Lesepaten gesucht …
Neulich las ich ein Plakat mit dieser Überschrift und habe mich sehr über den Text gewundert, lernen die Kinder heute in den Schulen nichts mehr, habe ich mich gefragt und auf die Schnelle recherchiert: Lesepaten sind Personen, welche die Lesekompetenz Anderer fördern, Leseförderung bei Kindern im Vorschul- und Schulalter betreiben
. So heißt es in der Wikipedia.
Wie war das denn bei uns, als wir noch zur Schule gingen, habe ich mich gefragt und mich erinnert:
Das Wenige, was mein Vater in den Nachkriegsjahren als alleiniger Ernährer
der Familie nach Hause brachte, reichte gerade so, um den täglichen Bedarf an Nahrung, Kleidung, Heizung und Wohnung zu decken. Für Kinkerlitzchen
, wie meine Oma sagte, also das, was wir heute als Luxus oder die Dinge über den täglichen Bedarf hinaus ansehen, war kein Geld vorhanden. Trotzdem war es meiner Mutter, die das Familieneinkommen klug und sparsam verwaltete, gelungen, einen kleinen Betrag für die Kultur
abzuzweigen. Eines Tages klopfte an unserer Haustür mal wieder ein Handelsvertreter, abwertend nannte mein Vater sie Klinkenputzer
. Für meine Mutter sorgte das aber für etwas Abwechslung in ihrem täglichen Einerlei. In seinem Koffer befand sich ein Angebot an Büchern, das er jetzt präsentierte. Die Büchergilde Gutenberg
, kurz Büchergilde
, wurde 1949 wiederbelebt. Als ein, den Gewerkschaften nahestehendes Unternehmen wurden nun Bücher von Erich Kästner, Stefan Zweig und Golo Mann gedruckt, die noch vor wenigen Jahren auf dem Index standen und als undeutsches Gedankengut
den Bücherverbrennungen der Nazis zum Opfer fielen.
Meine Mutter schloss mit dem Mann einen verpflichtenden Vertrag über die vierteljährliche Abnahme von einem oder mehreren Büchern. Regelmäßig kam jetzt ein Katalog mit der Post, mit dem Angebot an verfügbaren Titeln. Und natürlich sorgte die eigenmächtige
Entscheidung meiner Mutter am Abend für mächtig dicke Luft
.
Doch hatte meine Mutter damit für ihre Kinder eine Tür aufgestoßen, eine Tür in eine andere Welt. Eine Welt wie ich sie nicht kannte und in die man sich prächtig hinein träumen konnte, weit weg vom häuslichen Einerlei. Noch gar nicht lange her, dass ich in der Schule lesen gelernt hatte. Anfangs mit der Lesefibel, die noch mit bunten Bildern das Gelesene unterstützte. Ich erinnere mich noch an diese ersten Texte: Tuut, tuut, ein Auto
, Jochen sitzt im Auto
. Woran ich mich auch erinnere ist, dass meine Eltern uns an den langen Winterabenden aus den Märchen von Christian Andersen und den Gebrüdern Grimm vorgelesen haben. Wir saßen dann in der Küche zusammen, dem einzigen geheizten Raum im ganzen Haus.
Die spannenden Geschichten
, bestellte meine Mutter für mich über die Büchergilde. Hier fand ich zum ersten Mal etwas über den Krieg, über den bei uns zu Hause nicht gesprochen wurde, obwohl meine Eltern ihn beide mitgemacht hatten. Mein Vater fuhr als Soldat bei der Kriegsmarine auf dem U-Boot U-466
und nahm an fünf Feindfahrten teil. Meine Mutter musste am 20. Januar 1945 ihre ostpreußische Heimat mit einem Säugling auf dem Arm für immer verlassen.
Eine der spannenden Geschichten
schilderte die Geschichte eines deutschen Soldaten, dem nach dem Krieg kein Neuanfang im Nachkriegsdeutschland gelang und der sich von den Franzosen in die Fremdenlegion verpflichten ließ. Frankreich hatte noch Kolonien in Nordafrika, Algerien und Tunesien, in denen es politisch gärte. Die Legion aus Gescheiterten des Zweiten Weltkriegs war eine besonders harte Söldnertruppe. Aufstände in den Kolonien wurden blutig niedergeschlagen. Der Protagonist in meiner Geschichte versuchte mehrfach, als blinder Passagier an Bord eines Schiffes zu kommen, um der Legion zurück nach Europa zu entfliehen. Leider wurde er gefasst und unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt. Zur Bewährung
durfte er dann an besonders gefährlichen Einsätzen, sogenannten Himmelfahrtkommandos, teilnehmen. So erfuhr ich erstmals und aus diesen Heften, etwas über den Krieg, über den bei uns zu Hause so beharrlich geschwiegen wurde.
Lesen hatte ich in den Jahren erlernt, auch hatte sich mein Wortschatz so vergrößert, dass ich auch schwierige Texte verstand. Zu Weihnachten gab es jetzt immer ein dickes Buch. Lederstrumpf zum Beispiel, alle Abenteuer in einem Buch. Der Wildtöter
, über das Leben eines Trappers im wilden, jungen Amerika des achtzehnten Jahrhunderts und der letzte Mohikaner
. Chingachgook und sein Sohn Uncas repräsentierten den Typ deredlen Wilden
. Und ich träumte mich in eine andere Welt, noch spät abends, mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, weil ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte.
Als ich später, im Erwachsenenalter die Verfilmung sah, war ich enttäuscht. Passten die Bilder in meinem Kopf so gar nicht zu denen, die ich auf der Leinwand sah. Lesen regt die Fantasie an und bildet die Vorstellungskraft. Genau so ging es mir mit dem Jugendroman Die Schatzinsel
, den wohl viele meiner Altersgruppe gelesen haben. Als der Film zu Weihnachten 1966 als vierteilige Fernsehserie ausgestrahlt wurde, erkannte ich meine Helden nicht, ich hatte andere Bilder im Kopf, die von meiner Schatzinsel, und war enttäuscht.
Ein anderes Buch, an das ich mich gut erinnere, wurde von einer schwedischen Lehrerin geschrieben, um den Schulkindern die schwedischen Landschaften bildlich vor Augen zu führen. Die Autorin, Selma Lagerlöf, beschrieb sie in ihrer Geschichte Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen
. Als ich sehr viel später das erste Mal in Schweden Urlaub machte, konnte ich mich davon überzeugen, dass ihr die Beschreibung der Landschaften wirklich gut gelungen war. Wenn ich heute im Herbst die Wildgänse ziehen sehe, denke ich an das, was ich damals gelesen habe und freue mich auf ihre Wiederkehr im Frühjahr.
Überhaupt können Bücher viel bewirken. Sie können auch unbequem
sein und Gedanken verbreiten, vor denen die Mächtigen dieser Welt Angst haben. In der Regel finden dann Bücherverbrennungen statt und die Autoren werden mit Schreibverboten belegt. So geschehen beispielsweise mit den Werken von Erich Kästner, der nach dem Krieg wieder verlegt werden durfte. Seine Bücher Das fliegende Klassenzimmer
, Emil und die Detektive
, Das doppelte Lottchen
, Pünktchen und Anton
habe ich geliebt. Zum ersten Mal war ich auch mit der Verfilmung des fliegenden Klassenzimmers einverstanden, die Bilder auf der Leinwand und in meinem Kopf waren sehr ähnlich.
Bücher können aber auch sehr viel Unheil anrichten. Über so ein schwarzes
Buch bin ich erst im Erwachsenenalter gestolpert und habe dabei aber gemerkt, dass sein Inhalt bereits mein ganzes Leben negativ beeinflusst hatte. Als junge Eltern haben wir 1968 alles besser machen wollen, als unsere Eltern. Mein Sohn sollte es einmal besser haben. In der Erziehung
hatten wir keine Erfahrung, woher auch? Aber es gab damals schon Zeitschriften, die sich mit dem Thema befassten. Unter anderem auch die Zeitschrift Eltern
aus dem Verlag Gruner & Jahr. Hier gab es regelmäßige Tipps im Umgang mit Kleinkindern, über ihre Pflege und Erziehung. Auch las ich dort Artikel, welche mir seltsam bekannt vorkamen, beispielsweise wie ein Durchschlafen in der Nacht zu erreichen wäre, oder wie man sein Kind am schnellsten sauber
bekäme.
Der Autor hatte abgeschrieben aus dem Buch der Johanna Haarer Die Mutter und ihr erstes Kind
. Johanna Haarer war eine deutsche Ärztin und Autorin, die den Gedanken des Nationalsozialismus sehr nahe stand und so zu einer willfährigen Handlangerin Hitlers wurde, mit dem Ziel, eine Jugend hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie Windhunde
heranzuziehen. Das Ergebnis war die Hitlerjugend, die Jungen und Mädchen, die in Hitlers unseligen Krieg zogen. Nach Johanna Haarer war es verpönt, seine Kinder zu lieben, ihnen Liebe zu zeigen. Liebesentzug als Strafe, wenn die Kinder nicht parierten
, das hatte ich bei meinen Eltern auch kennengelernt. Und das Buch der Johanna Haarer stand gewiss neben Hitlers Mein Kampf
im Bücherregal. Mein Kampf
bekamen meine Eltern im August 1943 zu ihrer Hochzeit, erzählte mein Vater, so wie alle anderen auch. Angeblich haben sie es aber nie gelesen, so wie alle anderen auch nicht …
Hart wie Kruppstahl sein und einen festen Charakter haben, das waren die Ideale meines Vaters, wegschauen, wo es nur geht, die Strategie meiner Mutter. Als ich 2006 mit ihr in die (k)alte Heimat nach dem ehemaligen Ostpreußen fuhr und sie fragte, ob da nicht ganz in der Nähe ihrer Lehrstelle eine Synagoge in Osterode gestanden hatte, antwortete sie mir ausweichend ich weiß es nicht, aber es hat da mal gebrannt
. Es wird wohl im November 1938 gewesen sein, die sogenannte Reichskristallnacht
oder Reichspogromnacht, als in Deutschland die Synagogen in Flammen aufgingen und die systematische Verfolgung und Ermordung der jüdischen Mitbürger begann. Die Schuld haben unsere Eltern auf uns abgeschoben, auf die Nachkriegsgeneration. Die Revolte der Achtundsechziger gegen die etablierten und satten Wir-sind-wieder-wer-Bürger
hat da nichts daran geändert. An meiner Generation ist es, aufzuarbeiten und wiedergutzumachen, was die Generation vor uns zerstört hat, auch das deutsche Ansehen in der Welt. Die Vertreter meiner Generation, tragen die Schuld der Eltern ab und wir fühlen uns noch heute schuldig.
Ein kleines rotes Buch fiel mir eines Tages in die Hände, geschrieben von einem, der lange Zeit im Gefängnis verbracht hatte. Er schrieb darüber, dass man ohne Papiere kein menschliches Wesen mehr ist, von der Gesellschaft ausgestoßen. Ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben, der so sehr im Gegensatz zur Meinung meines Vaters stand: Nur wer einen festen Charakter und eine feste Meinung hat, ist ein aufrechter Mann
. Da stand nun zu lesen: Wer eine feste Meinung hat, hört auf zu denken
. Überhaupt, was heißt hier Charakter oder feste Meinung? Ist es nicht so, dass eine Meinung auf Fakten gebildet wird? Ändern sich die Fakten, muss die Meinung neu überdacht werden.
Ich hatte inzwischen einen regelrechten Heißhunger auf Bücher bekommen, besonders, als ich die Werke von Jack London in die Finger bekam. Mit Michael, der Bruder Jerrys
las ich über Tierdressuren im Zirkus, die eher Tierquälerei waren. Ich sah danach Tierdressuren mit anderen Augen. Auch die Meuterei auf der Elsinore
war sehr spannend geschrieben und gleich danach verschlang ich den Seewolf
, der ebenfalls in maritimer Umgebung spielt. Lockruf des Goldes
stellte die Frage nach dem Wert des Metalls, das zu nichts anderem zu gebrauchen ist, als schwer bewacht in Tresoren zu lagern und unermessliches Leid über die zu bringen, die mit ihm zu tun haben.
Meine Gedanken kreisten um das Gold und seinen eigentlichen Wert und ich las den Schatz der Sierra Madre
von einem mir bis dahin unbekannten Autor. Der angebliche Amerikaner B. Traven tat alles, um seine wahre Identität zu verschleiern. Erst die investigative Recherche des Stern-Reporters Heidemann, der sich später seine Karriere mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern ruinierte, brachte um die Person B. Traven etwas Licht ins Dunkel. Er nannte sich zeitweilig auch Ret Marut, was ein Anagramm ist und Ratet rum
bedeutet. Aber ein Polizeifoto, das in London 1923 aufgenommen wurde, entlarvte ihn als den Gewerkschaftssekretär Otto Feige, geboren 1882 in Schwiebus, Brandenburg, im heutigen Polen. Dort in London muss er ein Schiff bestiegen haben, das ihn nach Mexiko brachte, wo er 1969 verstarb. Vieles von dem, was er in seinen Büchern beschrieb, muss er selbst erlebt haben. In Der Schatz der Sierra Madre
beschrieb er nicht nur die Gier nach dem gelben Metall, sondern auch die Rolle des Katholizismus in Südamerika. Als Konquistadoren und Missionare kamen die Spanier und begingen zwischen 1519 und 1521 Völkermord an den Azteken. Mit dem geraubten Aztekengold finanzierten sie Kriege in Europa. In dem Buch hatten die Einheimischen die Rolle des Gekreuzigten in den goldverzierten Kirchen Mexikos völlig falsch verstanden. Dieses blutrünstige Bild in der Kirche machte es den Straßenräubern in der Geschichte leicht, den letzten Goldschürfer kaltblütig zu enthaupten, der zuvor seine Kameraden aus Habgier ermordet hatte. Die Vergebung der Sünden durch das Opfer Jesu wurde völlig missverstanden.
Ein fesselndes Buch, 1948 verfilmt als US-Western mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle, hat mir gut gefallen, der Film weniger. Das alte Problem, die Figuren, die ich mir beim Lesen ausgedacht hatte, entsprachen nicht denen des Films. Das nächste Buch von diesem mysteriösen Autor war Das Totenschiff
; und es ist bis heute eines meiner Lieblingsbücher. Auch dieses Buch beschäftigt sich mit der Frage nach einer festen Meinung, einem festen Charakter. Es hat mir geholfen, mich von meinem Vater und seiner festen Meinung
zu lösen, einen eigenen Weg zu finden und selbstständig zu werden und zu denken.
Bücher können einen großen Einfluss auf uns ausüben, besonders auf junge Menschen. Im Negativen wie im Positiven. Während ich in diesem Aufsatz darüber nachdenke, komme ich zu der Erkenntnis, dass Lesepaten doch eine großartige Aufgabe erfüllen können, wenn sie jungen Menschen diese Türe aufstoßen, die Tür zu der fantastischen Welt der Bücher.
Dabei fällt mir doch gleich noch der Titel eines dystopischen Romans ein, Fahrenheit 451
, der sich ebenfalls mit Büchern beschäftigt. Bei 451 Grad Fahrenheit (ungefähr 233 Grad Celsius) beginnt Papier zu brennen, die Feuerwehr in diesem Roman hat die Aufgabe, Bücher zu verbrennen, weil Bücher so gefährlich sind. Um dem Verlust der Bücher vorzubeugen, lernen die Protagonisten Bücher auswendig, werden selbst zu Büchern und leben im Wald, fernab der Zivilisation. In diesem ausgedachten fiktiven Staat gilt es als schweres Verbrechen, Bücher zu besitzen oder gar zu lesen. Wir waren 1933 bis 1945 nahe dran, auf Dauer solch ein Staat zu werden, doch das tausendjährige Reich hielt nur zwölf Jahre und kostete doch Millionen das Leben.