… Und ich war dabei!
Nicht immer ist einem bewusst, wie direkt man an einem historischen Ereignis beteiligt gewesen ist. Viele unserer Zeitzeugen waren damals zu jung, um die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges wahrzunehmen und basieren ihre Erinnerungen nur auf das, was sie von ihren Eltern oder anderen Personen gehört haben.
In meinem Fall war das so: Ich lebte zu dieser Zeit weit entfernt vom eigentlichen Kriegsszenarium. Hätte es nicht zwei ganz besondere Vorgänge gegeben, ich hätte trotz meines schon empfindungsträchtigen Alters lediglich einen eher entfernten Eindruck von dem Kriegsgeschehen bekommen.
Als sich im Dezember 1939 vor dem Rio de la Plata die erste große Seeschlacht des Zweiten Weltkrieges sich abspielte und ich kurz danach persönlichen Kontakt zu den internierten Matrosen aufnehmen durfte, kam ich den Tatsachen schon ziemlich nahe. Ganz besonders empfand ich jedoch das Kriegsschicksal, als ich als Reserveoffiziersanwärter des argentinischen Heeres mich praktisch mit den deutschen Streitkräften im Kriegszustand befand, denn Argentinien hatte im März 1945 den Achsenmächten formell den Krieg erklärt. Wie aus meinen Erzählungen Internierung in Argentinien
und Kriegsende in der Ferne
hervorgeht, blieb es allerdings nur bei Empfindungen zweiten Grades
, ich bin selbst nicht dabei gewesen!
Auch als Jahre später die Amerikaner den Weltraum zu erobern begannen, war ich nah dran, mich an den Ereignissen zu beteiligen. Einer der Gründe dafür war, dass mein Vater bei einem Vortrag im VDI VDI = Verband Deutscher Ingenieurein Buenos Aires den Wegbereiter
der Raumschifffahrt, Wernher von Braun, persönlich kennen gelernt hatte, der uns von seinen Plänen, auf dem Mond zu landen, begeistert erzählte.
Als es dann soweit war, erfuhr ich aus den Zeitungen, dass man die erste Mondlandung vom Fernsehbildschirm direkt abfotografieren könnte.
Sogar die genauen Angaben von Belichtung und Zeiteinstellung wurden mitgeteilt. Also baute ich meine Kamera auf einem Stativ vor dem Fernseher auf und bereitete die genauen Einstellungen vor. Natürlich hatte ich auch die Fernauslösung vorgesehen, damit das Bild sich bloß nicht verwackelt! Da die Mondlandung in den späten Nachtstunden vorgesehen war, gingen wir alle schlafen und stellten den Wecker zur angegebenen Stunde.
Es war im Juli 1969, Winterzeit in Argentinien. Unsere Töchter waren damals schon 19 und 17 Jahre alt und wollten natürlich diesen Augenblick miterleben. Also warteten wir zur angesagten Zeit ungeduldig vor dem Fernseher. Am nervösesten war selbstverständlich ich. Ich hatte ja die Kamera zu überwachen und dann vorsichtig den Auslöser im genauen Moment zu betätigen. Alles lief wie geplant, mehrere Aufnahmen hatte ich geknipst und am nächsten Tag schickte ich schon die Filmrolle zum Entwickeln ins Labor. Als wir uns dann die Fotos ansahen, waren wir stolz darauf und fühlten uns glücklich, irgendwie dabei gewesen zu sein. Eigentlich hatten wir ja nur die Gelegenheit gehabt, alles im Fernsehen zu betrachten!
Leider sind diese historisch interessanten Aufnahmen bei einem Dachstuhlbrand im Haus einer meiner Töchter in Argentinien verloren gegangen.
Etwa 30 Jahre später wollte es das Schicksal, dass ich tatsächlich in einem historischen Ereignis direkt involviert wurde. Ich verweilte wieder mal in Deutschland, um über die hanseboot Ausstellung in Hamburg zu berichten und benutzte die Gelegenheit, um Freunde und Verwandte zu besuchen. Als ich bei meinem Freund Heinz in Augsburg im Rundfunk erfuhr, dass Ungarn seine Grenze nach Österreich geöffnet hatte und tausende Ostdeutsche dadurch nach Westen fliehen konnten, kommentierte ich lakonisch: Das mag ja ein Ausnahmefall sein, die Berliner Mauer wird zwar nicht ewig stehen bleiben, aber es werden noch viele Jahre vergehen, bevor Deutschland wieder vereinigt ist
.
Der Begriff Berliner Mauer
war damals in Argentinien kaum bekannt. Man sprach immer nur vom Eisernen Vorhang, der die Warschauer-Pakt-Staaten von den NATO-Staaten trennte und stellte sich eine vage Grenzlinie vor, die unüberwindlich gemacht worden war. Ich kannte die Mauer gut genug, da ich ja Berlin ohne sie kennen gelernt hatte, als noch die berüchtigte Sektorengrenze
existierte. Bei späteren Reisen bekam ich dann den antifaschistischen Schutzwall
zu sehen und begann, seine furchtbaren Auswirkungen zu verstehen.
Wenige Tage nach meinem Besuch in Augsburg war ich bei meiner Tante Lotte und Cousine Vera in Berlin zu Gast. Mein Vetter Heinz und Cousine Helga waren auch dabei, als wir am späten Abend die Nachricht hörten: … die Mauer ist geöffnet!
Wir konnten es zuerst nicht glauben, starrten auf den Fernsehschirm und sahen uns das bunte Spektakel an. Hunderte von Ostdeutschen strömten über die Grenze. Hupende Trabbis verpesteten
die Berliner Luft. Jubel überall. Die Berichte überschlugen sich: eine weinende Mutter, die ihrer kleinen Tochter zum ersten Mal eine Banane reicht, der berühmte Cellist Rostropowitsch, der ankündigt, dass er am Fuß der gefallenen Mauer ein Solo-Konzert geben würde, und so weiter und so fort …
Vetter Heinz sagte plötzlich: Das sehen wir uns mal an!
Mit Helga bestiegen wir sein Auto und fuhren stadteinwärts. Als wir uns dem Kurfürstendamm näherten, war die Menschenmenge so dicht, dass Heinz sich entschloss, das Auto irgendwo stehen zu lassen und zu Fuß weiter zu gehen. Bald befanden wir uns mitten im Trubel auf dem Kurfürstendamm. Wir umarmten uns mit wildfremden Menschen und fühlten uns einfach glücklich. In einem unachtsamen Augenblick wurden wir jedoch durch den Menschenauflauf auseinander gedrängt. Ich versuchte verzweifelt, meine Verwandten wieder zu finden. Endlich entdeckte ich den blonden Schopf von Helga und wir kamen wieder zusammen. Ich hätte sonst nicht gewusst, wie ich zu meiner Tante hätte zurückkommen können.
Weiter ging es im fröhlichen Korso, und ich hatte das echte Gefühl, Teil eines einmaligen Weltereignisses zu sein.
Und so war es auch. Erst jetzt, 20 Jahre danach, als alle Medien an den Jahrestag des Mauerfalls erinnern, wird mir bewusst, was für einen bedeutungsvollen Augenblick ich damals miterleben durfte.