Ostalgie
Im Jahre 1975 besuchten wir meine Schwester in West-Berlin und reisten mit unseren beiden Söhnen in unserem betagten VW-Käfer an.
Von dort fuhren wir zu einem Tagesbesuch nach Ost-Berlin, in die vielgepriesene Hauptstadt der damaligen DDR. Vorher wurde selbstverständlich der Zwangsumtausch durchgeführt, ohne den eine Einreise verweigert wurde. Seit dem Jahr 1974 galt ein verminderter Satz von 6,50 D-Mark pro erwachsene Person, Kinder bis sechzehn Jahre sowie Rentner waren ausgenommen. Davor wurde für alle Personen generell zehn D-Mark verlangt. Für die Einreise in die übrige DDR galt es aber immer, einen höheren Betrag zu entrichten. Später wurden die Gebühren sogar auf 25 D-Mark angehoben!
Beim Passieren der Grenze wurden wir nach dem Ziel unserer Reise gefragt. Die Antwort lautete, gemäß unserem Sprachgebrauch: Ost-Berlin
. Sie wollen wohl nach Berlin einreisen, in die Hauptstadt der DDR
, wurde ich angeblafft. Ja
, meinte ich kleinlaut. Dann sagen Sie es doch auch
. Danach durften wir - eingeschüchtert - einreisen.
Mein Onkel Bruno, der Bruder meines nie gekannten Vaters, der im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, wohnte dort mit Tante Irmgard, seiner Frau, einer herzlichen und von Geburt rheinischen Frohnatur. Nicht weit entfernt wohnte deren Sohn, mein bislang unbekannter Cousin mit seiner Familie.
Meine liebe Tante erwartete uns schon voller Ungeduld. Sie bat uns allerdings, leise im Hausflur zu sein, um nicht bei den Nachbarn aufzufallen, denn sie agierte damals als sogenannte Hauswartin in ihrem Wohnblock. Jeder Besucher wurde in ein Hausbuch eingetragen, es wurde vermerkt, woher er kam, wie lange und aus welchen Gründen er blieb, und sie nahm sich das Privileg heraus, unseren Besuch sozusagen zu unterschlagen
. Sie führte uns nun ihre Wohnung vor, und ich erinnere mich noch gut daran, dass auf den Schränken leere Flaschen und Kartons gehortet wurden, in denen sich ehemals westdeutsche Produkte befanden. Eine Sammel-Leidenschaft, über die wir nachdenken mussten.
Voller Stolz erklärte sie uns, dass ihr Wohnzimmer gerade neu tapeziert worden war, und wir ermahnten unsere Kinder, nur nichts anzufassen, damit alles sauber blieb. Es war in der damaligen DDR nicht einfach, neue Tapeten zu kaufen. Für alles und jedes brauchte man Zeit und Geld, aber vor allem viel Geduld und noch mehr Beziehungen.
Der kleine Sohn meines Cousins, gerade einmal sechs Jahre alt, zeigte uns mit Begeisterung sein blaues Halstuch der Jungen Pioniere, aber wir und unsere Kinder, damals vier- und siebenjährig, schauten verständnislos drein.
Nun lud Tante Irmgard zum Empfangskaffee, und die Kinder bekamen ein Glas DDR-Brause. In unserer Tasse blieb der Löffel fast senkrecht stehen, so stark war der Kaffee gekocht worden. Meine Tante hatte es gut gemeint mit den Westdeutschen und wollte sich nicht blamieren, so meinte sie. Sie hatte für teures Geld den Kaffee in einem der sogenannten Exquisit-Läden gekauft und wollte nun eine besonders gute Gastgeberin sein.
Es wurden Erinnerungen ausgetauscht und auch politische Meinungen, aber so richtig konnten wir nicht zueinander finden. Schließlich bat unsere Tante zum Mittagessen. Sie hatte eine wunderbare Erbsensuppe vorbereitet. Wir ermahnten unsere Kinder nochmals, vorsichtig mit allem Inventar umzugehen, aber die Situation war so verkrampft, dass unser älterer Sohn beim Anfassen des Löffels genau auf ihn schlug, und die Erbensuppe, die sich bereits in der Löffelmulde befand, landete natürlich genau hinter ihm auf der frischen Tapete. Es war uns unendlich peinlich, aber passiert war nun passiert. Ich weiß bis heute nicht, wie der Fleck wieder entfernt worden war.
Nachmittags zogen wir in den Ostberliner Zoo zur Entspannung und auch zur Freude der Kinder. Anschließend gingen wir zum Brandenburger Tor, natürlich war es weiträumig abgesperrt. Ein Hindurchgehen war nicht möglich, wie ich es im Jahr 1959 noch machen konnte, als ich mit einer Jugendgruppe meinen ersten Berlinbesuch erlebte.
Nach seiner Arbeit erschien mein Cousin und begrüßte uns nett wie alte Bekannte. Ich wollte noch etwas aus dem Auto holen, und er kam gerne mit. Das relativ alte Vehikel wurde bestaunt, denn rein äußerlich sah es noch recht gepflegt aus. Ich erklärte, dass ich mir demnächst ein anderes gebrauchtes Fahrzeug vom Markt holen würde und den VW entsorgen müsste, da der TÜV etwas gegen die weitere Verwendung des Autos im Straßenverkehr haben dürfte. Dieses sollte aber nicht unbedingt in Hamburg sein, weil dort die Preise höher seien als in einiger Entfernung zur Metropole. Ich würde z.B. nach Bad Bramstedt fahren, gut 20 Kilometer nördlich von uns. Sollte ich dort kein Glück haben, würde ich eben zum nächsten Händler weiterfahren.
Mein Cousin runzelte die Stirn und erklärte, er halte mich für einen Aufschneider, denn ich wolle ihm doch wohl nicht weismachen, dass ich von Ort zu Ort fahre, um mir ein passendes Fahrzeug zu suchen.
Ich musste nun erkennen, dass ein derartiger Deal in der DDR unmöglich war, denn dort musste für einen neuen Pkw eine Wartezeit von ca. zehn Jahren veranschlagt werden, und einen Markt für gebrauchte Pkws gab es so gut wie gar nicht. Welten trennten uns in diesem Moment.
Relativ früh verließ uns mein Cousin, er musste zu einer SED-Parteiveranstaltung. Meine Tante bat mich, falls ich ihm eine Karte oder aber einen Brief schicken sollte, dieses nur über ihre Anschrift vorzunehmen, da er keinen Westkontakt haben durfte. Den Bruder meines Vaters habe ich leider nicht wieder gesehen, er verstarb kurz nach unserem Besuch.
Auf die Uhr musste ich schauen, damit wir nicht zu spät die DDR verließen, denn bis 24 Uhr mussten wir das Territorium verlassen haben. Unsere Kinder waren schon sehr müde, und unser jüngerer Sohn hatte die Angewohnheit, sich im Auto auf den Boden zu hocken und den Kopf auf die hintere Sitzbank zum Schlafen zu legen, Gurte gab es damals nur für die Vordersitze. So kamen wir schließlich an der Grenze an. Die unvermeidbare Kontrolle stand an, und es wurde verlangt, die Sitzbank anzuheben. Ich appellierte an die Gefühle eines ostzonalen Vaters, der sich vielleicht vorstellen konnte, wie Kinder reagieren, wenn man sie aus tiefstem Schlaf aufwecken würde. Nach einem kurzen Blick in die Runde, ob eventuell ein anderer Grenzposten sein nicht ganz korrektes Kontrollverhalten beobachten könnte, durften wir passieren. Wir brauchten die Sitzbank somit nicht anzuheben, auch mussten weder die Kinder noch wir aus dem Fahrzeug aussteigen. Es klappte also in kleinen Dingen mit der Menschlichkeit.
Nun, im Mai des Jahres 2012, haben wir unsere liebe Freundin in Oschersleben/Sachsen Anhalt besucht. Sie machte uns aufmerksam auf eine interessante Ausstellung Ostalgie
, und wir waren sehr gespannt, was auf uns zukommen würde. Uns erwartete DDR pur. Auf einem großen Gelände konnten wir Militärfahrzeuge aller Art aus damaliger Zeit besichtigen, die Autos der Volkspolizei, Kioske mit Zeitungen, Zeitschriften, Postkarten, Plakate und Briefmarken, und mittendrin saß eine Plastik-Dame, die uns streng mit typischem Blick entgegenschaute. Eine original eingerichtete Kantine aus DDR-Zeit, auch mit Erich Honecker-Foto an der Wand, in der Anfang Mai das Fest der Werktätigen
im Ernst-Thälmann-Haus stattfinden sollte, zusammengestellt, als hätte es nie eine andere Zeit gegeben.
In einer liebevoll zusammengetragenen Sammlung gab es sämtliche Markennamen, Lebensmittelverpackungen, Getränkeflaschen und Dosen der damaligen DDR zu begutachten. Beliebte Spielsachen aus ferner Zeit und natürlich das bekannte Sandmännchen aus dem Fernsehen standen in Reih und Glied.
Die Erbsensuppe aus der Gulaschkanone zur Stärkung schmeckte wirklich gut, und auch an den Halberstädter Würstchen, die schon damals schmackhaft und berühmt waren, hatten wir nichts auszusetzen. Für die DDR-Bürger waren diese Würstchen allerdings damals Mangelware, da sie zur Devisenbeschaffung in den Westen exportiert wurden. Das zur Erbsensuppe gereichte Aluminiumbesteck aus damaligen Armee-Beständen fanden wir nicht so passend in unserer heutigen, modernen Zeit, und meine Frau gruselte sich ein wenig davor.
Auf einem Tisch lag ein Gästebuch, in dem sich die diversen Besucher der Ausstellung schon fleißig verewigt hatten mit Kommentaren wie Was für eine schöne Ausstellung, macht weiter so
oder So intensiv habe ich die DDR noch nie auf einen Blick gesehen
und sogar die Bemerkung Es war doch nicht alles so schlecht damals
fehlten nicht. Wir haben in dieses Buch nicht hinein geschrieben, denn es hatte uns doch etwas irritiert, dass mehr als 20 Jahre nach dem Mauerfall wieder eine gewisse Euphorie zu spüren war und Dinge gutgeheißen wurden, die das Volk doch damals unbedingt verändern wollte.