Bevor ich vergesse, Ihnen zu erzählen …
Die Lehrstellensuche
Es war im Jahr 1951, als mein Vater mit mir unterwegs war, um für mich eine Lehrstelle zu finden. Vorab waren wir bei der Berufsberatung im Arbeitsamt am Besenbinderhof.
Mein Berufswunsch war Architektur und Baukunst. Ich hatte Zeichnungen und gemalte Bilder vom Schulunterricht dabei. Alles sehr schön, aber dieser Zahn wurde mir sofort im Gespräch mit dem Berater gezogen. Voraussetzung für diesen Berufswunsch war Abitur, das hatte ich ja nun gar nicht, lediglich die mittlere Reife. (10. Klasse Gymnasium). Das traf mich sehr, ich wusste aber auch, dass ich das nicht schaffen würde.
Nun gut, eine neue Möglichkeit ergab sich dann in einem weiteren Gespräch, die Innenarchitektur als Teilgebiet der allgemeinen Architektur wie zum Beispiel Wand- und Deckenschmuck, Holztäfelung und Fußböden. Hierfür konnte ich mich sofort begeistern. Die in Frage kommenden Lehrstellen waren in der Regel Polsterer.
Der Berater vom Arbeitsamt nahm sich viel Zeit für uns und empfahl, noch eine weitere Möglichkeit in Betracht zu ziehen für den Fall, dass nicht genügend Lehrstellen vorhanden seien. Wir sprachen auch über Vorlieben bei Schulfächern und kamen auch auf Biologie und Latein. So näherten wir uns einem weiteren Beruf, dem des Drogisten. Das bedurfte allerdings noch einiger Überlegung meinerseits, hörte sich aber gar nicht so verkehrt an. Wir bekamen auch einige Adressen zum Vorstellen bei Polsterern und Drogerien. Wir waren jetzt gut beraten und mit Anlaufstellen ausgestattet.
Zuerst arbeiteten wir die Polsterer ab und ich stellte dabei fest, dass ich überhaupt keine Vorstellung von der zu erwartenden Arbeit hatte. Fast alle Firmen waren in Kellerräumen oder Hinterhöfen ansässig. Es war sehr staubig, wenig Licht zum Teil, und den einen oder anderen Kittel, ob braun oder grau, in dem jemand uns empfing, hätte man ohne Weiteres in die Ecke stellen können, starr vor Schmutz oder Farben. Die meisten dieser kleinen Firmen lagen im Raum Ottensen in Hamburg-Altona, wir selbst wohnten in Hamburg-Othmarschen.
Ich selbst war jetzt sehr sicher, dass das nicht mehr mein bevorzugter Berufswunsch sei, mein Vater mit fast 80 Jahren war doch sehr genervt. Den Spruch: Lehrjahre sind keine Herrenjahre
, musste ich mir noch des Öfteren anhören. Später dann ist er mir selber über die Lippen gekommen. Aber wir hatten ja noch den Drogisten
im Ärmel.
Wir hatten eine Adresse in der Lübecker Straße. Das Haus und die Drogerie im Erdgeschoss waren vom Kriegsgeschehen verschont geblieben. Zur rechten Seite des Ladens und der Häuserfront öffnete sich ein Fußweg zu einem kleinen Platz, der sich bis zum S-Bahnhof Landwehr hinzog.
Wir betraten das Geschäft und ich hielt die Luft an. So ein schöner und gepflegter Laden, bis unter die Decke alles in dunklem Mahagoniholz. Die vielen Standgefäße für Pulver und Kristalle aus braunem Glas mit breiten geschliffenen Stöpseln sowie Flaschen mit kleinen geschliffenen Verschlüssen für alles Flüssige. Daneben große weiße Porzellangefäße, ein wundervoller, beeindruckender Anblick. In alten gediegenen Apotheken hat man heute noch die Möglichkeit, so eine Ausstattung zu sehen.
Alle Gefäße waren mit einheitlichen Etiketten versehen, schwarzer Rand und gotische Schreibschrift. Der Tresen, vor dem wir standen, war in einem Winkel aufgebaut. Zwei Herren standen vor uns und eine Verkäuferin rechts von uns. Alle waren große Menschen und steckten in weißen Kitteln, oben am Hals mit einem Stehbund, wie ihn auch die Apotheker trugen. Hier hielt es mich auch nicht, das war zu viel des Guten, im wahrsten Sinne des Wortes, zu schön, zu edel, zu fein.
Ich denke, mein Vater verzweifelt langsam. Jetzt hatten wir uns für den heutigen Tag noch eine Adresse vorbehalten. Drogerie Baass in der Kleinen Bäckerstraße
. Die lag ganz in der Nähe des Hamburger Rathauses, sie verband die Große Bäckerstraße mit der Schauenburgerstraße und verlief parallel zur Mönckebergstraße. Hier war alles ausgebombt, kein Haus, nichts stand mehr, ein fast unendlich weiter Blick tat sich auf. Aber da, in der Kleinen Bäckerstraße stand eine Holzhütte, schwarz gestrichen, mit weißen Fensterrahmen zur Eingangsseite und mit grünen, hölzernen Fensterläden. Ein großes Schaufenster, zweimal unterteilt, sicherlich aus Kostengründen, darüber der Schriftzug: Drogerie Baass
.
Wir betraten den Laden, innen alles in Holz, in weiß und grau und ein großer Tresen im Winkel mit einer Glasabdeckung. Auch hier wieder die wunderschönen brauen Standgefäße mit den gleichen schönen schwarz-weißen Etiketten. Aus einem abgetrennten Raumteil trat ein Herr im weißen Kittel auf uns zu und fragte nach unserem Begehr. Wir stellten uns vor und erwähnten, dass ich eine Lehrstelle suche und die Adresse von der Berufsberatung bekommen habe. Es stellte sich heraus, dass uns Herr Kosakowski begrüßt hatte. Er war der Mieter oder Pächter der Drogerie, die hier vor der Ausbombung ansässig war.
Ja, das war es, hier könnte ich mir vorstellen, meine Lehre zu beginnen. Und so kam es auch, ich blieb gleich hier. Mein Vater musste allein mit der Bahn nach Hause fahren. Ich glaube, er hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
Im nächsten Augenblick zog mein Chef seinen Kittel aus, zog sein Jackett an und sagte: Ich gehe mal eben fort, bin gleich wieder da.
Ich rief: Und wenn jemand kommt?
Antwort: Jetzt kommt hier keiner.
Ich betrachtete alles in Ruhe und fand alles gut. In dem hinteren abgetrennten Raum mit offenem Durchgang standen ein großer vollgepackter Schreibtisch und ein eiserner Kanonenofen.
Die Flächen auf dem Schreibtisch, die unbedeckt hervorlugten, waren sehr staubig. Ich hielt Umschau nach einem Staubtuch oder ähnlichem und wurde fündig. Ich sah mir die Platte genau an, räumte eine Hälfte ab, reinigte sie, legte alles wieder hin, wie ich es vorgefunden hatte, und verfuhr mit der anderen Hälfte der Schreibtischplatte gleichermaßen. In der ganzen Zeit, die Herr Kosakowski abwesend war, kam tatsächlich kein einziger Kunde.
Am Abend, als wir beide nach Hause gingen und uns vor der Ladentür verabschiedeten, erfuhr ich, dass wir beide den gleichen Weg zum Hauptbahnhof hatten. Herr Kosakowski fuhr allerdings mit dem Vorortzug bis Klecken, ein kleiner Ort hinter Harburg auf der anderen Elbseite. Ich hingegen benötigte nur die S-Bahn bis Othmarschen. Sicherlich war die weite Fahrt für meinen Chef, tagein, tagaus, doch sehr beschwerlich.
An diesem ersten Abend ließ ich mir Zeit und sah mir das Schaufenster an. Sicherlich wurde das bisher immer von großen Markenfirmen mit großen Plakataufstellern mitdekoriert. Ich hoffte, dieses Fenster in der Zukunft einmal selber gestalten zu dürfen. Ich trödelte zum Bahnhof und ließ alles sacken.
In die Berufsschule ging ich nach Hamburg-Altona, Museumsstraße. Nach dem Schulunterricht musste man wieder in die Firma.
Der Lohn eines Lehrlings nannte sich Erziehungsbeihilfe
. Er wurde in bar ausgezahlt und musste unverzüglich zu Hause abgegeben werden. Er betrug im ersten Lehrjahr 45 D-Mark, im zweiten 55 D-Mark und im dritten Lehrjahr 70 D-Mark.
Nachdem ich endlich zu Hause ankam, war meine Mutter aus ihrer Firma auch bereits eingetroffen. Mein Vater hatte einiges von unseren Erlebnissen erzählt, und nach den euphorischen Erzählungen aus meinem Munde über meine neue Lehrstelle war meine Mutter wohl ganz angetan von der Vorstellung, der Junge sei einigermaßen vernünftig untergebracht.
Die erste Zeit war spannend, interessant, aufregend, immer Neues stürzte auf mich ein. Der kleine Laden hatte tatsächlich zu tun. Das galt auch für mich, neue Aufgaben und Tätigkeiten waren zu erledigen. Lernen, was wofür gebraucht wird, womit was gemacht wird und warum.
Ich hatte schon vieles gelernt, auch schon des Öfteren die Möglichkeit gehabt, das Fenster zu dekorieren, Fenster zu putzen, vor der Tür die Straße zu fegen. Ebenso die Etiketten der am häufigsten benutzen Standgefäße zu erneuern und zu beschriften. Diese Aufgabe hatte eine ganz besondere Übung. Wir wollten versuchen, für Berufskollegen meines Chefs Jubiläumsurkunden zu erstellen. Diese Urkunden wurden auf ganz feinem Schweinsleder oder Lederimitat, wie zum Beispiel feinem Pergament, mit verschiedenen Schreibfederköpfen und Federhaltern geschrieben. Dazu benutzte man Scriptol in diversen Farbtönen, in der Regel schwarz, rot oder Gold. Das fertige Schriftstück wurde dann mit Wachs versiegelt, aufgerollt in eine Hülle geschoben und nannte sich dann eine Bulle
Eine Bulle, von lateinisch bulla Blase
, ist ein Dekret eines Papstes oder eine Urkunde des Mittelalters mit einer Bulle als Siegel. Durch häufiges Schreiben der Flaschenetiketten und den Einsatz der verschiedenen Schreibfedern wurde ich sicherer, und eines Tages trauten wir uns so ein Schriftstück zu. Herr Kosakowski hat damit große Freude bereitet.
Nach etwas mehr als einem Jahr zogen wir mit der Firma um. Wir zogen nach Hamburg-Sasel in die Nähe des Saseler Marktes. Dort waren drei Ladenlokale in einem dreigiebeligen gelben Haus untergebracht, eine Post, ein Kürschnermeister mit Verkauf und wir, die Post-Drogerie
. Diese Dreiergruppe war sehr schön anzusehen und hat auch heute noch Bestand. Ein Blick zu unserem Nachbarn, dem Kürschner, war interessant, wie Leder und Pelze bearbeitet und verarbeitet wurden. Das hätte mir auch gefallen, aber ich hatte ja nun meinen Job.
In unserer neuen Firma hatten wir gut zu tun. Vor dem Geschäft war reichlich Betrieb, mein drittes Lehrjahr neigte sich langsam dem Ende entgegen. Nach der dreijährigen Lehre legte ich eine Gehilfenprüfung und Giftprüfung ab und war jetzt Drogerie-Gehilfe.
Wenn ich heute mit bald neunzig Jahren zurückblicke, hat alles, was ich in der Lehre gelernt habe, großen Einfluss auf mein weiteres Leben gehabt. Die Dekoration, die Schrift, das Latein, Botanik, die Farben, die Gifte und so weiter, und so weiter. Es war sehr umfangreich und in allem, was ich im Berufsalltag angefasst habe, konnte ich davon Gebrauch machen.
An meinem achtzigsten Geburtstag habe ich mich dann aus dem Berufsleben zurückgezogen und war nicht einen Tag arbeitslos gewesen.