Nachkriegsjahre 1945-1948
Nach Kriegsende begann ein Überlebenskampf, um nicht zu verhungern oder zu erfrieren. Von dieser Zeit möchte ich berichten.
Unser Vater war in Kriegsgefangenschaft und unsere Mutter konnte uns nicht bei Anschaffungen, die zum Überleben halfen, unterstützen, denn sie war sehr ängstlich und hatte immer Bedenken. Sie ging auch nie zu einer Ausgabestelle für Care-Pakete. Bestimmt hätte sie etwas bekommen, da unser Vater damals als in Russland vermisst gegolten hatte.
Also haben mein Bruder Werner und ich dafür gesorgt, dass wir einigermaßen überleben konnten. Heute ist es kaum zu verstehen, was wir alles unternahmen. Um Kartoffeln zu besorgen, bin ich mit einem Lehrkollegen von Hamburg mit der Bahn, auf dem Trittbrett stehend, bis nach Uelzen gefahren. Dann machten wir uns auf, die Bauern in der Gegend abzuklappern, um etwas Essbares zu bekommen. Etwas zum Eintauschen musste man dabei haben, ohne Tauschware bekam man nichts.
Wir waren die letzten einer langen Schlange von Menschen, die auf der Landstraße gingen. Da geschah ein Wunder, ein Bauer des ersten Dorfes, das wir erreichten sprach uns an: Jungs, ich habe heute Geburtstag und habe mir gesagt, die letzten, die des Weges kommen, bekommen etwas von mir.
Wir, überglücklich, bekamen so viele Kartoffeln, wie wir tragen konnten. Außerdem gab der Bauer uns noch ein Stück Speck sowie Saubohnen, nahm uns dann aber auch unsere Tauschware ab. Nun, wir aber schnell zum Bahnhof Uelzen, und dann geschah noch ein Wunder. Der Lokführer eines Kohlenzuges nahm uns auf einem Waggon voll Kohlen mit nach Hamburg.
In Harburg angekommen, wurde der Zug von der Bahnpolizei angehalten. Wir mussten uns auf dem Bahnsteig in einer Schlange anstellen, denn es waren noch sehr viele andere Leute vom Kohlenzug mit dabei. Unsere Waren hätten wir wie alle bei der Polizei abgeben müssen. Wir waren aber noch nicht dran, um gefilzt zu werden.
An dem zweiten Gleis stand ein S-Bahnzug, der nach Hamburg Hauptbahnhof fuhr. Ein Fahrgast der S-Bahn winkte uns, wir sollen über die Gleise kommen. Wir beide mit den Kartoffeln runter und rüber zum anderen Bahnsteig, dort half uns der Fahrgast, dass wir von der Gleisseite in den Zug kamen. Im Hauptbahnhof angekommen, mussten wir doch noch durch die Bahnsteigsperre, wir hatten aber keinen Fahrschein, weil wir ja mit dem Kohlenzug kamen. Auch hier hatten wir Glück, der Beamte ließ uns laufen.
Jetzt rein in die Straßenbahn der Linie 35 zum Goldbeckplatz. Dort angekommen, wartete wieder eine Kontrolle der Polizei, alle mussten aussteigen und ihre Hamsterware abgeben.
Wir beide haben unsere Säcke mit den Kartoffeln in der Straßenbahn auf dem Perron ausgeschüttet und uns unwissend gestellt, wem diese gehörten. Die Beamten haben die losen Kartoffeln nicht angefasst. Nach der Polizeikontrolle
haben wir die Kartoffeln wieder eingesammelt und ab nach Hause. Das kann man doch kaum glauben, aber so war es.
Mein Bruder Werner ist öfter ins Alte Land gefahren, um Obst zu ergattern. Da passierte es einmal, dass er nicht rechtzeitig zur Rückfahrt zum Bahnhof kam. Da hat er sich in einer Obstplantage zum Übernachten schlafen gelegt. Wir machten uns große Sorgen was passiert sein könnte. Werner war doch erst 15 Jahre alt und ein Handy, um ihn anzurufen, gab es damals nicht.
Ich bin einmal mit dem Fahrrad nach Vierlanden gefahren und habe einen Spankorb voller Tomaten bekommen. Bei der Rückfahrt kontrollierten die Engländer an der Süderelbbrücke alle Passanten auf mitgebrachte Waren. Daraufhin habe ich mich vor der Kontrolle in den Straßengraben gesetzt und so viele Tomaten verzehrt, wie hinein passten, den Rest habe ich verschenkt.
Es musste aber auch Brennstoff beschafft werden, da hatte es sich bewährt, einen Kohlenzug von der Güterumgebungsbahn, der von Lokstedt über Alsterdorf nach Barmbek fuhr, zum Stillstand zu bringen. Diese Arbeit gelang älteren Personen dadurch, dass sie die Bremsschläuche zwischen den Waggons trennten. Das war aber nur möglich, weil der Zug in Alsterdorf langsam fahren musste, denn dort ging es bergauf. Nun alle rauf auf die Waggons und Kohlen runter, einsacken und weg. Denn es dauerte nicht lange und die Polizei tauchte auf. Mein Bruder hatte einmal das Pech, dass in Rothenburgsort beim Lokschoppen Polen auf die Menschen geschossen haben, als die Leute versuchten, Kohlen zu bekommen. Werner hatte Glück, kam nicht zu Schaden, aber Kohlen brachte er auch nicht mit.
Mir erging es auch einmal nicht besser, auch ich kam einmal ohne Kohlen nach Hause. Nachdem ich auf einen Waggon geklettert war und meinen Sack gefüllt hatte, erwischte mich ein Bahnpolizist mit seinem Hund. Dieser schmiss sich gegen meine Beine, und ich fiel auf den vereisten Boden. Nun forderte der Polizist mich auf, den Sack mit Kohlen wieder auf den Waggon zu bringen, danach war ich aber fertig und zog bedeppert ohne Kohlen ab.
Auch Abholzen war gang und gäbe. Beliebt waren für uns die Bäume am Alsterkanal, da wir in Alsterdorf wohnten. Da Werner und ich das nicht alleine konnten, kam unser Nachbar mit zum Sägen. Nun gibt es etwas zum Staunen: Unser Nachbar war Polizist, und wenn er nicht im Dienst war, wagte er auch mitzumachen, denn auch er fror. Zu erwähnen ist auch dass bei uns im Schuppen ein Zündapp-Motorrad von einem gefallenen Onkel stand. Unsere Mutter bekam ein Angebot, dieses Motorrad gegen einen halben Ochsen einzutauschen, darauf ist sie eingegangen und unsere Oma, die Mutter unseres Onkels, verteilte das Fleisch gerecht an alle Familienangehörigen.
Ein Nachbar organisierte eine Fahrt mit einem Holzofen-LKW zum offiziellen Holzeinschlagen im Sachsenwald. Einen Teil des Holzes durfte man mitnehmen. Beim Pausenessen gab es Bratkartoffeln und Heringe in Fischöl gebraten, mitgebracht vom Nachbarn. Dieser fuhr auf einem Fischkutter, daher das Fischöl. Im Wald musste man die Heringe nun kalt essen. Obwohl ich Hunger hatte, hat mich das so geekelt, dass ich das sehr schwer essen konnte, jahrelang konnte ich dann keinen Hering mehr essen.
Als Feinmechanikerlehrlinge (etwa zehn Männekens) durften wir von der Firma aus mit einem Kühllaster in den Segeberger Forst fahren, um Baumstümpfe zu roden. Die Engländer hatten die Bäume vorab abgesägt, und wir haben die Stümpfe unter großer Mühe ausgraben dürfen, denn wir waren alle sehr schmächtig für eine so schwere Arbeit. Wir waren hinterher fix und fertig. Aber der LKW war voll, und wir waren stolz.
Zurück in der Firma haben wir die Stümpfe auf dem Fabrikgelände mit selbstgemachten Keilen zerteilt. Dieses zerkleinerte Holz wurde dann in einem Kanonen-Ofen in der Werkhalle verbrannt.