Die Lodenjacke
Zum 1. April 1949 wurde ich in unserem Dorf Witzeeze eingeschult. Auch eine Schultüte erhielt ich mit einer Schiefertafel (diese passte aber nicht in die relativ kleine Tüte), den dazugehörigen Schwamm, Griffel sowie andere Gebrauchsgegenstände und einige Süßigkeiten. Diese nahmen allerdings erstaunlich schnell ab. Mein großer Bruder erzählte mir dann Jahre später, dass er sich gerne daran bedient hatte, schließlich habe er bei seiner Einschulung zwei Jahre zuvor noch keine Süßigkeiten erhalten.
Die Dorfschule hatte einen Klassenraum, und die erste bis vierte sowie die fünfte bis neunte Klasse wurden gemeinsam unterrichtet. Dieser Unterricht wurde schichtweise durchgeführt, die ersten vier Klassen bildeten die erste Schicht
.
Im Herbst trat eine Besserung ein, da ein zweiter Unterrichtsraum geschaffen wurde. Die Schichten entfielen, die Klassenzusammenfassung blieb aber erhalten.
Zu den Pausen wollte jeder zuerst auf dem Schulhof sein, da dort ein großer Birnbaum stand. Jeder hoffte, einige von den gut schmeckenden Birnen zu ergattern, die auf den Boden gefallen waren. Vorsicht war aber angesagt, da die Wespen ebenfalls diese Früchte liebten. Ab und zu gab es daher einen Stich in die Hand eines Schulkindes.
Viel wichtiger als die Birnen war allerdings die Schulspeisung zur Mittagszeit. Teller wurden in der Schule gestellt, Bestecke musste jedes Kind selbst mitbringen.
Unsere Mutter stellte sich selbstlos
zur Verfügung, um beim Austeilen des Essens - meistens gab es Suppe - zu helfen. Wenn eines ihrer Kinder den Teller hinhielt, wurde aus der Tiefe des großen Topfes die dickere Speise hoch gerührt, was bei den anderen Kindern nicht geschah. Unsere Teller wurden immer ein wenig mehr befüllt, aber nicht zu viel, damit es nicht auffiel. Beim Erhalt des Essens haben wir uns selbstverständlich immer bedankt, durften nach Vorgabe unserer Mutter aber nur Danke
sagen, niemals mit dem Zusatz Mutti
. Hieran haben wir uns auch stets gehalten, ja, ich schaute meine Mutter beim Danken meistens auch gar nicht an. So selbstlos war das Helfen unserer Mutter natürlich nicht, denn sie hatte dadurch auch die Möglichkeit, selbst eine Mahlzeit pro Tag kostenfrei zu erhalten. Jeder musste eben schauen, wie er in dieser Nachkriegszeit irgendwie über die Runden kam.
Der Winter nahte langsam, so dass wärmende Kleidung beschafft werden musste. Für eine Flüchtlingsfamilie mit drei Kindern war dieses nicht einfach. Hier half eine Kleiderspende, aus der ich einen graugrünen Lodenmantel erhielt. Da dieses Bekleidungsstück für mich viel zu groß war, schnitt meine Mutter es kurzerhand bis auf Gesäßhöhe ab. Danach wurde der Rand der nun entstandenen Jacke doppelt umgenäht, wodurch ein dicker Wulst entstand. Der dazugehörende Gürtel kaschierte dieses nicht, aber durch diesen konnte die zu weite Jacke in der Taille ein wenig gerafft werden.
Als der Winter einzog, mussten die Klassenräume natürlich beheizt werden, allerdings gab es für die Schule kein Heizmaterial. Daher musste jedes Kind täglich ein in Papier eingewickeltes Brikett zur Schule mitbringen. Hiervon war ich aber befreit, da mein Bruder dieses erledigte, denn pro Familie galt dieses nur einmal.
Im Vorraum der beiden Klassenräume stand ein Kanonenofen, der kräftig beheizt wurde. Damit die Wärme auch in die Räume gelangen konnte, blieben die Türen auch während des Unterrichts offen.
Trotzdem waren die Klassenzimmer kalt, so dass im Unterricht Jacken und auch Handschuhe anbehalten wurden, auch die auf dem Weg zur Schule gefrorenen Schwämme tauten nur langsam auf. Nur zum Schreiben mit dem Griffel machte ich meine rechte Hand frei.
Zu den Pausen eilten alle Kinder in den Vorraum, um sich aufzuwärmen. Die Ofentür war immer geöffnet, damit noch mehr Wärme austreten konnte. Meistens standen die Kleinen vorne, wenn sie nicht von den größeren Kindern daran gehindert wurden. In einer Pause stand ich an vorderster Stelle und wurde von nachrückenden Schülern bis kurz vor den Ofen geschoben. Es entströmte der Türöffnung eine enorme Hitze, so dass ich durch Hin- und Herdrehen des Kopfes versuchte, dieser ein wenig auszuweichen.
Nach kurzer Zeit wurde gesagt, dass hier irgend etwas brenne. Meinen schönen wärmenden Platz wollte ich nicht aufgeben und achtete nicht hierauf. Nun wurde ich direkt angesprochen und bemerkte gleichzeitig, dass meine Jacke im linken Brustbereich qualmte und einen hässlichen Fleck erhalten hatte.
Meiner Mutter durfte ich dann zu Hause erklären, wie es zu diesem Dilemma kommen konnte, musste mir dann aber auch einige Vorhaltungen anhören.
Mit der kurz danach folgenden nächsten Kleiderspende erhielt ich eine andere Winterjacke, die mit wenigen Änderungen passend für mich gemacht wurde.
So nahm ich dann Abschied von meiner verunzierten, aber auch nie gerne getragenen Lodenjacke.