Was wollte ich werden?
Als ich klein war, habe ich mir keine größeren Gedanken gemacht darüber, was ich wohl später werden würde. Allerdings habe ich mich gerne in die Rolle eines Matrosen versetzt, wobei auch die Kleidung, die mir meine Mutter zu den Feiertagen anzog, beigetragen haben könnte. Bei den deutschen Familien in Argentinien war es damals üblich, dass die Jungen eine Marineuniform zum Ausgehen trugen. Zum Spielen hatte ich meistens einen Säbel, Spielzeugrevolver und später auch ein echtes Luftgewehr. Jedoch, als ich zu den Pfadfindern kam und die Uniform in Verbindung mit strapazierenden Märschen, Drill und Zeltlagern zu spüren bekam, vergingen mir allmählich die Träume einer militärischen Laufbahn.
Schon in den letzten Klassen der Grundschule wurde ich von meinen Eltern befragt, was ich wohl weiterstudieren möchte. Mein Vater war Maschinenbauingenieur und auf Kälte- und Klimatechnik spezialisiert. Natürlich hätte er sich gewünscht, dass auch ich eine ähnliche Karriere einschlagen würde. Zwar bewunderte ich seine Fähigkeiten und interessierte mich auch für alles, was mit Technik zu tun hatte, aber genaue Zukunftspläne hatte ich noch nicht.
Schließlich entschloss ich mich für eine Ausbildung in der Fachhochschule Otto Krause
, die zur der Zeit einen weltweiten, guten Ruf hatte. Hier wurden den Studenten neben den theoretischen Fächern auch praktische Kenntnisse beigebracht. Die Sache hatte nur
einen Haken: man musste eine strenge Aufnahmeprüfung bestehen. Die Latten waren sehr hoch gelegt worden, denn nur etwa jeder zehnte unter den mehr als Tausend Bewerbern konnte aufgenommen werden.
Um sicher zu gehen, schickte mich mein Vater in den Sommerferien auf eine Akademie, die für diese Prüfung vorbereitete. Trotzdem war es Glückssache durchzukommen. Ich hatte das Glück…
In den ersten vier Jahren dieser Hochschule wurden allgemeine technische Fächer gelehrt, wie z.B. Mathematik, Physik, Chemie, graphische Statik, technisches Zeichnen, Mechanik und Betriebswirtschaft. Im praktischen Bereich lernten wir Schreinerei, Blechbearbeitung und Löten, Eisengießerei und Metallbearbeitung
Selbstverständlich mussten wir auch andere Schulfächer pauken, die nach unserer damaligen Auffassung nicht ganz in das Bild einer technischen Ausbildung passten, allerdings im späteren Leben von großem Nutzen wurden. So lernten wir zusätzlich: Sprachkunde (Spanisch und Englisch), universale Geschichte und Erdkunde, Kunstzeichnen, Musik und sogar darstellende Anatomie!
Nach dieser allgemeinen Ausbildung musste man sich für eine genauere berufliche Orientierung entscheiden: Baumeister, Montageleiter, Chemiker oder Elektrotechniker. Zu meiner Zeit kam noch ein weiteres Fachgebiet dazu: Schiffbau.
Die rapide Entwicklung der Werftindustrie in Argentinien machte es dringend nötig, spezialisierte Kräfte für diesen Bereich auszubilden. Deswegen sollte der Studiengang in dieser neuen Spezialdisziplin von den vorgesehenen drei Jahren auf zwei Jahre zusammengefasst werden. Der Stundenplan für die theoretischen Fächer in der Otto-Krause-Schule
verlief etwa von 8 Uhr bis zum Mittag. Nachmittags hatten wir entweder Werkstatt oder Sport. Das Mittagsessen konnten wir in der schuleigenen Kantine oder auch außerhalb einnehmen. Wenn das Wetter schön war, machte ich öfters in der Mittagspause einen Spaziergang zum nahe liegenden Hafen und sah mir die Schiffe an. Da Buenos Aires Endhafen vieler Schiffslinien ist, die den Atlantischen Ozean überqueren, lagen immer viele große Frachter an den Kais, die ich gerne beim Laden oder Löschen beobachtete.
Der Anblick dieser faszinierenden Aktivitäten hat meine Träume mit allem, was mit der Seefahrt zu tun hat, geprägt. Also, bei der unmittelbaren Wahl meiner Karriere gab es keinen Zweifel mehr, ich wollte Schiffbauer werden und wenn möglich, dann auch auf einem Schiff die Meere befahren.
Da die neue Laufbahn vielversprechend klang, hatte sich eine große Anzahl von Bewerbern gemeldet. Also beschloss die Schulbehörde, dass nur Studenten technischer Hochschulen, die die besten Noten hatten, der Zugang zu diesem Fach gewährt würde. Wieder stand das Glück auf meiner Seite, ich hatte das letzte Semester mit sehr guten Noten abgeschlossen(!).
Wie gesagt, die ursprünglich auf drei Jahre angesetzte Ausbildung im Schiffbau wurde aus Dringlichkeitsgründen mittels intensiver Zeiteinteilung auf zwei Jahre reduziert. Wir mussten sogar sonnabends in die Schule gehen und sonntags bekamen wir als Hausaufgabe
auf, Schiffspläne zu zeichnen. Das bedeutete zusätzliche Anstrengungen für alle, die dieses Lehrfach ausgewählt hatten.
Da in der Otto-Krause
nicht genügend Platz für den neuen Lehrgang vorhanden war, wurde ein ehemaliges Lagerhaus im Stadtviertel La Boca
für diesen Zweck eingerichtet. So ergab sich auch die Möglichkeit, über eine größere Fläche für die Lehrwerkstätten zu verfügen, in denen wir neben dem theoretischen Studium den praktischen Bau von Holzbooten unternehmen sollten.
Nach dieser strengen Studienzeit, während der ich meine Freundin wochenlang nur telefonisch sprechen konnte, mussten wir noch die Hürde der Abschlussprüfung bewältigen. Wir bekamen keine schriftlichen Fragebögen, sondern wurden einzeln stundenlang von einer Professorenjury über die verschiedenen Fächer, die im Schiffbau vorkommen (Stabilitätslehre, Entwurfsrechnung, Maschinenanlagen, Schiffsausrüstung, usw.) befragt.
Aber mit dieser schweißtreibenden Prüfung war noch nicht alles geschafft. Um das begehrte Diplom zu erhalten, musste noch eine Dissertation unterbreitet werden. Ich entschied mich für den Vorentwurf eines Binnenschiffes mit Klassifikation vom Germanischen Lloyd. Es hat etliche Monate gedauert, bis ich die gesamte Berechnung und die Pläne des Schiffes ausgeführt hatte. Außerdem musste ich noch ein maßstabgerechtes Holzmodell vom halben Schiffsrumpf meines Entwurfs fertigen. Dieses sollte die Genauigkeit des projektierten Linienrisses bestätigen. Das lackierte Modell ziert heute noch das Wohnzimmer einer meiner Töchter.
Endlich war es soweit, und ich hatte mein Diplom. Auf die vorgesehene Ausbildungsfahrt auf einem Hochseefrachter oder Tanker mussten wir allerdings verzichten, da im Kriegsjahr 1944 kein Kapitän das Risiko übernehmen wollte, uns an Bord zu nehmen.
Kurz danach bekam ich eine Anstellung als Entwurfszeichner in einer Werft im Tigre Delta, außerhalb von Buenos Aires. Leider war die Fahrverbindung etwas kompliziert. Ich musste einmal mit dem Zug umsteigen und dann noch mit einer kleinen Fähre den Lujan Fluss überqueren. Da musste ich schon sehr früh aufstehen, um nach fast zweistündiger Fahrt meinen Arbeitsplatz zu erreichen. Besonders anstrengend war es in den kalten Wintermonaten, wenn dichter Nebel über dem Fluss stand und wir auf der Fähre nur unsere Köpfe sehen konnten. Aber es sollte ja nicht lange dauern: meine Militärzeit stand kurz bevor.
Inzwischen besuchte ich noch eine kurze Lehre als Hochseesteuermann in der Liga Naval Argentina, mit Ausbildungsfahrten auf dem La Plata Fluss. An den Wochenenden bereitete ich mich im Reit- und Schützenverein für den bevorstehenden Militärdienst vor. Anfang 1945 wurde ich dann eingezogen und erlebte das Kriegsende als Reserveoffiziersanwärter bei den Pionieren.
In der ersten Nachkriegszeit entwickelte sich der Schiffbau in Argentinien eher schleppend und die vielen versprochenen Arbeitsplätze gab es auch nicht. Da erhielt ich ein Angebot bei der Luftwaffe, die dringend technisches Personal mit Sprachkenntnissen brauchte. Wieder musste ich ausgiebige Prüfungen überstehen und wieder hatte ich Glück. So wurde ich Beamter im Luftfahrtministerium und arbeitete mich zum Divisionschef empor. Die Arbeitszeit von 7 bis 14 Uhr erlaubte mir, in den Nachmittagsstunden eine maritime ZeitschriftLesen Sie von diesem Autor auch:Eine Fachzeitschrift entsteht
zu gründen, um so meine schiffbautechnische Ausbildung praktisch anzuwenden.
Auf diesem Wege bekam ich Kontakt zur Marine, bei der ich mich als Kriegsberichterstatter ausbilden ließ. Dadurch konnte ich später an verschiedenen Flottenmanövern teilnehmen, eine WeltreiseLesen Sie von diesem Autor auch:
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auf dem Segelschulschiff Libertad
machen und sogar den FalklandkriegLesen Sie von diesem Autor auch:Wie ich den Falklandkonflikt erlebte
hautnah miterleben.
Dank meiner vielseitigen Aktivitäten ist es mir gelungen, die kühnsten meiner Jugendträume zu übertreffen. Neben der technischen und journalistischen Beschäftigung hatte ich Gelegenheit, viele Länder zu besuchen und dabei allerlei interessante Menschen kennen zu lernen. Obwohl ich keine militärische Karriere eingeschlagen hatte, durfte ich schließlich die Uniform eines Korvettenkapitäns tragen…
Ob meine Mutter, als sie mir den Matrosenanzug nähte, das geahnt hat?