Evakuierung und Kriegsende
Im Juli 1943 wurden wir aus Berlin evakuiert. Die Luftangriffe wurden von dieser Zeit an immer heftiger. Bis dahin hatten wir viele Nächte in den Luftschutzkellern verbringen müssen, denn die alliierten Bomber kamen meist in den Nachstunden. Wenn die Sirenen heulten, mussten wir schnellstens nach unten und auch wir Kinder trugen dann kleine Koffer mit Habseligkeiten hinab. Wir wohnten im vierten Stock. Und weil bei Alarm alles sehr schnell gehen musste, schliefen wir Kinder meist voll angezogen. Irgendwann kam die Aufforderung zur Evakuierung.
In dem kleinen Dorf Muschten im Kreis Züllichau-Schwiebus, östlich von Frankfurt/Oder etwa 160 km von Berlin entfernt, wohnten Verwandte unserer Großmutter, die uns aufnahmen. In deren Haus gab es unter dem Spitzdach ein etwas größeres Zimmer, das dann für die nächste Zeit unser Zuhause wurde.
Im Sommer 1944 kamen bereits die ersten Flüchtlingstrecks aus dem Osten, die bei ihrer Durchreise z.T. in der Dorfschule untergebracht wurden, weshalb auch kein Unterricht mehr stattfand. Das war natürlich das Schönste, was uns Kindern passieren konnte und wir nutzten das auch weidlich aus.
Die Zeit verging und Ende 1944 / Anfang 1945 wurde es für uns auch schon wieder recht brenzlig. Wieder saßen wir auf gepackten Koffern und hörten die Frontnachrichten. Dann kamen deutsche Militärfahrzeuge und über Lautsprecherwagen wurden wir aufgefordert, den Ort schnellstens zu verlassen. Wir sollten am 15. Januar 1945 nachmittags abtransportiert werden. Dazu kam es aber nicht mehr. Um 10:10 Uhr schoss ein russischer Panzer auf die Turmuhr der Kirche, die mitten im Dorf stand. Dann hörten wir Panzerketten und glaubten immer noch, dass es deutsche Panzer sein würden. Aber wir wurden bitter enttäuscht.
Die russischen Panzerspitzen überrannten das Dorf und die ganze Gegend wie im Fluge. Später kamen dann die regulären russischen Truppen und benutzen unser Dorf als Etappe.
Wir waren lange Zeit von jeglicher Kommunikation abgeschnitten und wussten nicht, was sich an der Front abspielte. Nur einmal fanden wir Flugblätter, auf denen stand, dass wir aushalten sollten, wir würden bald wieder befreit. So erfuhren wir auch, dass die russische Front an der Oder zu stehen kam, weil das Oderbruch überschwemmt wurde. Aus der Ferne hörten wir bisweilen noch Kanonendonner, aber wir konnten das damals natürlich nicht bewerten. So vergingen etliche Monate, in denen wir auf das Ungewisse warteten. Für uns war der Krieg ja längst vorbei.
Mitte Juni 1945 übernahmen dann die Polen die Verwaltung dieser Gebiete. Grimmig dreinblickende polnische Soldaten mit viereckigen Schirmmützen und gehalfterten Maschinenpistolen marschierten in den Ort ein. An diesem Tage mussten die Deutschen um Punkt 12:00 Uhr ihre Häuser verlassen. Sie hatten nur zwei Stunden Zeit, das Nötigste einzupacken und sich dann an einer zuvor bestimmten Stelle einzufinden.
Wir ergatterten einen leichten Handwagen, auf dem wir unsere wichtigsten Sachen unterbringen konnten. Die kleine Schwester kam oben drauf und um 12:00 Uhr setzte sich der Teck nach Schwiebus in Bewegung. Von dort sollten wir dann mit der Eisenbahn in Richtung Berlin gebracht werden.
Nach einem Fußmarsch von knapp 10 Kilometern kamen wir bei strahlendem Sonnenschein auf dem Güterbahnhof in Schwiebus an. Dort wurden wir zu einem Güterzug geleitet
, der nur aus offenen Loren bestand. Auf einem der Wagen richteten wir uns in einer Ecke so ein, dass wir beim Anfahren nicht runterfallen konnten, d.h. wir verzurrten den Handwagen mit Strippen an den Seitenwänden der Lore, so gut wir es eben konnten. Wann es losgehen sollte, wusste niemand, aber es ahnte auch keiner, dass die Fahrt zurück nach Berlin ein Horrortrip werden sollte, der über eine Woche dauerte.
Am Tag darauf hatte meine kleine Schwester Geburtstag; es war ihr sechster, aber nach Feiern war uns nicht zu Mute. Schon in den Vormittagsstunden fing es an zu regnen. Und es regnete dann noch mehrere Tage lang. Wir Kinder saßen auf der Lore unter einer Decke und waren halbwegs geschützt. Unsere Mutter aber wurde durch die Regenschauer mehrmals völlig durchnässt. Sie hatte natürlich auch keine Möglichkeit, sich ständig umzuziehen und Wechselwäsche hatte sie mit Sicherheit nicht genügend mitgenommen. Offenbar hatte sie sich dann doch ziemlich stark erkältet, aber bis auf ihr ständiges Hüsteln lies sie sich nichts anmerkten.
In Reppen, einer Kleinstadt östlich von Frankfurt/Oder, organisierte ich bei einem längeren Halt mit viel Glück einen stabileren Handwagen, auf den wir unsere Habseligkeiten umluden, der alte hatte seinen Geist aufgegeben.
Irgendwann Anfang Juli 1945 kamen wir dann doch noch in Berlin an.
Die Straßen waren meist schon frei geräumt, aber es gab nur ganz wenige Stellen, an denen man Menschen begegnete. So liefen wir vom Schlesischen Bahnhof mit unserem Bollerwagen durch das zerstörte Berlin. Als wir in unsere Straße
einbogen, konnte man schon von weitem unser Haus sehen und den Balkon, auf dem immer noch die alte Blechtonne stand, in der wir vor Jahren unser Kaninchen großgezogen hatten. Aber die Häuser, an denen wir vorbei kamen, waren alle ausgebrannt. Durch die gähnend leeren Fensterhöhlen sah man die Schuttberge im Innern der Ruinen. Da ahnten wir schon das Schreckliche. Fassungslos blieb unsere Mutter vor der Ruine stehen, die einmal unser Haus
war und starrte minutenlang nach oben. Was wirklich ihn ihr vorging, haben wir nie erfahren, aber sie muss unendlich traurig gewesen sein.
In derselben Straße auf der anderen Seite, etwa 100 m von unserem Haus entfernt, wohnten die Großeltern. Diese Häuserzeile war heil geblieben. Die Portierfrau, die zufälligerweise vor der Tür stand und uns natürlich von früher kannte, kümmerte sich sofort um uns und sagte den Großeltern Bescheid. Wir wurden zunächst in dem alten Luftschutzkeller eingewiesen, wo wir die ersten Tage nach unserer Ankunft auch schliefen. Zu der Zeit, zwei Monate nach Kriegsende funktionierte der Behördenapparat tatsächlich auch schon wieder und man sorgte dafür, dass wir in diesem Haus, in einer ungenutzen Wohnung erst einmal provisorisch einziehen konnten.
Wir waren nun ausgebombt und zunächst obdachlos, aber die Evakuierung hatte uns davor bewahrt, das Bitterste mit eigenen Augen anzuschauen und vielleicht auch davor, selbst zu Schaden zu kommen.