Hochtourenwoche in den Walliser Alpen
Es gibt bereits einige Artikel in der Erinnerungswerkstatt über verschiedene und ungewöhnliche Führerscheine. Über Führerscheine
, die man sich beim Deutschen Alpenverein erarbeiten kann, ist aber noch nie geschrieben worden. Das will ich mit diesem Artikel nachholen.
Im Sommer 1991 hatte ich meine Ausbildung zum Fachübungsleiter Hochtouren
beim Deutschen Alpenverein mit einer schriftlichen und einer Prüfung im Gelände erfolgreich abgeschlossen. Ab sofort dufte ich als ausgebildeter Fachübungsleiter, oder wie man verkürzt sagte, als Hochtourenführer im Alpenverein Touren im Hochgebirge und Ausbildung in alpinen Disziplinen anbieten. Deutschland, Europa und der Rest der Welt hat ab 1933 sehr schmerzhafte Erfahrungen mit Führern
machen dürfen, deshalb ist die früher durchaus übliche Bezeichnung Hochtourenführer
inzwischen beim Alpenverein verpönt. Auch ist sie irreführend, weil diese Bezeichnung den Lizenzinhaber zu sehr in die Nähe eines berufsmäßigen Bergführers rückt. Deshalb wurde im Deutschen Alpenverein die Bezeichnung Fachübungsleiter
eingeführt.
Dabei gibt es, im Gegensatz zum berufsmäßigen Bergführer, unterschiedliche Lizenzen. Der Bergwanderführer, offiziell Fachübungsleiter Bergwandern
genannt, darf mit Gruppen durchaus anspruchsvolle Bergwanderungen durchführen, auch in einem Gelände, in dem Absturzgefahr besteht. Er darf aber mit Gruppen weder Gletscher betreten noch mit ihnen in senkrechten Felsen klettern. Ein Fachübungsleiter Felsklettern
darf Einzelne und auch Gruppen in steilem Felsen führen und sie dort in der Kletter- und Sicherungstechnik ausbilden. Der Fachübungsleiter Skitouren
bildet seine Leute im winterlichen Gebirge aus, kann Schneeprofile erstellen, um die Lawinengefahr einzuschätzen, und lehrt den richtigen Hüftschwung. Die umfassendste und längste Ausbildung führt zur Lizenz eines Fachübungsleiters Hochtouren
. Dieser darf auf Gletschern führen, wo Spaltensturzgefahr besteht, und mit Gruppen im Fels klettern. Und er darf natürlich im Klettergarten mit Anfängern klettern gehen.
Die Voraussetzung ist dabei, dass ein Fachübungsleiteraspirant mit seinem Tourenbuch nachweisen kann, wie viele Touren er im Hochgebirge selbstständig geplant und durchgeführt hat. Damit wird belegt, dass der angehende Fachübungsleiter ein gewisses Maß an Erfahrung im Fels und Eis des Hochgebirges gesammelt hat und auch mental in der Lage ist, mit schwierigen und gefährlichen Situationen umzugehen. Vor allem sollte er bereit sein, Verantwortung für Gesundheit, Leib und Leben seiner Bergkameraden zu übernehmen.
Die Sektion Hamburg des Deutschen Alpenvereins konnte sich 1989 glücklich schätzen, gleich vier ihrer Mitglieder zur Ausbildung zum Fachübungsleiter Hochtouren auf die Franz-Senn-Hütte im Stubaital schicken zu können. Hier allerdings wurde die Spreu vom Weizen
getrennt, nur zwei der vier Anwärter wurden für die weitere Ausbildung zugelassen. Den beiden anderen wurde eine Ausbildung zum Fachübungsleiter Bergwandern vorgeschlagen, weil beide keine ausreichende Erfahrung in der vereisten hochalpinen Bergwelt nachweisen konnten. Einer von ihnen war in der Sektion als erfahrener Kletterer und Dolomitenbergsteiger bekannt, in jungen Jahren hatte er im jugendlichen Eifer sogar die Lange Anna
, das Wahrzeichen von Helgoland, erstiegen. Seine Enttäuschung über die Abweisung war so groß, dass er auf eine weitere Ausbildung verzichtete und nur an dem Stubaier Grundkurs teilnahm.
So kam es, dass ich dank meiner Erfahrung im Hochgebirge nach dem Grundkurs auch den Aufbaukurs im alpinen Felsklettern auf der Meilerhütte im Wettersteingebirge besuchen durfte. Im darauffolgenden Jahr wurde der letzte Teil der Ausbildung rund um das Taschachhaus durchgeführt. Den beiden norddeutschen Kursteilnehmern aus Hamburg wurden bei der Aushändigung der Ausweise, sehr zum Leidwesen der süddeutschen Teilnehmer, insgesamt sehr gute Leistungen beim Bergsteigen im Fels und Eis bescheinigt. Damit durften sich zwei Hamburger Fachübungsleiter Hochtouren
nennen, sehr zur Freude des Hamburger Sektionsvorstands.
Um der Sektion etwas dafür zurückzugeben, schließlich haben die Alpenvereinsmitglieder meine Ausbildung mit ihren Beiträgen bezahlt, habe ich einen Teil meines Jahresurlaubs für eine zehntägige Hochtourenwoche abgezweigt. Eine anspruchsvolle Zeit in den Walliser Alpen war geplant mit dem Ziel, am Ende einen der Viertausender zu besteigen. Als Kursus im Eis für Anfänger
habe ich diese Tour in der Vereinszeitschrift der Sektion Hamburg dann 1992 ausgeschrieben.
Zur Vorbereitung wollte ich die Teilnehmer und ihre Fähigkeiten aber kennenlernen. Auf unseren beiden Hütten im Weserbergland und Harz war Gelegenheit, die Teilnehmer des Eiskurses näher zu beschnuppern. Bert, einer der beiden Kursteilnehmer im Stubaital, hatte sich samt Freundin fest zu meinem Eiskurs angemeldet. Darüber war ich recht froh, kannte ich ihn doch von gemeinsamen Wochenenden im Klettergarten. Da auch er in der Zwischenzeit eine Lizenz als Fachübungsleiter erworben hatte, war ich sicher, etwas Entlastung durch den frisch gebackenen Bergwanderführer zu erhalten. So wurde die maximale Teilnehmerzahl auf zehn Teilnehmer hochgesetzt.
Anmeldungen gab es wesentlich mehr, doch entsprachen nicht alle der Mindestanforderung für so eine hochalpine Tourenwoche. Eine beispiellose Anmeldung bekam ich telefonisch in ziemlich barschem Befehlston. Vater, Mutter und Sohn wurden für diese Tour angemeldet. Alle drei seien Mitglieder bei den Naturfreunden und hätten damit die Berechtigung, an dieser Tourenwoche teilzunehmen, teilte mir der Naturfreundevater mit. Nein, geklettert wären sie noch nie und auch noch nie im Eis der Hochgebirge unterwegs gewesen. Für ein vorbereitendes Kletterwochenende wäre auch keine Zeit mehr, teilte er mir in dem Gespräch mit. Aber, da er auch Beiträge an den Alpenverein zahlt, sei er doch berechtigt, sich mit der Familie zu dieser Tourenwoche anzumelden und ich sollte jetzt gefälligst die Familie in meine Teilnehmerliste eintragen. Auf meine Antwort, dass ich Familien grundsätzlich nicht mitnehme, nur Einzelpersonen und auch nur, wenn sie an den Vorbereitungswochenenden teilgenommen hätten, drohte er mir nun mit ernsthaften Konsequenzen
. Nun blieb ich erst recht bei meiner Ablehnung, einen Stinkstiefel
mit Familie konnte ich in der Gruppe nicht gebrauchen, das wollte ich mir nicht antun.
Meine Freundin Dörthe und ich sind dann Mitte Juli 1992 ins Wallis gefahren und haben ein paar sehr schöne Touren in der prächtigen Welt der Walliser Viertausender gemacht. In dieser Woche hatten wir schon etwas für unsere Höhenanpassung tun können und waren recht fit. Alles Training wäre sonst für die Katz, wenn ich von Meereshöhe unmittelbar in die Alpen komme. Die ersten Touren auf dreitausend Meter ließen mich keuchen, so dünn war die Luft. Erst nach einer Woche war ich so daran angepasst, dass ich auch auf viertausend Meter gehen konnte, ohne höhenkrank zu werden. Das Lauf- und Klettertraining über das ganze Jahr zahlte sich also doch aus.
Als Treffpunkt der Gruppe hatte ich die Cabane de Tourtemagne, auf Deutsch die Turtmannhütte der CAS Section Prévotoise, auserkoren. Die Hütte liegt auf 2.519 Meter über Meereshöhe in einem Nebental des Rhonetals. Kurz vor dem Ort Visp, von wo das Mattertal nach Süden führt, zweigt das Turtmanntal ab. Die schmale, gewundene Straße endet an einer Hochalm, von dort geht es nur zu Fuß oder mit einem Geländewagen weiter. Dort, auf dieser Hütte hatte ich uns für die nächsten zehn Tage einquartiert. Und Benni, Hüttenwirt und angehender Bergführer, hatte uns meine Anmeldung schriftlich bestätigt.
Ich war mit meinem alten Passat die letzte abenteuerliche Etappe von der Alm bis zum Stausee gefahren und hatte das Auto dort oben stehen lassen. Als meine Freundin und ich an der Hütte eintrafen, waren die ersten schon dort. Bis zum Dunkelwerden waren alle Teilnehmer eingetroffen, auch mein Co-Führer
und seine Freundin. Von der ernteten wir erst einmal Kritik. Das ist so was von unfair, dass ihr wochenlang in den Alpen seid und schon gut höhenangepasst
, wetterte sie. Ich habe das ihrer Erschöpfung und der Höhe gutgeschrieben, sie sah etwas blass aus.
Am nächsten Morgen klingelte der Wecker um vier Uhr, in den Westalpen beginnen die Touren früh, weil sie anspruchsvoll sind, Ausdauer verlangen, die Schneebrücken über die Gletscherspalten gegen Mittag weich werden und dann nicht mehr tragfähig sind. Das erste Mal ging es durch das Gässi
hinauf auf den Kamm, von dem man einen guten Blick über den rund viereinhalb Kilometer langen Brunegg-Gletscher hat. Das Gässi
ist eine senkrechte Felspassage, ungefähr zwanzig Meter leichte Kletterei, die aber Sicherheit im Fels verlangt. Zum Eingehen eine leichte Wanderung bis zum Schöllijoch, dort erste Berührung mit dem Firn und für einige die ersten Gehversuche mit den Steigeisen. Der ständige Aufenthalt auf Hüttenhöhe von gut zweieinhalbtausend Metern und darüber erleichtert die Höhenanpassung enorm, und nach zwei Tagen waren alle Teilnehmer fit und gut motiviert. Benni, der Hüttenwirt und seine Mädels, versorgten uns morgens mit frisch gebackenem Brot und abends mit köstlich zubereiteten Mahlzeiten.
Nach einigen Tourentagen begann ich mit der Grundausbildung am Gletscher. Tags zuvor hatte ich mit dem Fernglas vom Gipfel des Schöllihorns auf dem Brunegg-Gletscher zu Füßen des großartigen Weißhorns (4.505 ü.d.M.) eine große und sehr tiefe Gletscherspalte entdeckt. Dort sind wir am nächsten Tag hingegangen. Wieder durch das Gässi in Richtung Schöllihorn, haben wir eine Vierer- und zwei Dreierseilschaften gebildet. Mit Steigeisen an den Füßen, um das sichere Gehen mit den Eisen zu üben, ging es langsam, Schritt für Schritt über das Eis. Spalten waren in dem aufliegenden Firn nur für das geschulte Auge erkennbar. Entsprechend nachlässig und locker wurde das Seil zwischen den Gehenden geführt. Am Ziel angekommen, hatte keiner der Teilnehmer bemerkt, dass ich sie über eine Schneebrücke geführt hatte, die eine gewaltige Gletscherspalte überspannte. Hier, mitten auf dem Gletscher, am Fuße der gewaltigen Weißhorn-Nordwand, rasteten wir.
In den folgenden Stunden wurden die Techniken der Spaltenbergung nach einem Sturz geübt und manch eine(r) kam an seine Belastungsgrenze. Der Eispickel diente nun als Schneeanker, als einziger fester Punkt, um einen Flaschenzug aus dem vorhandenen Sicherungsseil und den Karabinern zu bauen. Gesichert von meiner Freundin an diesem Anker ließ ich mich in die Spalte gleiten, um mit Prusikschlingen am Seil wieder aus der Spalte zu steigen. Das hatte ich in meinen Kursen gelernt, mich ohne die Hilfe meiner Kameraden aus so einer Situation zu retten. Die Dreierseilschaften, die zuvor sorglos auf dem Gletscher unterwegs waren, weil ihnen die Spaltensturzgefahr nicht bewusst war, konnten jetzt einmal am sicheren Seil ausprobieren, wie sich so ein Sturz anfühlt. Dazu wurde Werner, der mit Rucksack sicher über 100 kg wog, als erster angeseilt. In die Mitte kam Anja, vom Gewicht knapp mehr als die Hälfte von Werner und hinten zum Bremsen Bernd, ebenfalls über 100 kg mit dem Gepäck. Die Seilschaft ging leicht bergab auf die Spalte zu und Werner sollte sich einfach in die Spalte gleiten lassen. Ich hatte zuvor einen Schneeanker mit meinem Eispickel gebaut und Anja zusätzlich angeseilt. Als Werner in die Spalte fiel, riss es die beiden anderen sofort zu Boden und erbarmungslos in Richtung des Eisschlundes. Erst meine Sicherung hielt den Sturz, Anja war schon halb mit im Loch. Wäre dieses Szenario echt gewesen, diese Seilschaft wäre wohl als die drei Ötzis
nach hundert Jahren am Gletschertor wieder aufgetaucht. Bernd hatte alle Mühe, aus seiner Position nun einen Anker und einen Flaschenzug zu bauen, das alles unter ständigem Zug der beiden, die in der Spalte zappelten. Erst als Anja ebenfalls gerettet war und Bernd unterstützen konnte, wurde es für ihn etwas leichter. Auch Bert, der zweite Fachübungsleiter, musste in die Spalte und sich bergen lassen. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, habe ich gesehen, wie nachlässig er seinen Anseilknoten gebunden hatte. Um ihn nicht vor allen anderen bloßzustellen, habe ich darüber kein Wort verloren, in den folgenden Tagen aber verstärkt darauf geachtet, dass alle richtig angeseilt wurden. Einen echten
Absturz konnte ich während dieser Tourenwoche nicht gebrauchen, sollten doch alle heil und gesund wieder nach Hause fahren.
Zurück auf der Hütte sind die meisten sofort im Lager verschwunden und wurden erst, noch etwas schlaftrunken, zum Abendessen wiedergesehen. Bert bat mich am nächsten Tag, selbst die erste Seilschaft führen zu dürfen. Geplant war die Traversierung des Brunegg-Gletschers und der Aufstieg zur Cabane de Tracuit, zu Deutsch: Tracuithütte
auf 3.256 Meter über Meereshöhe gelegen. Der Weg dorthin von der Turtmannhütte führt durch gewaltige Eisbrüche über den Gletscher mit all seinen Gefahren. Natürlich wollte ich Bert auf seinem bergsteigerischen Weg unterstützen und ihm Gelegenheit geben, Erfahrung im Eis zu sammeln. Bei einem Glas Rotwein saßen wir in der Abendsonne auf der Hüttenterrasse, schauten mit den Ferngläsern in den gewaltigen Eisbruch des Gletschers, und ich erklärte ihm genau, wie wir sicher durch den Eisbruch kommen. Als Anhaltspunkte nannte ich ihm einige markante Wegpunkte, zeigte ihm den Gletschersumpf und einige mächtige Felsbrocken, die der Orientierung dienen konnten.
Anderntags begann unser großes Abenteuer. Hatten wir bisher Übungen und Ausbildung zur Vertiefung der Kenntnisse gemacht, wurde es jetzt ernst. Der bekannte Weg durch das Gässi
und hinab zum Brunegggletscher war schon zur Routine geworden. Beim Anseilen achtete ich genau auf Knoten und Ausrüstung. Bert stellte sich eine Viererseilschaft aus Teilnehmern mit guter Kondition zusammen, seine Freundin Anja war nicht dabei. In drei Seilschaften aufgeteilt, betraten wir den zunächst noch flachen Gletscher und stiegen in Richtung Gletscherzunge abwärts. Bert sollte zwar vorweg gehen, hatte aber Anweisung, sich nach dem Tempo der folgenden zu richten. Das ist für den Führer einer Gruppe eine sehr schwere Aufgabe, übt aber, das richtige Tempo zu wählen, damit alle mitkommen und niemand überfordert wird. Bert war nach kurzer Zeit mit seiner Seilschaft aus unseren Augen verschwunden, auch auf Rufen reagierte er nicht. Bernd aus Schwerin hatte sich kurz vor dieser Tourenwoche bei einem großen Hamburger Ausrüstungsgeschäft neue Bergstiefel aus Kunststoff mit den passenden Step-In-Steigeisen gekauft, die im Laufe der Woche immer wieder Probleme bereiteten. Auch jetzt ging eines der Eisen ab und wir mussten eine Zwangspause einlegen. Ich half ihm, die Eisen besser einzustellen, wobei ich bemerkte, dass nicht die Eisen, sondern die Stiefel das Problem war. Man hatte ihm tatsächlich zwei unterschiedliche Größen verkauft.
Nachdem ich ihm die Steigeisen auf die unterschiedlichen Stiefelgrößen angepasst hatte, konnten wir unseren Weg fortsetzen; die erste Seilschaft war nicht mehr zu sehen, hatte von unserem Problem auch nichts mitbekommen. Dort, wo der Gletscher über einen Felsriegel floss, wurde das Eis zerrissen und bildete Seracs, riesige Türme aus Eis. In der Mulde dahinter wurde es wieder zusammengeschoben und war fast spaltenfrei. Dort lauerte eine andere große Gefahr. Das Schmelzwasser, das hier nicht in den Spalten abfließen konnte, sammelte sich in einem Gletschersumpf, der vom Firn, dem Altschnee des letzten Winters, verdeckt war. Dieser Sumpf wurde oberhalb umgangen, als Orientierungsmarke diente ein gewaltiger Felsbrocken. Plötzlich wurde ich durch Rufen auf unsere erste Seilschaft aufmerksam. Der Bergwanderführer Bert war viel zu früh in den Eisbruch gequert und hatte seine Seilschaft mitten in das Labyrinth aus meterhohen Eistürmen geführt. Von hier ging es nicht weiter, ein Durchkommen unmöglich, aber auch zurück traute er sich nicht. Es blieb mir nichts übrig, als ebenfalls in den Eisbruch zu queren. Allein dort hineinzugehen wäre wegen der Spaltensturzgefahr unverantwortlich und lebensgefährlich gewesen. Es gelang mir, aus beiden Seilschaften eine zu machen und aus dem Eisbruch auf die Rampe zu führen, die als der einzig mögliche Aufstiegsweg am Abend zuvor ausgewählt wurde. Dabei hat sich Bernd in einer Spalte versenkt. Das Üben der Spaltenbergung wirkte sich nun positiv aus, die Seilführung war straff und der Sturz konnte sicher gehalten werden. Die Bergung des Verunglückten dauerte nur Minuten, Bernd war dabei nichts passiert.
Im weiteren Aufstieg bemerkte ich einen Bergführer mit zwei Gästen. Die saßen auf einem Felsvorsprung und hatten das ganze Szenario beobachtet. Wir grüßten einander und stiegen weiter aufwärts. Auf der Hütte angekommen, wurde das Ganze noch einmal besprochen. Das machten die Gruppenmitglieder aber unter sich aus, aus dieser Manöverkritik
habe ich mich herausgehalten, ich wollte auf keinen Fall zum Ende einer bis dahin positiv verlaufenden Tourenwoche noch Öl ins Feuer gießen und für schlechte Laune sorgen. Ich wollte auch daran glauben, dass Bert daraus etwas gelernt hatte.
Für den nächsten Tag hatte ich geplant, mit der ganzen Gruppe das 4.153 Meter hohe Bishorn über seine Nordwestflanke zu besteigen und am Nachmittag durch den Eisbruch zur Turtmannhütte zurückzukehren. Nach dieser Tourenwoche hatten alle Teilnehmer gute Höhenanpassung und Kondition aufgebaut. Dörthe, einige der Teilnehmer und ich ruhten am Nachmittag auf der sonnigen Terrasse und schauten in den Gletscher, der vom Weißhorn nach Westen herabfloss, als plötzlich unter gewaltigem Krachen ein Eisturm in sich zusammenstürzte und als Lawine ins Tal donnerte. Das Ereignis hinterließ bei allen einen tiefen Eindruck. Dann kam Hans-Jürgen am Abend zu mir auf die Hüttenterrasse und erklärte, dass er sich die morgige Tour auf das Bishorn nicht zutrauen würde. Nach dem Gipfel noch den Weg zurück durch den Eisbruch, das war ihm zu viel, er wollte uns lieber auf der Hütte erwarten und den Tag dort verbringen, um noch fit für den Rückweg zur Cabane de Toutmagne zu sein.
In der Dunkelheit des nächsten Morgens sind wir Richtung Gipfel aufgebrochen und alle haben ihn erreicht. Gegen Mittag waren wir gesund und glücklich wieder zurück an der Hütte. Wegen der tagsüber steigenden Temperaturen werden Schneebrücken weich und gefährlich. Deshalb bricht man in den Westalpen möglichst früh auf, noch bei Dunkelheit und Minustemperaturen. Die Tour auf das Bishorn sollte, zusammen mit der Gletschertraversierung, der krönende Abschluss dieser zehn Tage sein. Der Gipfel hatte jedoch seinen Tribut gefordert, einige aus unserer Gruppe fühlten sich nicht mehr fähig, zur Turtmannhütte durch den Eisbruch abzusteigen. Deshalb beschloss ich, hier auf der Tracuithütte Quartier zu nehmen. Der Hüttenwart der Turtmannhütte wurde per Funktelefon verständigt, dass wir einen Tag später kommen. Die Vorräte der Tracuithütte waren fast aufgebraucht, die 140 Plätze der Hütte waren in den letzten Tagen wegen des guten Wetters bis zum letzten Platz ausgebucht gewesen, der Versorgungshubschrauber mit Verpflegungsnachschub hatte die Hütte noch nicht angeflogen. Für uns waren noch ein paar Kartoffeln, Bohnen und etwas ranziger Speck vorhanden. Aus diesen Zutaten zauberte
die Küche für uns ein Abendessen. Der Hunger war groß und Hunger treibt's rein. Der Hüttenwart kam zu mir mit einer halben Flasche Selbstgebranntem. Für gut schlafen
, sagte er und drückte mir die Flasche in die Hand. Führer mit Gruppen werden eben besonders verwöhnt, sie bringen Geld in die Kasse und sollen ja wiederkommen.
Gegen Abend kam eine Gruppe blinder Bergwanderer mit ihren Betreuern aus dem Zinaltal auf die Hütte. Fast 1.500 Höhenmeter waren sie aufgestiegen, immer mit der Hand auf der Schulter eines Sehenden. Wie fröhlich diese Menschen waren! Nach dem Abendessen wurde gesungen und Gitarre gespielt, so wurde die Entscheidung hier zu bleiben mit unvergesslichen Eindrücken belohnt. Hans-Jürgen haderte mit seiner Entscheidung, auf der Hütte geblieben zu sein. Zu gerne wäre er ebenfalls auf einem Viertausender gewesen, nur wegen des Rückweges durch das Eis hatte er darauf verzichtet. Seine Enttäuschung war groß, und er machte alles und jeden dafür verantwortlich, es war letztlich aber seine Entscheidung gewesen.
An unserem letzten Tourentag sollte der Weg wieder durch den Eisbruch des Turtmanngletschers zurück zur Turtmannhütte führen. Kurz vor Erreichen des Abbruches bemerkte Bernd das Fehlen seiner Handschuhe. Was tun? Allein konnte ich ihn wegen der Spaltensturzgefahr nicht zur Hütte zurückgehen lassen, mit allen gemeinsam zurückzugehen wäre unnötige Kraftverschwendung gewesen. Mit dem Bergwanderführer Bert verabredete ich, dass die ganze Gruppe auf einem sicheren Felssporn pausiert und sich nicht von der Stelle bewegt, während ich mit Bernd zurück zur Hütte gehe, um die Handschuhe zu holen.
Als Bernd und ich mit den Handschuhen zurück bei der Gruppe waren, fehlten Bert und Erni. Die sind schon vorgegangen, um eine steile Passage zu sichern, damit der Abstieg nachher schneller geht
, erzählte mir Werner. Leider hatten die beiden die Seile mitgenommen und mir damit die Möglichkeit genommen, eine gefährliche vereiste und sehr steil abfallende Passage zu sichern. Mit dem einzigen verbliebenen Seil war es eine sehr zeitraubende Angelegenheit, bis alle diese gefährliche Stelle überwunden hatten. Nach kurzer Strecke sah ich die beiden Ausreißer an einer Stelle, an der ich nicht abzusteigen beabsichtigte. Dort hingen auch die Seile völlig nutzlos, die weiter oben zur Absicherung der heiklen Passage dringend gebraucht wurden. Unter nun unnötig erschwerten Bedingungen wurden wieder Seilschaften gebildet, und die Führer gingen jetzt wegen der besseren Übersicht als letzte im Seil. Der Seilerste ließ sich so gut dirigieren und ein eventueller Sturz eines Kameraden kommt nicht überraschend und kann besser abgefangen werden. Auch diese Regel war für meinen Kompagnon
Bert völlig neu und musste nun unbedingt diskutiert werden. Vor Erreichen des Gletschersumpfes lenkte er seine Leute dicht an den Bergschrund, am liebsten wäre es ihm gewesen, erklärte er mir, auf dem Fels abzusteigen. Dass dies der gefährlichste aller Wege ist, konnte ich ihm nicht vermitteln. Auch nicht als ich ihm erzählte, dass genau das einer der Hochtourenführeraspiranten bei der Prüfung mit seiner Gruppe gemacht hatte und deshalb keine Lizenz bekommen hatte.
Der Rest des Weges über den Gletscher bot keine allzu großen Herausforderungen, die Seilschaft Bert konnte ich allein laufen lassen. Auch war die Unterhaltung
dort recht lautstark, es wurde alles, was Bert machte, in Frage gestellt, das Vertrauen in seine Führerqualitäten war dahin. Mir fiel ein Stein von Herzen, als wir alle wohlbehalten zurück auf der Turtmannhütte waren und ich aus der Verantwortung entlassen wurde.
Bert habe ich nie wieder auf Bergtouren mitgenommen. Wo Egoismus, Ehrgeiz und Eitelkeit die Führung übernehmen, ist die Katastrophe nicht weit. Gern habe ich bei Tourenbeginn meine Suppenmetapher
zum Besten gegeben: Wenn alle das, was sie an Essbarem dabei haben, in einen großen Topf tun würden, könnte daraus eine nahrhafte und wohlschmeckende Suppe gekocht werden, von der alle satt werden. Nimmt sich jeder nur aus dem Topf oder isst sein Zeug allein, wird niemand satt, zufrieden oder hat Spaß dabei.
Beim Abschied erzählte mir Benni der Hüttenwart, dass seine Mädels eine harte Woche hinter sich hatten. Nie zuvor war eine Gruppe Bergsteiger auf seiner Hütte jeden Tag so früh aufgestanden.
Diese Tourenwoche fand vor 30 Jahren statt und ist heute für mich immer noch so präsent, als wäre es erst gestern gewesen. Die beschriebenen Hütten gibt es in dieser Form nicht mehr, die Gletscher sind abgeschmolzen und viele schon ganz verschwunden. Sie sind in diesem kurzen Zeitraum dem Klimawandel zum Opfer gefallen.