Die Wolga-Connection
Seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion war noch kein Jahr vergangen, als sich unter den Wolgadeutschen ein großer Rückwanderandrang bemerkbar machte. Hunderttausende Menschen aus der Region wollten zurück
ins Land ihrer Vorfahren. Aber die Bundesrepublik bevorzugte, ihnen lieber vor Ort zu helfen und ihnen Anreize zum Bleiben schaffen. In diesem Sinne wurde im Oktober 1992 in Saratov an der Wolga ein Kongress und eine Ausstellung gestaltet, um zu zeigen, was die Russlanddeutschen dort erzeugen und bewirken könnten. Organisationspartner für diese Veranstaltung war die Hamburg-Messe GmbH und ich bekam den Auftrag, die Leitung des in Saratov für die Tagungen vorgesehenen Pressezentrums zu übernehmen.
Die etwa 90-köpfige deutsche Delegation unter der Leitung des Instituts für Deutschland- und Osteuropaforschung aus Göttingen setzte sich aus Sachverständigen, Unternehmern, Funktionären und letztlich dem technischen und organisatorischen Einsatzteam der 'Hamburg Messe' zusammen
Mit einem Charterflugzeug der Lufthansa flogen wir von Frankfurt/M. nach Moskau, wo ein kurzer Zwischenstopp vorgesehen war. Wir landeten zwar reibungslos auf dem Flughafen Scheremetjewo an der Stadtgrenze Moskaus, aber das Flugzeug blieb auf einer abgelegenen Piste stehen, ohne sich dem Flugterminal zu nähern. Eine Durchsage des Kapitäns gab uns bekannt, dass es sich um eine Verzögerung handelte, die auf Verhandlungen mit den Flughafen-Behörden zurückzuführen sei. Die Zeit verging und wir bekamen Getränke serviert, um das Warten erträglicher zu machen. Dann bewegte sich etwas: über die ausgefahrene Hecktreppe bestieg ein russischer Offizier das Flugzeug und ging schnurstracks auf die Kapitänskabine zu. Er trug eine große Aktentasche bei sich. Wir begannen uns zu beunruhigen. Es war schon dunkel geworden und wir standen in der Mitte des hell beleuchteten Warteplatzes. In der Ferne glaubten wir Soldaten zu sehen, die uns wahrscheinlich überwachten. Und nun die Präsenz dieses Offiziers an Bord!
Die Besprechung mit dem Kapitän dauerte eine ganze Weile und schließlich meldete er uns, dass er mit dem russischen Offizier das Flugzeug verlassen würde, um weitere Verhandlungen mit den Flughafenbehörden zu führen. Wir bekamen weiter Getränke und Snacks serviert und bereiteten uns auf eine lange Nacht im Flugzeug vor.
Endlich kam der Kapitän zurück und verkündete, dass wir zwar für den Weiterflug Starterlaubnis erhalten hätten, aber die Behörden in Engels (bei Saratov), nach wie vor die Landeerlaubnis auf ihrem Flugplatz verweigerten. Man müsse Verständnis dafür haben, da sich in Engels das Produktionszentrum der berühmten MIG-Kampfflugzeuge befand und in Zeiten der UdSSR die ganze Region als Sperrgebiet gegolten habe. Es müsse also eine Sondergenehmigung erteilt werden und das dauere seine Zeit. Dabei war die Ankunft der deutschen Delegation schon Monate zuvor angekündigt worden!
Die erste gute Nachricht war, dass wir in einem Moskauer Hotel übernachten würden, um eventuell am nächsten Morgen weiter zu fliegen. Allerdings müssten wir vorerst unsere Reisepässe von der Einwanderungsbehörde kontrollieren lassen. Das Gepäck könnte an Bord bleiben. Wir stiegen also mitten auf der Piste aus und warteten auf die Busse, die uns ins Terminalgebäude bringen sollten. Da sahen wir zu unserem Erstaunen, dass unsere Koffer ausgeladen wurden! Weshalb dies nun doch geschah, darüber konnte uns niemand Bescheid geben.
Vor dem Gebäude erwartete uns eine gut aussehende Frau in Uniform, die uns in eine lange Halle führte, an dessen Seiten sich Sitzbänke aufreihten. Hinter uns verschloss sich die Tür und wir sahen uns unserem Schicksal ausgesetzt. Die schöne Uniformierte war durch einen anderen Ausgang verschwunden, über dessen Tür ein Schild auf Russisch und auf Englisch stand: Eingang verboten
. Nach längerer Zeit kam die Dame - sie sah jetzt strenger aus - zurück und bat uns, in einer Reihe die verbotene Zone
zu betreten. Wir kamen an einem Schalter vorbei, an dem Immigrationsoffiziere unsere Papiere kontrollierten, und zwar mit ausgeprägter Gelassenheit. Dann wurden wir aufgefordert, unsere Gepäckstücke, die am anderen Ende des Raumes aufgestellt waren, zu identifizieren, um sie von den Zollbeamten untersuchen zu lassen. Letztlich durften wir uns wieder am Ausgang versammeln, um in die Busse zu steigen, die uns dann ins Hotel fahren sollten. Es war schon Mitternacht geworden und alle waren vom langen Warten und der Ungewissheit ziemlich strapaziert. Wir hatten kaum Lust, uns die beleuchteten Straßen der russischen Hauptstadt anzusehen und waren froh, endlich im Novotel angekommen zu sein. Nicht wenig erstaunt, befanden wir uns jetzt in einem modernen und prunkvoll ausgestatteten Hotel mit einer riesigen Lobby, in der gläserne Fahrstühle lautlos auf und ab schwebten.
Die Zimmer entsprachen einem Vier-Sterne Hotel Westeuropas. Leider konnten wir von diesem Luxus nicht viel genießen, denn am frühen Morgen wurden wir schon geweckt, um nach einem kurzen Frühstück wieder die Busse zu besteigen. Hier erhielten wir nun die zweite gute Nachricht: die russischen Behörden hatten sich geeinigt und wir hatten grünes Licht bekommen, um unsere Reise wie geplant fortzusetzen. Es wurde gemunkelt, dass die Bundesregierung etwas Druck auf die Russen ausgeübt hätte, indem sie andeutete, die ganze Veranstaltung abzublasen, sollten weitere Verzögerungen vorkommen. Wir waren froh, endlich wieder in unserem Flugzeug zu sitzen. Die strenge, uniformierte Dame von gestern, wünschte uns jetzt mit einem breiten Lächeln eine gute Reise. Doch ihre Augen lächelten immer noch nicht ...
Wir landeten endlich auf dem Flughafen von Engels, der ehemaligen Hauptstadt der im Jahre 1941 aufgelösten Wolgadeutschen Autonomen Sozialistische Sowjetrepublik
. Beim Landen sahen wir längs der Piste hunderte von eingemotteten
MIG-Flugzeugen in Reih und Glied aufgestellt. Als die Maschine am Ende der Landebahn zum Stehen kam, wurden wir aufgefordert auszusteigen. Kein Flugterminal in Sicht. Die Reihe der MIG-Flugzeuge endete hier und eine Handvoll russischer Soldaten war dabei, eine der Maschinen auseinanderzulegen. Der rote Stern an der Seitenfloße war noch deutlich zu erkennen. Jedoch statt Techniker in Arbeitskleidung, gingen hier Rekruten mit aufgeknöpfter Uniformjacke, die Tellermütze in den Nacken geschoben, im Zeitenlupentempo ans Werk. Meiner Meinung nach war diese Demontage nur inszeniert worden, um uns Ausländern zu zeigen wie tüchtig die russischen Streitkräfte sich am vereinbarten Abrüstungsprogramm beteiligten
.
Wir wurden von den lokalen Organisatoren begrüßt und nach einer längeren Wartezeit trafen die Fahrzeuge ein, die uns nach der am anderen Ufer der Wolga liegenden Stadt Saratov bringen sollten. Die Koffer wurden auf einem Lkw geladen und wir stiegen in die bereitstehenden Busse ein. Vorneweg fuhr ein Polizeiwagen mit Blaulicht und am Ende der Karawane schlossen sich noch weitere Polizeifahrzeuge an. Als wir an der prächtigen Brücke, die über die Wolga führt, angelangt waren, drehte unsere Polizeieskorte ab. Wir dachten: klar, jetzt sind wir aus der Sperrzone raus. Aber kaum hatten wir die Brücke überquert, kamen uns schon die Polizeiwagen aus Saratov entgegen, um uns Geleit zu bieten. Eigentlich durften wir uns während unseres ganzen Aufenthalts nur unter polizeilicher Aufsicht bewegen. Wo waren eigentlich die Begriffe Glasnost
und Perestroika
geblieben?
Im Hotel Slowakia
hatte man schon einen Informationscounter für die deutsche Delegation aufgebaut. Dort bekamen wir unsere Anweisungen für den Verlauf der Tagung. Inzwischen war das Gepäck ausgeladen worden, wir konnten uns nun einchecken. Aber auch das ging nicht so einfach: als Erstes wurden unsere Reisepässe eingesammelt. Dann begann das mühsame Ausfüllen der einzelnen Identifikationspapiere. Wie, z.B. wird Potthoff in kyrillischer Schrift geschrieben, wobei es im Russischen kein h
gibt? Also, wieder eine längere Wartezeit. Endlich bekam jeder von uns einen Zettel, auf dem sein Name und die Passnummer gekritzelt waren. Die Pässe bekämen wir erst bei der Abreise zurück, und zwar nur gegen Abgabe dieses Papierfetzens
. Tatsächlich sahen diese Zettel wie abgerissene Blätter aus einem Schulheft aus.
Also, mit fast einem Tag Verspätung waren wir endlich an unserem Ziel angelangt. Ich nahm meinen Koffer und fuhr mit dem Fahrstuhl zum 8. Stock hinauf, wo ich mein Zimmer angewiesen bekommen hatte. Am Ende des Flurs stand ein großer Schreibtisch, an dem eine rüstige Babuschka
(Oma) saß, an die ich mich wenden sollte, um meinen Zimmerschlüssel zu erhalten. Sie verlangte meinen 'Ausweiszettel' und gab mir zu verstehen, dass ich beim Verlassen des Zimmers den Schlüssel wieder bei ihr abgeben müsse, um dieses Papier wiederzubekommen. Also niemand konnte sein Zimmer betreten oder verlassen ohne Kenntnis dieser Aufseherinnen, die schichtweise Tag und Nacht den Flur bewachten.
Zum Glück hatte man uns schon vor der Reise geraten, genügend Desinfektionsmittel und Kopfkissenbezüge mitzunehmen. Als ich die ersten Kakerlaken in der Badewanne erblickte, war mir alles klar...
An der Rezeption hatte man uns darauf hingewiesen, dass die Warmwasserversorgung nur zu gewissen Stunden gewährleistet wäre, aber die genaue Zeitspanne konnte uns niemand verraten. Man sollte es mal probieren. Jedoch wurde uns verschwiegen, dass beim Öffnen der Kräne zuerst minutenlang eine braune Soße herauslief. Erst später, als das Wasser etwas klarer floss, konnte man sich unter die Dusche wagen.
Die schief hängenden Schranktüren, die klemmenden Schubfächer, die spärliche Beleuchtung - alles ließ darauf schließen, dass es hier in der Provinz andere Hotelstandards gab als in der Hauptstadt. Nur der schöne Ausblick aus meinem Fenster auf die filigrane Stahlkonstruktion der Wolga-Brücke kompensierte den deprimierenden Eindruck meiner Unterkunft.
Den Weg zum Wissenschaftszentrum, wo das Symposium stattfand, konnte man zu Fuß zurücklegen. Auch hier kam die Empfehlung, festes Schuhwerk und warme Kleidung mitzubringen, sehr gelegen. Das schlechte Pflaster und der frische Wind an der Wolgapromenade bestätigten diese Vorsorge.
Im Gebäude des Gebietssowjets der Volksdeputierten war ein Pressearbeits- und Aufenthaltsraum eingerichtet worden. Hier hatte die mit Lkws eingereiste Vorhut der Hamburg Messe gute Arbeit geleistet. Schreibtische, Stühle, Schreibmaschinen, ein großer Vorrat von Büromaterial, Getränkeservice, Fotolabor, Mikrofone, usw., alles war bereits aus Deutschland hergebracht und aufgestellt worden. Auch für die gastronomische Verpflegung war vorgesorgt worden.
In meinem Arbeitszimmer hatte ich vielseitige Aufgaben zu erledigen: Akkreditierung der Journalisten, Aushändigung der Presseunterlagen, Bereitstellung erster Fotoaufnahmen, Telexverbindung mit Deutschland, Vermittlung von Who is Who
und Kontaktherstellung zu offiziellen Institutionen von Saratov. Die eigentlichen Tagungen bekam ich kaum zu sehen. Allerdings bekam ich eines Tages einen ungewöhnlichen Einblick in den Plenarsaal. Als ich kurz unsere Dunkelkammer besuchen wollte, um mir einige Fotos abzuholen, kam ich an einem schmalen Gang vorbei, der in eine kleine Kammer führte. Neugierig schaute ich hinein und sah dort zwei (wie ich später erfuhr) Geheimagenten, die durch einen Schlitz an der Wand, den großen Saal beobachteten. Am Eingang stehend konnte ich auch einen Blick auf das Seminar werfen. Die Agenten waren gerade dabei, ihre Observationen über Funk an eine Zentrale zu vermitteln. Ich stammelte nur Entschuldigung
und ging weiter. Offensichtlich konnten sie das Bespitzeln einfach nicht lassen!
Nicht nur Journalisten kamen in mein Büro, sondern auch verschiedene Personen, die irgendwie einen Auslandskontakt suchten. Eine junge Frau bat mich, einen Brief an ihren Freund in Italien von Deutschland aus zu befördern. Sie vertraute der hiesigen Post nicht. Ein älterer Herr erzählte mir, er sei Träger des Leninordens für Forschung. Er hatte sich auf Studien über Steine im Uralgebirge spezialisiert. Er gab mir einen Stein mit und bat mich, Kontakte in Deutschland herzustellen. Er war gut gekleidet und machte einen ehrwürdigen Eindruck auf mich. Ich bot ihm ein Glas Wein an und zeigte auf die Snacks, die auf meinem Tisch standen. Da strahlte sein Gesicht und er bediente sich mit einer Handvoll Erdnüsse, die er mit aller Ruhe in seine Tasche steckte...
Etwas Ähnliches erlebte ich auch auf dem Empfang, der nach einer Vorstellung im Opern- und Balletthaus Saratov stattgefunden hatte. Die CCH-Gastronomie, eine Tochter der Hamburg Messe und Congress GmbH, hatte dort im Auftrag der deutschen Delegation, eine köstliche Tafel aufgetragen, mit aus Deutschland in Containern mitgebrachten Speisen und Getränken. Mit Verlegenheit beobachtete ich, dass sich einige unserer russischen Tischgenossen Wiener Würstchen, Portionen von Käse und andere Speisen ungeniert in die Taschen steckten. Sehr begehrt waren auch die ungeöffneten Coca-Cola Flaschen, die sicherlich zu Hause besondere Freude bereiten würden.
Ein ständiger Begleiter bei dieser Russlandreise war auch der muffige Geruch, der in den meisten Gebäuden zu verspüren war, sei es im Hotel, Theater oder Gebietssowjet. Da kam uns die Flussrundfahrt auf der Wolga sehr gelegen, um die frische Luft zu genießen. Allerdings wurde es uns letztlich zu
frisch, als wir auf das oberste Deck gebeten wurden, um dem folkloristischen Spektakel beizuwohnen, das von einer lokalen Tanzgruppe vorgeführt wurde. Als gelernter Schiffbauer habe ich mir dann doch schon einige Gedanken über die Stabilität des Schiffes gemacht, als die Tänzer von einer Deckseite zur anderen sprangen, es ist aber alles glimpflich verlaufen. Eine halbe Flasche Wodka hat dazu beigetragen, die Kälte zu vergessen. Die nächtliche Einfahrt in Saratov gab dem Tag einen schönen Ausklang,
Im Allgemeinen konnte man das Symposium Saratov '92
mit seinen insgesamt 580 Teilnehmern als einen organisatorischen Erfolg bezeichnen, was wesentlich der deutschen Objektleitung zu verdanken war. Ob dadurch die Probleme der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Gebiets Saratov langfristig gelöst wurden, entzieht sich meinen Kenntnissen.
Auf jeden Fall war dieser Einsatz für mich ein erfreuliches Erlebnis, das mir die Gelegenheit gegeben hat, mich mit den russischen Verhältnissen und Bräuchen auseinanderzusetzen.