Auf der Flucht
Aus Angst vor den Bomberangriffen hatten meine Mutter, meine größere Schwester Vera und ich 1944 Berlin verlassen, um bei einer Tante in Schlesien einzuziehen. Eine Zeit lang ging das gut. Aber bald mussten wir uns von dieser Tante verabschieden. Das Zusammenleben mit uns war für sie zu strapaziös.
Meine Mutter hatte Kontakt mit ihrem Bruder Alfred aufgenommen. Also zogen wir weiter nach Thorn an der Weichsel, in Westpreußen. Dort wohnte mein Onkel, Major der Artillerie, in einer Villa in der Obentrautstraße. Auf einer Anhöhe gelegen und mit Hinterhaus und Hof für Kleinvieh ausgestattet, einfach groß und ideal.
Die Großfamilie bestand aus Onkel Alfred, Tante Dora und ihrer Schwester Tante Tilly, sowie den Söhnen Dieter, Ralf, Christian und Klaus. Wie die Orgelpfeifen: Dieter der mit Abstand Älteste, ich dazwischen und Klaus der Jüngste. Die älteren Jungs interessierten sich mehr für meine Schwester. Während die Großfamilie im feudalen Vorderhaus wohnten, durften meine Mutter, meine Schwester und ich im Hinterhaus wohnen und hatten einen separaten Dienstboteneingang.
Im Haus gab es eine Ordnung für alle: Wenn mein Onkel vom Dienst nach Hause kam — vorgefahren in einer Kalesche — betrat er in Uniform den Empfangsraum. Ihm gegenüber standen seine Söhne Spalier und wir am Ende der Kolonne. Langsam zog er sich die Glacéhandschuhe aus und warf sie auf einen Teller, den ein Dienstmädchen bereithielt. Dann grüßte er militärisch und seine Söhne antworteten mit Heil Hitler
. Meine Schwester und ich sagten: Guten Tag, Onkel Alfred
. Fortan wurden wir von der Zeremonie ausgeschlossen.
ThornThorn, deutscher Name von Toruń, Stadt in der Woiwodschaft Kujawien-Pommern, Polen, die Stadt des Kopernikus, ist wunderschön, alt und gediegen. Die Spaziergänge an der Weichsel sind mir in der Erinnerung geblieben. In der Schule waren wir mit sogenannten Eingedeutschten
zusammen. Das waren Polen, die zum deutschen Glauben
übergetreten sind. Der Unterricht war nicht überwältigend und doch passierte eines Tages etwas Außergewöhnliches. Ein Eingedeutschter hatte ein Gewehr mit in den Unterricht gebracht und während der Stunde auf den Lehrer angelegt. Er konnte überwältigt werden und wurde abgeführt. Für uns alle unfassbar. Aus heutiger Sicht verständlich. [1]Siehe Fußnote: Anmerkung des Autors. [Klick …]
Meine Schwester besuchte das Gymnasium. Eines Tages erhielt meine Mutter eine Vorladung von der Polizei mit der Begründung, dass meine Schwester nicht zum BdM (Bund deutscher Mädchen) gehe. Hintergrund: Tante Tilly, Trägerin des goldenen ParteiabzeichensTante Tilly war eine 150-Prozentige
, wie man damals sagte; nach 1945 fand sich niemand mehr, der in der Partei gewesen ist. Man hatte aber davon gehört
, dass es eine NSDAP gegeben haben soll. Das nannte man dann Entnazifizierung
!, hatte meine Schwester denunziert, weil sie tatsächlich nicht zum BdM ging. Die Zusammentreffen fanden aber zeitgleich mit dem Unterricht statt und Schule hatte für meine Mutter Vorrang.
Ich durfte meine Mutter und meine Schwester zum Polizeirevier begleiten. Dort angekommen, klopfte sie an die Tür des Amtszimmers. Kein Herein
, also trat sie ohne
ein. Der Beamte saß am Schreibtisch und würdigte sie keines Blickes. Meine Mutter sagte Guten Tag
und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Der Beamte grüßte mit Heil Hitler
zurück, blätterte in einer Akte und fuhr meine Mutter barsch an, ob sie nicht wisse, dass sie sich als Reichsdeutsche strafbar mache, wenn sie ihre Tochter an der Teilnahme am BdM hindere. Meine Mutter ganz ruhig: Wenn sie das deutsche Schulgesetz kennen, würden sie wissen, dass Schulpflicht besteht. Meine Tochter kann am BdM teilnehmen, nur müssten SIE Sorge tragen, dass es zeitlich keine Überschneidungen gibt.
Sagt sie, steht auf und geht mit uns. So resolut war meine Mutter.
Der Sommer verging, nur der 20. Juli 1944 ging nicht spurlos vorüber. Attentat auf Hitler, lebt er, was wird nun? Dann die erlösende
Nachricht, der Führer hat es überstanden und die Schuldigen werden zur Rechenschaft gezogen. Derweil fliegen sogar am Tage die feindlichen Bomber in Richtung Berlin. Wir sehen sie am Himmel. Keine Gegenwehr!
Der Winter kommt sehr früh. Wir fahren noch mit den Schlitten den Hang am Haus hinunter bis auf die Straße. Einer ruft immer Bahn frei!
. Ich liege abfahrtbereit auf meinem Schlitten. Als das Signal von der freien Straße kommt, wird mein Gefährt mit einem Stoß in Bewegung gesetzt. Mein Schlitten schleudert, ich kann ihn nicht in der Bahn halten und krache voll gegen den Torpfeiler. Danach weiß ich nichts und finde mich im Bett wieder. Dicke Lippe und abgebrochene Schneidezähne sind das Ergebnis der Winterfahrt.
Mein Vater teilte meiner Mutter indes mit, sie solle wieder nach Berlin aufbrechen, denn die Ostfront rücke immer näher. Mein Onkel dagegen bestritt die Gefahr und glaubte an den Endsieg.
Also blieben wir über Weihnachten bis Anfang Januar 1945 an der Weichsel.
Meine Tante war mit ihren Kindern aufgebrochen, als auch wir Thorn verließen. Die schweren Eisenbahngeschütze schossen donnernd aus der Stadt, als unser Zug — der letzte — diese verließ. Es war bitterkalt und unser Zug bestand aus Viehwaggons! Wir fuhren durch Partisanengebiet. Die Gleise wurden immer wieder vom begleitenden Reichsarbeitsdienst abgesucht. Es ging nur langsam weiter am Tage und in der Nacht. Einmal wurde auf den Zug geschossen. Wir legten uns bangen Herzens in den Waggons übereinander. Hielt der Zug, wurde schnell das Notwendige erledigt.
In unserem letzten Wagen hatte sich ein Völkergemisch eingefunden. Deutsche von überall her, Eingedeutschte, die vor den eigenen Landsleuten Angst hatten ,und viele Soldaten. Alle hockten auf den eigenen Sachen und Koffern eng beieinander. Neben uns eine junge Frau, die ihr Baby dick eingewickelt im Kinderwagen zu beruhigen versuchte. Und natürlich unterschiedliche Interessen. Des Nachts wurden Eingedeutschte mobil, sangen und tranken. Das störte meine Mutter, die um Ruhe bat. Das wurde aber mit Gelächter abgetan. Die Zeit verging durch das ständige Anhalten und langsame Fahren überhaupt nicht.
Das Kind war in der Zwischenzeit im Kinderwagen erstickt. Die Mutter weinte und wollte sich von dem Kind nicht trennen. Als es zu stinken anfing, wurde es im Bremsenhäuschen außen am Waggon verstaut. Bei einem Zwischenstopp, der vom Arbeitsdienst genutzt wurde, die Wagen zu kontrollieren, bat meine Mutter aus den genannten Gründen in einen anderen Waggon umsteigen zu dürfen. Fortan fuhren wir im ersten Waggon nach dem Tender zusammen mit den Leuten vom Reichsarbeitsdienst weiter. Das war eine ganz andere Atmosphäre. Draußen 19°C Minus und drinnen nicht viel anders, kaum was zu essen und die ständige Angst vor Überfällen.
Fast drei Wochen waren vergangen, als wir endlich den Anhalter Bahnhof in Berlin erreichten — es war der 27. Januar 1945. Der Zug war wegen der Partisanen über Schlesien nach Berlin gefahren — man nannte das damals Flucht. Vera hatte sich die Zehen erfroren und mir war es ständig übel. Aber wir waren wieder zu Hause. Der halb zerstörte Bahnhof ohne Dach wirkte gespenstisch. Eine Schwester vom DRK fragte meine Mutter, ob sie denn eine Wohnung hätte. Meine Mutter bejahte das, obwohl sie gar nicht wissen konnte, ob unser Haus noch stand.
Es stand tatsächlich noch, allerdings waren die Fenster mit Brettern vernagelt und es war kalt, sehr kalt. Unsere Nachbarin Frau Lagemann nahm uns zunächst auf. Wir konnten erstmal bei ihr im dritten Stock wohnen. An jedem Tag Fliegeralarm, die Stadt war schon ein Trümmerhaufen und der Schutt lag auf den Straßen. Wie lange sollte das noch dauern?
[1] Anmerkung des Autors:
Mehrere Schüler-Jahrgänge wurden damals in einer Schulklasse zusammengefasst und gemeinsam unterrichtet. Das Alter der Schüler lag daher zwischen neun und 14 Jahren. Das Gewehr, das der 14-jährige eingedeutschte Junge in die Schule mitgebrachte um den Lehrer zu bedrohen, war tatsächlich ein Karabiner. Ob funktionsfähig oder nicht, ist nicht bekannt. Diese polnischen Kinder waren eben harte Burschen
. Man erinnere sich an die Soldaten-Kinder
in Afrika, die auch fähig waren mit Waffen umzugehen.