen der fast immer brannte, weil sie darauf auch kochen musste.
Nach dem Mittagessen ging es in die schöne Natur. Wir liefen die Uferböschung hinunter, an das Wasser. Dort konnte man wegen der Ebbe einige dreckige Flaschen sehen, die im Schlick steckten. Wir haben auch eine Flaschenpost verschickt. Aber wir dachten nicht daran, dass der Kanal kein fließendes Gewässer ist. Also blieb die Flaschenpost im Schlick liegen, dort liegt sie wohl heute noch, denn eine Nachricht haben wir nie erhalten. Der Industriekanal wurde nach 1960 zu einem Teil mit dem Hamburger Müll zugeschüttet und diente so der Stadt als Müllkippe. Das umliegende Gelände war mit einem Zaun mit Strohmatten als Sichtschutz versehen. Später kam ein Autokino auf das Grundstück, es wurde auch Freiluft-Kino genannt. Der erste Film lief am 30. September 1976, der letzte am 18. Juli 2003, es war zu der Zeit Hamburgs größte Leinwand.
Zu spielen gab es meistens etwas. Wenn nicht, ging mein Cousin mit mir zu seinen Freunden in der Nachbarschaft. Vorher mussten wir aber der Tante sagen, wo wir hinwollten. Denn sie wollte gerne wissen, wo wir abgeblieben waren. Einen Telefonanschluss mit Wählscheibe und Schnur hatte zu der Zeit ja auch nicht jeder. Wenn ich heute zurückblicke, waren es acht Tage voller Ruhe, mit viel Spaß und frischer Luft.
Am Abreisetag brachten mich Onkel, Tante, Cousine und Cousin mit ihrem Goggomobil zu meinen Eltern zurück. Dass fünf Personen in das kleine Auto passten, kann man sich heute kaum vorstellen. Das Goggomobil wurde von 1955 bis 1969 als Limousine, Transporter und Pick-up hergestellt. Gebaut wurde die Limousine 214.313mal. Der Preis lag zwischen 3097 DM bis 4030 DM. Es hatte zwei Türen und je zwei Sitze vorn und hinten. Der Tank fasste 25 Liter Zweitaktgemisch und die Höchstgeschwindigkeit lag, je nach PS-Stärke zwischen 74 und 100 km/h.
In Barmbek angekommen, erzählte ich meinen Eltern, was ich alles erlebt hatte. Diese vielen Kleingartenvereine gibt es heute leider nicht mehr, nur wenige durften bleiben. Nach der großen Flut 1962 wurden die Gelände in Industrie- und Gewerbegebiete umgewandelt. So wurde auch aus diesen Gärten ein Industrie- und Gewerbegebiet, das heute zum Bezirk Bergedorf gehört.
Im Gegenzug durfte mein Cousin die nächsten acht Ferientage bei uns in Hamburg–Barmbek verbringen.
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