Lausebengels
Mehrfach habe ich schon den heutigen Nachwuchs beobachtet, mit kleinen Fingern auf kleinen Tasten schnelle Bewegungen machend. Neugierig geworden habe ich dann auch mal gefragt was das für ein Gerät ist, aber keine Antwort bekommen. Zu vertieft waren die kleinen Spieler und scheinbar gefangen in einer mir nicht zugänglichen Welt, völlig entrückt! Nintendo heißen die Geräte, batteriefressende Spielekonsolen, die dafür sorgen, dass die Eltern vor ihren quengelnden Kindern Ruhe haben.
Ich denke zurück und erinnere mich, was ich im Alter zwischen Kind und Heranwachsendem, heute heißt es Kids und Teenys, gespielt habe.
Aufgewachsen bin ich am Stadtrand einer norddeutschen Großstadt, an ein Dorf grenzend, das heute mit anderen Dörfern zusammen ebenfalls eine Stadt geworden ist. Damals in den 50er Jahren standen die heutigen Häuser noch nicht und auf den Flächen wurden Steckrüben, Kartoffeln und Getreide angebaut.
Die heutigen elektronischen Erzeugnisse der Unterhaltungsindustrie waren uns noch unbekannt, außer für ein Röhrenradio mit magischem Auge
gab es kein Geld für Kinkerlitzchen
, wie meine Oma es nannte.
So hatten wir dann einen anderen, unserem Bewegungsdrang entsprechenden Spielplatz, und der war riesig, reichte vom Elternhaus bis an die Ufer des Kupferteichs, das waren mehrere Kilometer.
Ich erinnere mich an die Ruinen und abgeräumten Flächen, die wir sahen, wenn meine Mutter mit mir per Hochbahn in die Innenstadt fuhr, an der Hamburger Straße vorbei, wo heute ein großes Einkaufszentrum steht. Die Kriegsschäden waren noch deutlich zu sehen, aber die Stadt war im Wiederaufbau, was einen enormen Bedarf an Baumaterialien zur Folge hatte.
So erlebten wir, wie die landwirtschaftlich genutzten Flächen nach und nach abgeräumt und ausgebaggert wurden. Der unter dem Humus liegende Kies, während der letzten Eiszeit dort abgelagert, wurde nun für die enormen Mengen Beton benötigt, der in der Stadt verbaut wurde. Große Bagger fraßen sich ins Erdreich, lastwagenweise wurde der Kies abtransportiert und große leere Kiesgruben blieben übrig. Diese mehrere Meter tiefen Gruben waren für uns Kinder willkommene Spielplätze. Hier konnte man seinen Mut unter Beweis stellen, indem man von der Böschung in die Tiefe sprang oder sonst einen Unfug anstellte.
Die interessantesten Schulstunden waren Chemie und Physik, jedenfalls soweit wie das gespeicherte Wissen für unsere Zwecke anwendbar war. Das Fach Chemie liebte ich besonders, wenn es spektakuläre Experimente beinhaltete, hier passte ich gut auf und konnte das Wissen auch recht bald anwenden. Zur Wissenserweiterung, meinen Eltern fiel mein Interesse auf, gab es zu Weihnachten einen experimentellen Chemiekasten als Geschenk, was die Versorgung mit schwer beschaffbaren Chemikalien sicherstellte. Im Garten meiner Eltern wurde oft ein Unkrautmittel gegen Unkräuter eingesetzt, so stand immer eine große Dose davon im Gartenhaus. Dieses Zeugs hatte es in sich, denn es enthielt Natriumchlorat! Es fehlte eigentlich nur noch etwas Kohlenstoff, um daraus einen wirksamen Sprengstoff zu entwickeln. Hier kamen uns die Kenntnisse aus dem Chemieunterricht zugute, dort lernten wir unter anderem auch, dass Zucker Haushaltszucker (Saccharose) hat die Summenformel C12H22O11. Sein Energiegehalt beträgt 16,8 kJ pro GrammQuelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie einen sehr hohen Kohlenstoffanteil enthält! Mit Mutters Kaffeemühle wurde der Kristallzucker in Puderzucker verwandelt und dem Unkrautmittel beigemischt. Zündschnüre erhielten wir, indem wir Baumwollfäden in verflüssigtem UnkrautEx UnkrautEx ist der Handelsname für ein Herbizid auf Basis von Chloraten, insbesondere Natriumchlorat. UnkrautEx ist ein Totalherbizid, das sich zur Entfernung von unerwünschtem Pflanzenbewuchs auf Bahndämmen und Wegen hervorragend eignet.
Da UnkrautEx als natriumchlorathaltiges Präparat ein starkes Oxidationsmittel ist, wurde es in der Vergangenheit, insbesondere in Form eines Gemisches mit Zucker, zum Bau von Sprengkörpern missbraucht und darf aus diesem Grund heute nicht mehr im deutschen Handel erhältlich sein.Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie tränkten und trocknen ließen. Der Verschleiß an Schnürsenkeln fiel meiner Mutter natürlich auf, die Beschaffung von Baumwollfäden wurde daher zunehmend schwieriger.
Nach etlichen Versuchen hatte ich die richtige Mischung, und der neue Stoff verbrannte wie erhofft mit hoher Geschwindigkeit und lautem Knall. Der Pappkern einer Toilettenpapierrolle diente als Behältnis für diese explosive Mischung, wurde mit Wollfäden und anderem brauchbaren Material umwickelt, und dann mit einer langen Zündschnur versehen. Meine Schulfreunde und ich fuhren am Nachmittag, nach den Schularbeiten, mit dem Fahrrad in die leere Kiesgrube, die unser bevorzugter Spielplatz war. Dort versorgten wir uns mit einem langen, möglichst geraden Ast und bohrten damit einen wagerechten Kanal tief unten in die Böschung der Kiesgrube.
Vorsichtig wurde die Kapsel in diesem Bohrloch versenkt, mit Sand abgedämmt und die Zündschnur angesteckt. Nach kurzer Zeit gab es einen dumpfen Knall und ein Teil der Böschung rutschte in die Kiesgrube. Die Sprengwirkung war enorm, wir waren überrascht!
Leider fiel der hohe Verbrauch an UnkrautEx recht schnell auf, so mussten wir auf andere Materialien ausweichen und sogar unsere Sprengversuche einstellen.
Mit der Zeit füllte sich die Kiesgrube mit allerlei Unrat. Wenn wir am Nachmittag dort auftauchten, war neuer Müll abgekippt worden. Unter Anderem lagen dort eines Tages blaue TonnenIch hörte gerüchteweise, dass in der Nacht Lkw mit ausgeschalteten Scheinwerfern gesehen wurden, die den Müll abkippten. Angang der 1980er Jahre kam heraus, das die Firma Boehringer aus ihrer Fabrik in der Anderas-Mayer-Straße dioxinhaltige Abfälle in den wilden Müllkippen rund um die Stadt illegal entsorgt
hatte., aus denen ölige Flüssigkeiten sickerten. Die Tonnen waren offensichtlich dort am Rand der Grube abgekippt worden und nicht alle hatten den tiefen Sturz unbeschädigt überstanden. Blechteile von einem Fahrzeugwrack lagen ebenfalls dort. Alles wurde auf seine Verwendbarkeit überprüft. Das alte Autodach konnten wir als Boot benutzen und so schipperten wir über den Grundwassersee, der inzwischen in der Mitte der Grube entstanden war.
Ein besonders schönes Spiel hieß Portemonnaie am Band
und wurde wie folgt gespielt: Ein altes, unbenutztes Portemonnaie fand sich fast in jedem Haushalt, es wurde nur wenig weggeworfen. Am Nachmittag gingen wir zu dem Weg, der die Grenze zwischen Stadt und Dorf darstellte. Dort wurde eine kleine Furche in den Grandweg gegraben und ein Band hineingelegt, an dem das Portemonnaie befestigt war. Der Weg wurde sorgfältig präpariert, so dass unsere Manipulation nicht erkennbar war. Kam jetzt ein Radfahrer und sah die Geldbörse liegen, musste er glauben, dass jemand sie dort verloren hatte. Geld war knapp und man bückte sich nach jedem Pfennig.
Wir gingen mit der Schnur in der Hand im Gebüsch in Deckung und warteten. Ein Radfahrer war unser erstes Opfer. Er fuhr aber an der Geldbörse vorbei, stoppte dann doch und kam zurück. Als er sich bückte, zogen wir an der Schnur und der vermeintliche Geldsegen
verschwand im Gebüsch. Die Reaktionen der Opfer waren durchaus unterschiedlich, manche schimpften und ärgerten sich, einmal lief sogar jemand hinter uns her um uns die Jacke voll zu hauen, die meisten lachten aber über diesen Streich. Langweilig wurde uns erst, als unsere Opfer offensichtlich alle unser Spiel kannten, sich nicht mehr bückten oder schlimmer, auf das Portemonnaie traten und es mitnahmen. So verschwanden dann die Geldbörsen auf Nimmerwiedersehen und Nachschub gab es nicht so schnell.
Der Herbst mit buntem Laub und reifen Beeren brachte uns auf neue Ideen. Besonders die leuchtend roten Beeren der Eberesche waren als Wurfmunition sehr begehrt. Besser konnte man damit treffen, wenn man ein Blasrohr verwendete. So wurde dann Vaters Fundus nach Brauchbarem erkundet und ein Messingrohr sichergestellt, das den richtigen Innendurchmesser hatte. Die Beeren passten genau hinein und mit dem nötigen Druck aus vollen Wangen flogen sie mindestens doppelt so weit wie vorher.
Am Grenzweg standen auch etliche stattliche Eichen von beachtlicher Größe und mit glattem Stamm. Dort hinaufzuklettern war nicht ohne technische Hilfsmittel möglich. Wir organisierten im Elternhaus Wäscheleine und Besenstiele, um daraus eine brauchbare Strickleiter zu basteln. Als meine Mutter ihre Wäscheleine suchte, half ich ihr dabei mit unschuldigem Gesicht.
Die Erstbegehung
der alten Eiche wurde mit Vaters langer Leiter durchgeführt. Oben wurde an einem starken Ast die Strickleiter befestigt, wobei am Ende der Leiter ein dünner Faden befestigt wurde. Wenn wir nun nicht gerade auf dem Baum saßen, führte der Faden, umgelenkt von einem Ast direkt hinter den Baum, wo er an einem Nagel befestigt wurde. Am Nachmittag wurden dann Beeren gesammelt, bis alle Taschen prall gefüllt waren, dann ging es zu unserem Baum. Vorsichtig wurde mit dem Faden die Strickleiter, die wir sorgfältig oben in der Baumkrone versteckt hatten, nach unten gelassen. Dann stieg einer nach dem anderen nach oben und machte es sich auf einem Ast möglichst bequem.
Radfahrer, die unter uns hindurch mussten, konnten uns nur schwer ausmachen und wurden mit einem Hagel von Beeren aus unseren Blasrohren begrüßt. Manche wussten nicht wie ihnen geschah, weil sie uns nicht gesehen hatten und fuhren schimpfend weiter. Oft blieb aber auch jemand stehen und beschimpfte uns Lausebengels furchtbar, hob die Faust und drohte Prügel an. Das wurde mit Lachen und einer erneuten Salve aus den Blasrohren quittiert bis die Leute schimpfend aufgaben und weitergingen oder -fuhren. So gestärkt trieben wir es recht bunt, bis es mich eines Tages dann erwischte.
Wieder einmal hatten wir ein Opfer gefunden, das von uns mit Beeren aus Blasrohren malträtiert wurde. Der Radfahrer stieg aber ganz ruhig von seinem Rad und begab sich außer Schussweite. Er hätte jede Menge Zeit um darauf zu warten, bis wir vom Baum herunter stiegen sagte er. Und heute bekämen wir mal gehörig die Jacke voll. Au wei, nun hatten wir unseren Meister gefunden, uns war nicht wohl in unserer Haut. Zwar versuchten wir ihn mit den Beeren aus den Blasrohren zu treffen, aber der Radler hielt sich geschickt außer Reichweite. Allerdings war er auch zu nah, um schnell vom Baum springen und davonlaufen zu können, der Kerl sah sportlich aus, hatte lange Beine und jede Menge Zeit. Mehr als genug, mehr als ich jedenfalls, denn ich hatte eine Uhrzeit mitbekommen, zu der ich zu Hause sein sollte.
Als es bereits recht dunkel war, schien es, als ob der Radfahrer aufgegeben hätte. Er war nicht mehr zu sehen und wir waren unschlüssig, ob er sich nun versteckte, oder weitergefahren war. Nachdem einige Zeit vergangen war, der Radler war nicht wieder aufgetaucht, wagte ich den Abstieg und machte mich schleunigst auf den Weg nach Hause. Dort gab es dann eine Standpauke und die Jacke voll – der Radfahrer hatte Recht behalten.
Weniger anstrengend war, auf den Stoppelfeldern unsere selbstgebauten Drachen steigen zu lassen. In einem Kurzwarengeschäft, das von zwei älteren Schwestern betrieben wurde, gab es dünne Paketschnur aus Hanf und Drachenpapier in verschiedenen bunten Farben zu kaufen. Aus den Resten von Tapetenleisten, Klebstoff, der aus Mehl und Wasser gemischt wurde, Paketband und Papier wurden mehr oder weniger flugfähige Objekte zusammengebaut. Verschönert wurden die Drachen mit einem Gesicht und einem langen Schwanz. Dann ging es auf die abgeernteten Felder und wir ließen unsere Drachen steigen. Aus Papierfetzen, um die straff gespannte Schnur gefaltet wurden Briefe, die der Wind nach oben zum Drachen transportierte. Wer die meisten Briefe oben hatte, war Sieger in diesem Wettbewerb.
In den Jahren hat sich diese Gegend stark verändert. Dort wo die Stoppelfelder waren, sind heute mehrere Sportplätze für Fußball, Leichtathletik und Tennis. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde aus dem Dorf langsam eine Stadt mit Hochhäusern und neuen Straßen, über eintausend Menschen leben heute hier. Die ehemaligen Kiesgruben wurden zugeschüttet, der illegal abgelagerte Giftmüll entsorgt und der Untergrund soweit wie möglich saniert und renaturiert. Nur der Grenzweg mit den alten Eichen existiert noch so wie damals, aber Portemonnaie am Band spielt hier keiner mehr …