Julklapp 1960
Ab Mitte November begannen sich zuhause die Heimlichkeiten voreinander zu häufen. Da raschelte es mit Papier und wenn ich um die Ecke schaute, um dem Geräusch auf den Grund zu gehen, saßen die Eltern mit unschuldigen Gesichtern und den Händen hinter dem Rücken auf ihren Stühlen, das bunte Geschenkpapier vor sich auf dem Tisch. Auch meine vier Jahre ältere Schwester raschelte eines Tages mit Papier, ließ mich aber an ihrem Tun teilhaben. Wir machen Julklapp in der Schule
, erzählte sie mir, während sie einen Gegenstand in Geschenkpapier wickelte. Julklapp
, fragte ich mit großen Augen, denn das Wort hatte ich noch nie gehört.
Auch während meiner Schulzeit, als ungefähr Zehnjähriger, lernte ich diesen Brauch in der Adventszeit kennen, als unsere Lehrerin die Idee kam, einen Julklapp in unserer Klasse zu veranstalten. Ich ging in die Heidberg-Schule in eine gemischte Klasse, Jungen und Mädchen waren zahlenmäßig etwa gleich vertreten. Die Aufgabe, die unsere Lehrerin uns stellte, war, einer Mitschülerin oder einem Mitschüler in der Vorweihnachtszeit ein kleines Geschenk zu überreichen. Das sollte aber heimlich geschehen, ohne dass der oder die Beschenkte ahnte, von wem dieses Geschenk stammte. Der Wert des Geschenks sollte einen festgelegten geringen Geldbetrag tunlichst nicht überschreiten, nach Möglichkeit sollte es aber etwas Selbstgemachtes sein. Vorstellbar waren selbstgebackene Kekse, Strohsterne für den Weihnachtsbaum oder ungeliebte Geschenke, die an den Julklapp weitergereicht und entsorgt wurden. Außerdem sollte das Geschenk zusammen mit einem selbst verfassten Gedicht überreicht werden, in dem der oder die Beschenkte persönlich umschrieben werden sollte. Keine leichte Aufgabe, schon schauten sich alle um, wen sie beschenken wollten. So lief das Spiel aber nicht, denn es sollte jeder ein Geschenk erhalten. Deshalb wurden Lose gezogen mit den Namen der zu Beschenkenden.
In der Pause versuchten einige, besonders die Mädchen, ihre Lose miteinander zu tauschen, wohl weil sie für eine bestimmte Person eine Idee und ein passendes Geschenk hatten, vielleicht spielte auch erste zaghafte Verliebtheit eine Rolle, oder dass einfach die Nase des Ausgelosten nicht passte. Vielleicht war auch schon die erste Liebe im Spiel? Bekam die Lehrerin dies mit, gab es eine Ermahnung mit umfassender Erklärung der Spielregeln.
Statt der sonst üblichen Hausaufgaben sollte die freie Zeit jetzt genutzt werden, um ein Gedicht zu verfassen. Der oder die Beschenkte sollte sich möglichst in diesem Gedicht charakterisiert wiederfinden und es sollte länger als ein Vierzeiler sein, mindestens eine Schreibmaschinenseite. Und wer keine Schreibmaschine zu Hause hatte, sollte, damit der Schenkende nicht über seine Handschrift zu identifizieren war, in Druckbuchstaben schreiben. Das bot die Möglichkeit, in großen Lettern einen Sechs-Zeiler zu verfassen, wobei die poetische Denkleistung in Grenzen oder sogar ganz auf der Strecke blieb. Wer zu faul war, ein eigenes Gedicht zu schreiben, hielt sich an die Verse, die zum Beispiel in den Poesiealben zu finden waren. So wurden Werke hoher Dichtkunst
beim Julklapp verlesen wie etwa:
Wenn Du dereinst als Großmama mit Großpapa im Lehnstuhl sitzt, dann denke oft, mit treuem Blick an Deinen Mitschüler,Julklappzurück
wobei die Großmama
sich beliebig gegen einen Großpapa
austauschen ließ. Aber auch andere Gedichte, die nicht zum Julklapp passten, wurden verschenkt:
Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken, nur die eine nicht, und die heißt Vergissmeinnicht.
Für wenig beliebte Mitschüler konnte das Gedicht auch schon mal etwas derb ausfallen:
Am Honig leckt der Bär, der braune,
am Angelhaken leckt der Barsch.
Der Bandwurm leckt an der Kaldaune,
doch Du, mein Freund, leck mich am A…
Da ich es mir aber nicht so einfach machen wollte, fragte ich meine Eltern, ob sie mir nicht beim Dichten helfen könnten. Schon schwirrten die Reime durch die Köpfe und es kamen lustige Gedichtsentwürfe aufs Papier, an deren Wortlaut ich mich aber heute nicht mehr erinnern kann, ich habe sie nicht aufgehoben. Die nächste Schwierigkeit war, ein passendes und preiswertes Geschenk zu finden. Meine Eltern hatten nur wenig Geld zur Verfügung und mein monatliches Taschengeld bestand aus ein paar Pfennigen, zu wenig, um davon Geschenke zu kaufen. In der Schule war die Obergrenze für gekaufte Geschenke auf fünf D-Mark festgesetzt worden, für mich ein illusorischer Betrag, viel zu teuer! Aber selbstgebastelte Strohsterne als Tannenbaumschmuck, Weihnachtskekse aus Mutters Küche, Äpfel aus dem eigenen Garten und Schokokekse mit bunten Zuckerstreuseln konnte ich verschenken.
Diese wurden dann auf eine ganz besondere Art verpackt. Zuerst wurde alles in eine passende Schachtel gelegt, mit Weihnachtspapier und einer schönen Schleife eingewickelt und natürlich mit dem Namen des- oder derjenigen Ausgelosten versehen. Weihnachtspapier und Schleife bekam ich von meiner Mutter, die das bunte Papier von den Geburtstags- oder Weihnachtgeschenken sammelte, glattstrich und zur Wiederverwendung verwahrte. Sie mochte es gar nicht, wenn wir Kinder beim Auspacken das Papier zerrissen, um möglichst schnell an den Inhalt zu kommen. Als Nächstes wurde die fertig verpackte Schachtel in einen etwas größeren Karton gelegt und wieder mit weihnachtlichem Papier umwickelt. Ein anderer Name schmückte dieses Paket. So machte ich weiter, mein Julklapp sollte mindestens zehnmal den Besitzer wechseln, bevor es den eigentlich Beschenkten erreichte.
Am nächsten Tag in der Schule wurden alle mitgebrachten Pakete in einen großen Jutesack gesteckt und es begann zunächst der normale Unterricht. Wir freuten uns auf die letzte Stunde, in der die Bescherung stattfinden sollte. Die Lehrerin nahm Paket für Paket aus dem Sack, las den Namen darauf vor und übergab das Geschenk. Fast alle mussten ihren Julklapp weitergeben, weil beim Auspacken plötzlich ein anderer Name auftauchte, es machte großen Spaß. Am Ende hatte jeder ein mehr oder weniger brauchbares Geschenk, Äpfel, Nüsse, Strohsterne und Kekse ausgepackt und auch mein Gedicht, das zur Freude aller jetzt laut verlesen wurde. Das schönste dabei war das anschließende Rätselraten, wer konnte dieses Gedicht wohl verbrochen haben:
In meinem Zimmer sitz ich und beim Denken an dich schwitz ich,
denn mein Geschenk hier klein und fein, soll ja was Besondres sein.
Du siehst zwar was, jedoch von wem, das bleibt verborgen dir,
doch ich verrate es jetzt dir – ja ganz genau: Es ist von mir!
Die Augen blau, die Haare blond, pack ich dir dies Geschenk jetzt ein,
du kriegst es heut und rätst bestimmt: Wer könnte ich wohl sein?
Am Ende der Stunde, drei Tage vor Heiligabend, mussten noch die Berge von Papier und Kartons beseitigt werden, dann wurden wir in die Weihnachtsferien entlassen.