Sturmflut 1976
oder:
Helden des Alltags
Helden des Alltags hat er sie genannt, die völlig überlasteten Pflegekräfte in den Krankenhäusern, selbst ständig in Gefahr, sich mit dem Virus zu infizieren. Die Anerkennung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier sollte zusätzlich noch mit einer steuerfreien Prämie von bis zu 1.500 Euro gekrönt werden. Allerdings wäre vielen Pflegekräften eine faire Bezahlung lieber gewesen. Was ist eigentlich aus diesen Ideen und dem spontan gespendeten Applaus im Mai 2020 geworden? In der Presse stand zu lesen, dass die notorisch unterbezahlten Pflegekräfte in der Altenpflege tatsächlich einen Bruchteil der ursprünglich angedachten Summen als Prämie erhalten haben, die Pflegekräfte der Krankenhäuser erhielten nichts, obwohl diese nicht explizit bei der Ankündigung der Prämie ausgeschlossen waren. Auch Applaus gibt es keinen mehr, die Belastung durch die Coronapandemie ist zur Normalität geworden. Das erinnert mich an eine Begebenheit im Januar 1976, wie ich sie selbst erlebt habe.
Im Januar 1976 wütete der Orkan Capella
über Norddeutschland. Der Sturm drückte aus Nordwest und ließ das Wasser der Elbe nicht abfließen. Bereits am 3. Januar war es in Hamburg zu einer schweren Sturmflut gekommen, doch am 20. Januar führte diese zweite Januarflut an der Elbe zum höchsten Wasserstand des 20. Jahrhunderts.
Die Deiche an der Haseldorfer Marsch hielten den Wassermassen nicht stand und brachen. Für Hamburg ein Glück, denn die Polderflächen der Marsch nahmen viel Wasser auf und brachten der Hansestadt Entlastung. 14 Jahre zuvor verloren während der schweren Sturmflut im Februar 1962 mehr als 300 Menschen ihr Leben, vor allem auf der Elbinsel Wilhelmsburg. Diesmal ging es glimpflicher ab, Menschenleben waren nicht zu beklagen, obwohl diese erneute Flut sehr schwere Schäden anrichtete.
Zu der Zeit war ich als junger Beamter im Fernmeldedienst der Post tätig und in der Linientechnik als Bauführer im Außendienst eingesetzt. Die Linientechnik
ist für den Bau und die Unterhaltung von Fernmeldekabeln zuständig, also für alles, was in den Straßen der Stadt an ober- und unterirdischen Einrichtungen notwendig ist, zum Beispiel: Schaltschränke, Kabelkanäle und -schächte. Wegen des hohen Wasserstandes während der Sturmflut waren alle tiefergelegenen Gebiete der Stadt überschwemmt worden, vor allem hatte es den Hafen getroffen. Fernmeldekabel waren gebrochen und das Wasser konnte ungehindert eindringen. Die gesamte Kommunikation fiel aus, es ging nichts mehr, kein Telefon, kein Faxgerät. Eine Katastrophe für die Hafenwirtschaft.
Die damals verlegten Fernmeldekabel waren sehr hochwertig, was ihre Isolierung und die elektrischen Eigenschaften betraf. Sie bestanden aus bis zu zweitausend einzelnen Drähten, jeder mit einem dünnen Papierfaden und zusätzlich mit Papier spiralförmig umwickelt. Diese Luft-Papier-Isolierung war das Beste, weil Luft eben der beste Isolator ist. Um eine gegenseitige induktive Beeinflussung auf ein Mindestmaß zu reduzieren, haben sich Wissenschaftler den Kopf zerbrochen, wie diese einzelnen Drähte zu verseilen sind, damit sich induktive Übertragungen durch die elektrischen Felder gegenseitig aufheben. Je zwei Drähte wurden miteinander und diese wiederum zu einem Sternvierer
In Telefon- und Fernmeldekabeln werden die Kupferadern in der Regel zu Paaren verseilt. Oft werden jeweils zwei Paare zu einem Vierer verseilt. verseilt. Als wasserdichte Außenhaut erhielt so ein Kabel dann einen Bleimantel. Unsere Kabelmonteure glichen eher Klempnern als Fernmeldemonteuren, wenn sie die Spleißstellen der Kabel mithilfe von Walzblei, Lötzinn und einem Propan-Brenner mit einer Kabelmuffe ummantelten und verlöteten, um das Eindringen von Wasser zu verhindern. Denn eindringendes Wasser durchnässt die Papierisolierung und ist damit der größte Feind dieser Technik.
Genau das war aber durch die Überschwemmung geschehen und hatte das gesamte Kommunikationsnetz im Hafen lahmgelegt. Sobald das Wasser wieder abgelaufen war, begannen die Aufräumarbeiten. Ich wurde von meinem Dienstort in Hamburg-Niendorf in den Hafen abkommandiert, natürlich freiwillig
. Als junger Beamter im Eingangsamt eines technischen Fernmeldeassistenten denkt man ja auch an seine Karriere, und als mein Dienststellenleiter zu mir sagte: Es soll auch Ihr Schaden nicht sein
, erweckte er bei mir Beförderungshoffnungen und ich nahm diese Herausforderung an.
Meine Aufgaben bestanden in der Überwachung und Koordination der Arbeiten, der Beschaffung des erforderlichen Materials und der Abrechnung der geleisteten Arbeitszeit, außerdem in der Besänftigung der Firmenvertreter, die uns mit ihren massiven Forderungen nach einem funktionsfähigen Netz sehr bedrängten, doch zaubern konnten wir nicht. Damals gab es noch den Freihafen, der mit hohen Zäunen vom Rest der Stadt abgesperrt war. Der Zoll und die Schwarze Gang
genannten Beamten der Oberfinanzdirektion überwachten mit Argusaugen die Aktivitäten im Freihafen, denn hier herrschte jetzt der Ausnahmezustand.
Die Kollegen hatten eine mobile Kabelwinde auf der Veddel, außerhalb des Freihafens, aufgebaut und angefangen, die oberschenkeldicken durchnässten Bleikabel aus den unterirdisch verlegten Rohren zu ziehen. Meine Monteure hatten unterdessen im Kabelschacht des Freihafens die Verbindungen gekappt. Für das neue Hafennetz wurden nicht mehr die bewährten Bleikabel verlegt, sondern eine Neuentwicklung, längswassergeschützteDie Kabel wurden durch eine Vaselinefüllung so geschützt, dass Wasser nicht mehr, wie in einem Rohr, in Längsrichtung laufen konnte. Kabel mit einem Kunststoffmantel. Die einzelnen Drähte waren mit einem aufgeschäumten Kunststoff isoliert, aber in der bewährten Viererverseilung. Das Kabel wurde außerdem mit einer Vaselinefüllung gegen das Eindringen von Wasser geschützt. Auch das Verbinden der einzelnen Kabel, die Spleißtechnik, war völlig neu und bereitete anfänglich Probleme.
Ganz in der Nähe unserer Baustelle stand ein Container, dessen Bordwände wohl zwei Meter hoch waren. Aus einem Schuppen, so nennt man im Hafen die Zwischenlager für Handelswaren, wurden die durchnässten Kartons mit Spirituosen entsorgt. Das hatte meine Monteure neugierig gemacht. Einer kletterte in den Container und reichte den Kollegen teuren Whisky, französischen Cognac und andere Spirituosen heraus, denn nicht alle Flaschen waren zu Bruch gegangen. Wie aber den Schnaps aus dem Freihafen kriegen? Einfallsreich erinnerten sie sich an die Kabelwinde auf der Veddel außerhalb des Zauns. Die Flaschen fanden den Ausgang an den Zugseilen der Winde durch die nun leeren Kabelkanäle, wurden auf der anderen Seite freudig in Empfang genommen und im Dienstwagen verstaut. Das Ganze passierte während meiner Abwesenheit. Am nächsten Tag wurde aber erzählt, was am Abend nach dieser Aktion geschah. Zu Feierabend hatte sich der eine oder andere der Beteiligten ein Gläschen 15 Jahre alten Dimple oder Hennessy gönnen wollen, als es um 20 Uhr an der Tür klingelte. Zu Besuch kam die Schwarze Gang
. Die Beamten der Oberfinanzdirektion Hamburg beschlagnahmten den geborgenen
Schnaps. Zweierteams klingelten mit Durchsuchungsbeschluss bei allen Beteiligten zur gleichen Zeit, sodass niemand die anderen warnen konnte. Dumm gelaufen, der Schnaps war wegAuch angebrochene Flaschen wurden konfisziert., außerdem gab es noch milde disziplinarische Maßnahmen.
Als alle Kabel eingezogen waren, begannen die Spleißarbeiten, das Verbinden der Kabel zu einem funktionierenden Netz. Mein Büro
hatte ich in einem der grauen Transporter, dort konnte ich meine schriftlichen Arbeiten erledigen. Hin und wieder kam auch ein aufgeregter Vertreter einer Spedition oder Lagerhausgesellschaft zu mir mit einem Firmenprospekt in der Hand. Darin befanden sich bis zu eintausend D-Mark, gebunden an die Bedingung, innerhalb der nächsten zwei Stunden wieder telefonieren zu können. Diesen Zahn
musste ich ihnen aber ziehen, denn erstens hätte ich mit der Annahme des Geldes meine berufliche Stellung als Beamter aufs Spiel gesetzt, und zweitens war die Inbetriebnahme von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig, die ich überhaupt nicht beeinflussen konnte. Also musste ich die Firmenvertreter regelmäßig mit ihrem Geld wieder wegschicken.
Wenn ich etwas Leerlauf hatte, habe ich mich zu den Kollegen in den Kabelschacht gesetzt und Kabel gespleißt, denn den Beruf hatte ich ja von der Pike auf gelernt. Feierabend gab es jetzt nicht mehr, der Druck, der von den Firmen ausgeübt wurde, war einfach zu groß. Mein Dienststellenleiter ermunterte mich zur großzügigen Abrechnung der Überstunden mit den Worten: Es soll auch Ihr Schaden nicht sein!
, und Die Stunden werden doppelt aufgeschrieben
.
Ein paar Stunden Schlaf in einem der Transporter gönnten wir uns abwechselnd, es wurde durchgearbeitet, bis das Netz wieder betriebsfähig war. Am Ende stand die Hafenspinne
, wie das Hafennetz genannt wird, wieder und viele Kollegen hatten ihren Anteil dabei. Es wurden Kilometer von Kabeln verlegt und die neuen Schaltschränke in hochgelegenen Gebäudeteilen installiert. Ein Linienverzweiger wurde zum Beispiel im Südgebäude des alten Elbtunnels im ersten Stock neben der Fahrstuhltechnik aufgebaut. Diese Maßnahmen sollten bei der nächsten Sturmflut ein erneutes Desaster vermeiden helfen.
Als dieser Arbeitseinsatz beendet war, nahmen wir alle wieder unseren normalen Dienst auf. Aus dem Rathaus hörte man im Rundfunk anerkennende Worte für die vielen Helfer, die in kürzester Zeit die vielen Hamburger Hafenbetriebe wieder einsatzfähig gemacht hatten. Und ich reichte bei meinem Dienststellenleiter die Überstundenabrechnung ein. Aus seinem Nun machen Sie mal, die Stunden rechnen wir später doppelt ab
, wurde nun: Das können wir doch nicht weiterreichen, da komme ich ja in Teufels Küche
.
Dass es jetzt für diesen Arbeitseinsatz nichts geben sollte, noch nicht einmal einen zeitlichen oder finanziellen Ausgleich der geleisteten Stunden, sah von den Beteiligten niemand ein. So sollte das Unternehmen nicht davonkommen. Unsere Forderungen wurden dem Personalrat vorgelegt, der eine Thematisierung für die nächste Personalversammlung beschloss.
Ein Jahr zuvor wechselte eine Frau an die Spitze der OPD, was zu der Zeit eine Sensation war. Eva Leithäuser war als erste Frau in leitende Position als Präsidentin der Oberpostdirektion Hamburg berufen worden. Ihr wollten wir bei der Hauptpersonalversammlung im Congress Centrum Hamburg unseren Kummer zur Entscheidung vortragen. Zu dieser Veranstaltung war auch der damalige Hamburger Bürgermeister Hans-Ulrich Klose eingeladen. Als Gastredner würdigte er die großartige Leistung des Postpersonals beim Wiederaufbau des Kommunikationsnetzes Hafen. Er verabschiedete sich danach mit den Worten: … Weil jetzt die Interna der Fernmeldeämter besprochen werden, zu denen ich keinen Beitrag leisten kann
. Die Präsidentin der Oberpostdirektion Hamburg, Frau Leithäuser, rief ihm hinterher, er möge doch auf sie warten, und sie verließen gemeinsam den Saal, ohne das Ende der Veranstaltung abzuwarten. Im November 1979 wurde sie zur Justizsenatorin berufen.
Die im Januar und Februar 1976 geleisteten Überstunden wurden nie bezahlt oder mit Freizeit vergütet, und nein, es hat mir tatsächlich nicht geschadet … im Gegenteil, ich habe sogar noch etwas daraus gelernt.