Rüstungsindustrie in Hamburg Langenhorn
Ein Treffen mit Schülern der Willy-Brandt-Schule
Die Erinnerungswerkstatt im Dialog
Eine Anfrage aus der Willy-Brandt-Schule in Norderstedt erreichte die Erinnerungswerkstatt Mitte Mai 2021:
Hallo! Unsere 9. Klasse beschäftigt sich gerade mit dem Nationalsozialismus. Können wir jemanden treffen, der/die uns etwas zu
Norderstedt
und NS-Zeit erzählen kann? Vielleicht im Wittmoor?
Diese Anfrage stieß auf positive Resonanz innerhalb unserer Zeitzeugengruppe und es waren drei sofort bereit, sich mit den Schülern zu treffen. Im Dialog mit den Schülerinnen und Schülern wollten wir dazu beitragen, die jüngere deutsche Geschichte zu beleuchten, die in der Schulzeit der Nachkriegsjahre nicht stattgefunden
hat.
Eigentlich sollte der Unterricht zur NS-Vergangenheit in der Gedenkstätte KZ-Neuengamme als geführte Tour stattfinden. Wegen der Maßnahmen gegen die Pandemie finden dort aber zurzeit keine Veranstaltungen statt, deshalb wurde als Treffpunkt die Gedenkstätte KZ-Wittmoor vorgeschlagen. Von April bis Oktober 1933 befand sich im Wittmoor, in der Nähe der damaligen Gemeinde Glashüttegehört seit dem 1. Januar 1970 zu Norderstedt mit dem KZ Wittmoor das erste nationalsozialistische Konzentrationslager in Hamburg. Dorthin kamen bereits am 31. März 1933 die ersten 140 Häftlinge, die in dem mit Stacheldraht umzäunten Gebäude einer Torfverwertungsfabrik untergebracht wurden. Von den damals errichteten Gebäuden und Einrichtungen ist nichts stehen geblieben, außer einem Findling mit Inschrift gibt es dort nur Natur zu sehen, ein Bezug zum Thema ist schwer herstellbar. Deshalb wurde von uns als Treffpunkt die Gedenkstele im Industriepark Essener Straße in Hamburg Langenhorn vorgeschlagen. Dort ist das Fundament einer Produktionsstätte für Munition aus den 1930er Jahren zu finden, und die Willy-Bredel-Gesellschaft hat dort eine Stele aufgestellt, zum Gedenken an 6.000 Zwangsarbeiter, die hier für den Fortgang des Zweiten Weltkriegs geschuftet haben.
Als wir dort ankamen, mussten wir leider feststellen, dass diese Gedenkstele im Juni 2020 entfernt wurde. Wiederholter Vandalismus, Farbschmierereien, haben die Willy-Bredel-Gesellschaft veranlasst, die Stele von diesem historisch gut gewählten Ort zu entfernen. Schade finden wir es, dass man vor dem Mob eingeknickt ist, eine mit Nazisymbolen beschmierte Stele ist auch ein Statement. Es zeigt, wieviel Aufarbeitung und Aufklärungsarbeit noch zu leisten ist. Der neue Aufstellort befindet sich an der Langenhorner Chaussee 623 rechts neben dem Bürogebäude, kurz vor der Einmündung Essener Straße.
Am Mittwoch, dem 19. Mai, haben wir, Margot (75), Bernd (81) und Hartmut (72), uns dort mit der Klasse 9c getroffen, um den jungen Leuten etwas über die Vergangenheit dieses Industriegebiets und des Krankenhauses Heidberg, heute Asklepios Nord, zu erzählen. Zuvor wurde die Arbeit der Erinnerungswerkstatt in einem kleinen Video vorgestellt:
© EWNOR - Die Erinnerungswerkstatt stellt sich vor
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Die SS-Kaserne Germania
wurde 1938 im kaum besiedelten nördlichen Stadtgebiet von Hamburg fertiggestellt. Hier wurden holländische, dänische und deutsche SS-Elitesoldaten ausgebildet, unter anderem war das Freicorps Danmark hier stationiert. Über dem eindrucksvollen Eingangsportal thronte ein stilisierter Adler auf einem Hakenkreuz. Dänische SS-Einheiten waren Teil der ausländischen Freiwilligenverbände der Waffen-SS. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges haben ungefähr 6.000 Dänen freiwillig in der Waffen-SS Dienst getan, um mit den Deutschen an der Ostfront gegen die Sowjetunion zu kämpfen. Dem voran ging die Unterstützung der Finnen durch dänische Freiwillige im Winterkrieg gegen die Sowjetunion.
1934 schaute sich Clemens Pötz auf Einladung der Wehrmacht ein Gelände am Weg Nr.4 in Langenhorn an und fand es geeignet, hier eine Rüstungsindustrie aufzubauen. Die Firma Pötz und Sand, Monheim baute hier, an der heutigen Essener Straße eine Produktionsstätte für Munition unter dem Tarnnamen Hanseatische Kettenwerke
(HAK) auf und das KZ-Neuengamme versorgte diese Industrie mit Arbeitskräften. Neben dienstverpflichteten jungen Frauen schufteten hier Roma, Sinti und jüdische Menschen, um Munition für einen verbrecherischen Angriffskrieg der Deutschen Wehrmacht herzustellen. Ebenfalls wurde dort auch die Messgeräte und Apparatebau, kurz MESSAP
angesiedelt, die Zünder für Granaten und Torpedos herstellte. Die Firma Junghans, Uhrenhersteller aus dem Schwarzwald, stellte für die MESSAP
das FachpersonalSiehe auch den Zeitzeugenbericht von Kurt Sievers: Der Altonaer Hof
Frauen wurden zum Dienst in den Rüstungsbetrieben HAK-Werk
und MESSAP
im Karree Weg, heute Essener Straße verpflichtet … mit dem feinmechanischen Können.
Nach dem Ersten Weltkrieg verbot der Versailler Vertrag den Deutschen jegliche Rüstungsproduktion, weshalb die Aktivitäten am Weg Nr. 4, auch Karree Weg
genannt, der Aufbau von Rüstungswerken, unbedingt geheim bleiben sollte. Die 1934 errichteten Werkswohnungen für die Funktionäre, Werkleiter und die Feinmechaniker der Firma Junghans aus dem Schwarzwald wurden im ländlich idyllischen Stil erbaut, mit Fachwerk, holzverkleideten Giebeln und teilweise sogar mit Reet gedeckt. Die sogenannte Schwarzwaldsiedlung
war bewusst so angelegt worden, dem ganzen Gebiet ein idyllisches, ländliches Aussehen zu geben. Ein Luftaufklärer hätte dieses Gebäude-Ensemble nur schwer als eine Rüstungsstätte erkennen können. Das Gebiet wurde demzufolge auch bei den schweren Bombenangriffen auf Hamburg im Juli 1943Siehe: Operation Gomorrha
, eine Serie von Luftangriffen der britischen Luftwaffe auf Hamburg verschont, weil die Alliierten nichts von dem Zweck dieser Gebäude ahnten, während andere Rüstungsstätten, wie die Werften des Hamburger Hafens, schwer getroffen wurden.
Dieser Vortrag warf bei den Schülerinnen und Schülern viele Fragen auf, wir waren überrascht und erfreut über das disziplinierte Verhalten, das geweckte Interesse und die gute Mitarbeit. Gerne haben wir alle Fragen beantwortet, soweit es in unserer Macht stand.
Eine nachdenkliche Pause haben wir dazu genutzt, die zweite Gedenkstätte an der Essener Straße aufzusuchen. Eine Gedenktafel, ein blumengeschmückter Stein mit Inschrift und viele Stolpersteine im Gehweg kennzeichnen diesen Ort, gegenüber der heute noch existierenden Schwarzwaldsiedlung. Die Gedenktafel erinnert an das Außenlager des KZ Neuengamme, welches sich von September 1944 bis Kriegsende auf diesem Areal befand. Über 700 Frauen aus dem KZ Ravensbrück waren hier untergebracht und mussten im Rüstungsbetrieb Hanseatische Kettenwerke
unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und Behelfsheime
aus Betonfertigteilen, sogenannte Plattenhäuser
errichten. Kurz vor Kriegsende, Mitte April deportierte die SS die Häftlinge in das KZ-Außenlager Sasel und das Vernichtungslager KZ Bergen-Belsen.
Die auf dem Gedenkstein eingemeißelten Symbole, Davidstern und Winkel, gaben uns Gelegenheit, das perfide System der Entmenschlichung im Dritten Reich
den Schülern zu erklären. Die Winkel wurden in verschiedenen Farben hergestellt. Übereinander genäht wurde daraus ein Davidstern. Die Farbe Gelb kennzeichnete Menschen jüdischen Glaubens, Rosa stand für Homosexuelle. In der Kombination Gelb/Rosa bekam ein homosexueller Jude je einen Winkel der beiden Farben an die Kleidung genäht. Nachdem man den Menschen so ihre Würde genommen hatte, konnten SS-Männer ihnen ohne Skrupel auch das Leben nehmen.
Dieser Vormittag war für alle Beteiligten ein lehrreicher und wir hoffen, dass die jungen Menschen etwas für ihr Leben mitbekommen haben. Informationen ohne erhobenen Zeigefinger, Ihr müsst wissen, was damals geschah, denn Ihr seid für Eure Zukunft verantwortlich, Ihr müsst Eure Zukunft gestalten, dazu ist es wichtig, die Vergangenheit zu kennen
, lautete unser Schlusswort am Ende des Treffens.
Wir drei von der Erinnerungswerkstatt haben eine neunte Klasse erlebt, die sich sehr diszipliniert verhalten hat. Die jungen Leute waren interessiert, haben mitgearbeitet und viele Fragen gestellt; dieser Vormittag war für alle Beteiligten sicher sehr fruchtbar, weil es Antworten gegeben hat.
Nachtrag
Nachdem wir zusammen mit der Lehrerin kurz vor 10 Uhr an dem verabredeten Platz angekommen waren, dachten wir zuerst, wir wären am falschen Ort, denn die Stele fehlte. Nach kurzer Recherche im Internet kannten wir den Grund, den Hartmut beschrieben hat. Wir alle haben uns sehr darüber geärgert. Kurze Zeit später kamen ungefähr 20 Schüler und Schülerinnen der Klasse 9c hinzu. Der Platz ist umrahmt mit den Grundmauern eines der Gebäude der ehemaligen Rüstungsfabrik, das einzige Relikt der dunklen Vergangenheit inmitten des Gewerbeparks Essener Bogen. Auf diesen Mauern und den drei dort stehenden Bänken fanden alle einen Platz zum Sitzen. Hartmut hat bei seinem Vortrag den Grund für die fehlende Stele thematisiert und wir sahen in betretene Gesichter.
Ich war angenehm überrascht, wie die Jugendlichen an Hartmuts Ausführungen interessiert waren und gezielt Rückfragen stellten.
Als er mit den Schülern und der Lehrerin zu der zweiten Gedenkstätte gingen, blieb ich am Treffpunkt sitzen und die Jugendlichen luden ihre Rucksäcke bei mir ab. Es war auch noch eine zweite Lehrerin dabei, die bisher nicht in Erscheinung trat. Ich hatte während der Abwesenheit der anderen ein gutes Gespräch über Inklusion mit ihr.
Sie ist eine Inklusionslehrerin und betreut in dieser Klasse einen Autisten von der ersten Klasse an. Sie freut sich für ihn, dass er voraussichtlich einen guten Schulabschluss machen wird. Welches ihr besonderer Schüler war, konnte ich nicht herausfinden.
Als die Gruppe wieder zurückkam, wirkten alle sichtlich betroffen. Nach den Schlussworten fragte die Lehrerin, wem es gefallen hat und ob dieses Treffen auch für andere 9. Klassen zu empfehlen ist. Fast alle Hände gingen nach oben.
Die Lehrerin gab uns dreien jeweils eine schön verpackte Flasche mit einem netten Dankesgruß von der Klasse 9c. Einer der Schüler bedankte sich bei jedem extra und wünschte uns Alten
ganz aufrichtig ein langes Leben
.Margot Bintig, 21. Mai 2021