Meine zweite Revolution
Nach der Revolution von 1930, die ich als sechsjähriger erlebte, herrschte in Argentinien eine relativ ruhige Regierungs-Periode. Allerdings, als der aufständische General Uriburu es versuchte, seine vom Faschismus geprägten Ideen in seine Regierungshandlungen einzubringen, wurde er bald für die konservativen Kreise, die ihn beim Putsch von 1930 begleitet hatten, nicht mehr tragbar.
Bald wurde zu Wahlen aufgerufen und im Februar 1932 bekam Argentinien einen neuen Präsidenten: General Augustin P.Justo. Dieser beendete seine Amtszeit im Februar 1938 unter den Vorwürfen, sich vom britischen Kapital beeinflusst lassen zu haben. Sein Nachfolger, Dr. Roberto Ortiz, wurde des Wahlbetrugs beschuldigt, was zu dieser Zeit eine übliche Praxis war. Deshalb bezeichnete man die Periode der 1930er Jahren in Argentinien auch als das berüchtigte Jahrzehnt
(década infame).
Ortiz unterstützte im Zweiten Weltkrieg die Alliierten, traute sich aber nicht, Deutschland den Krieg zu erklären, da er die Opposition der Armee befürchtete. 1940 erkrankte er stark an Diabetes und musste zu Gunsten des Vizepräsidenten Ramon Castillo abdanken.
In Gegensatz zu seinem Vorgänger sympathisierte der amtierende Präsident Castillo mit dem Dritten Reich und verfolgte innenpolitisch einen eher rechtsgerichteten und autoritären Kurs.
Im internationalen Bereich verhielt er sich jedoch neutral. Das hielt ihn aber nicht davon ab, sich der im Hafen liegenden Schiffe deutscher Herkunft zu bemächtigen. Es handelte sich um die Beschlagnahme mehrerer Frachter und Passagierschiffe mit deutscher, italienischer, französischer und dänischer Flagge, die auf Grund der Gefahren auf den Weltmeeren, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte, den Hafen von Buenos Aires nicht verlassen konnten und höchstwahrscheinlich dort bis Ende des Krieges verweilen mussten.
In den 1940er Jahren hing der Außenhandel Argentiniens exklusiv von der Transportfähigkeit ausländischer Schiffe ab. Jedoch, in den Kriegsjahren bevorzugten diese Schiffe als Fracht hauptsächlich strategische Güter, die der Zulieferung der Alliierten dienten. Der Export argentinischer Produkte und der Import ausländischer Güter blieben dadurch so gut wie paralysiert.
Im September 1941 billigte der Kongress ein Gesetz, dass dieser Beschlagnahme einen legalen Rahmen gab und der amtierende Präsident erließ ein Regierungsdekret zur Gründung der Flota Mercante del Estado (Staatliche Handelsflotte) unter der Leitung des Marine-Ministeriums. Diese Handlung gab Castillo den Ruf als Gründer der Argentinischen Handelsmarine
. Andere positiven Errungenschaften konnte der schon 70-Jährige allerdings nicht für sich verbuchen. Die ansteigende Arbeitslosigkeit, soziale Unruhen, allgemeine Korruption und der andauernde Konflikt zwischen den Militärfraktionen, die jeweils die Alliierten oder die Achsenmächte unterstützten, brachten das Land an den Rand des Chaos.
Also beschlossen einige Generäle, unterstützt von einer Gruppe jüngerer Offizieren der GOU (Grupo deOficiales Unidos unter der Leitung von Oberst Juan Domingo Perón die Regierung zu stürzen, um die Verfassungsrechte zu garantieren.
In den Morgenstunden des 4. Juni1943 setzte sich eine Militärkolonne, angeführt von den Generälen Rawson undRamírez, in Bewegung mit Richtung auf die Hauptstadt, um den Regierungspalast zustürmen.
Den Abend zuvor war ich zu Besuch bei einer deutschen Familie im Stadtviertel Nuñez gewesen, mit dessen Tochter ich zur Zeit befreundet war. In den späten Abendstunden begab ich mich auf den Heimweg. Über leere Straßen gelang ich zur Bushaltestelle an der Avenida del Libertador, direkt gegenüber der Escuela de Mecánica de la Armada (Mechaniker-Schule der Marine). Eine gute halbe Stunde wartete ich auf den Colectivo (Kleinbus), der mich nach Hause fuhr.
Als ich am nächsten Morgen durch den Rundfunk erfuhr, dass wenige Stunden nach meiner Abfahrt, genau an dieser Stelle, eine blutige Schlacht stattgefunden hatte, wurde es mir ganz mulmig zu Mute. Die anrückenden Truppen wurden vor der Mechaniker-Schule von regierungstreuen Marine-Einheiten ins Kreuzfeuer genommen. Viele ahnungslose Zivilisten, die auf dem Weg zur Arbeit waren, kamen dabei ums Leben. Nach einem kurzen Gefecht bahnten sich die Rebellen ihren Weg zum Stadtzentrum, nicht ohne eine Anzahl von Toten, inmitten von Pferdekadavern, zerschossenen Autos und Colectivos auf der Avenida del Libertador hinter sich gelassen zu haben.
Als die Aufständischen endlich an der Plaza de Mayo angekommen waren, konnten sie ohne weiteren Widerstand das Regierungsgebäude besetzen. Präsident Castillo hatte sich bereits abgesetzt und auf einen Marine-Zerstörer auf dem Rio de la Plata geflüchtet. Am selben Abend landete er noch im Hafen von La Plata, wo er sich einer Infanterie-Garnison ergab.
Einer der wichtigsten Anstöße dieses Militärputsches war der große diplomatischer Druck, den die Vereinigten Staaten auf Argentinien ausgeübt hatten, um das Land zu zwingen endlich seine neutrale
Haltung im Zweiten Weltkrieg zu beenden, aber gleichzeitig den starken Einfluss Großbritanniens auf die lokale Wirtschaft zu schwächen. Natürlich, zu Gunsten der USA.
General Rawson ernannte sich als provisorischer Präsident
der Republik und löste das Parlament auf. Knappe drei Tage danach trat er bereits zurück und General Ramirez übernahm die Regierung. Diese provisorische
Präsidentschaft wurde geprägt durch permanente Machtkämpfe zwischen den diversen Anführern. Allerdings hatten fast alle eine katholische und antikommunistische Einstellung, die dazu führte, dass die Kirche wieder eine vorherrschende Position erreichte, hauptsächlich in dem was die Bildung betrifft.
Im Verlauf dieser Periode bildeten die Gewerkschaften und sozialistischen Gruppierungen eine Allianz mit dem amtierenden Minister für Arbeit und Wohlstand, Oberst Perón, aus der später eine mächtige Bewegung entstand — der Peronismus. Gleichzeitig bildete sich aber eine starke Gegenbewegung, meist aus mittleren und höheren Volksgruppen, von den Peronisten spöttisch Oligarchen
genannt.
Zwei getrennte Episoden betonten den Einfluss der europäischen Ereignisse auf die argentinische Politik. Aufgrund inneren und internationalen Drucks fühlte sich General Ramírez zum Abbruch aller diplomatischen Beziehungen zu den AchsenmächtenAchsenmächte: als Achsenmächte bezeichnete man im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkriege das Deutsche Reich und seine wechselnden Bündnispartner, insbesondere Italien und Japan, und damit die Kriegsgegner der Alliierten. (Wikipedia) gezwungen. Dies geschah im Januar 1944. Da er diesen Schritt ohne Wissens seines Kabinetts getroffen hatte, führte es einen Monat danach zu seinem Rücktritt
Sein Nachfolger, General Edelmiro J.Farrel, bewies eine eher faschistische Einstellung, unter der Juan Perón seinen Aufstieg zum späteren Machthaber begann. Es war aber ausgerechnet der nazi- gesinnte Peron - der inzwischen zum Staatssekretär im Kriegsministerium und danach zum Vizepräsident aufgestiegen war - der am 27. März 1945 die Kriegserklärung an die Achsenmächte einleitete. Argentinien wurde dadurch die 52. und letzte Nation, die dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte — wenige Wochen vor der Kapitulation! Wie weit dieses Ereignis meinen Lebenslauf beeinflusste, steht in meiner Erinnerungsgeschichte Kriegsende in der Ferne
In der Politik gilt es eben nicht immer, die eigenen Überzeugungen durchsetzen zu können, sondern meistens, auf Kompromisse eingehen zu müssen.