Sylter Krabben
Mal wieder bin ich in Cuxhaven und versäume es nicht mich im Fischereihafen mit frischem Fisch einzudecken. Mein Blick fällt auf ein großes Behältnis mit frischen Nordseegarnelen, an der Küste einfach Krabben
genannt und sofort werden Erinnerungen wach. Für neun Euro fünfzig kaufe ich dem Fischhändler ein ganzes Kilo Granat ab, wie die frischen gekochten Garnelen auch genannt werden und mir läuft schon das Wasser im Munde zusammen. Frische Nordseekrabben, ohne Konservierungsstoffe und Jetlag, die sind ganz frisch, kommen direkt vom Kutter und wurden heute Morgen erst gefangen
, erklärt der Händler. Ich könnte auch Krabbenfleisch bekommen, das Kilo zu neunundvierzig Euro, die Krabben sind nach Marokko per Flugzeug zum Auspulen gebracht worden um von dort unter Zugabe von Konservierungsstoffen in Plastikbeuteln eingeschweißt, per Luftfracht zurück in den Verkauf gebracht zu werden
, erzählt mir der Händler, denn so ist es am billigsten und die Lohnkosten fürs Krabbenpulen sind doch hier unbezahlbar.
Das Bild vor meinem geistigen Auge wird schärfer. Wie war das damals, 1961, als wir eine Klassenfahrt nach Sylt, in das Schullandheim Puan Klent machten und das Kilo fangfrischer Krabben direkt vom Kutter fünfzig Pfennige kostete?
Am Freitag, den 5. Mai 1961 wurde ich mit Gepäck von meinen Eltern zum Bahnhof Hamburg-Altona begleitet. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln Bus und Hochbahn war das schon eine halbe Weltreise
und meine Eltern besaßen damals kein eigenes Auto. Meine ganze Schulklasse war bereits auf dem Bahnsteig versammelt und die Lehrerin lief aufgeregt hin und her, begrüßte die Eltern und verteilte Zettel. Der Zug fuhr ein und die Bahnhofshalle füllte sich mit Dampf und Rauch. Nun hieß es sich von den Eltern zu verabschieden, einzusteigen und das Gepäck in den Netzen über den Sitzen der Abteilwagen zu verstauen. Wenig später fuhr der D-Zug dampfend und fauchend aus der Bahnhofhalle, nahm Fahrt auf und ließ eine lange Rauchfahne hinter sich. Die Abteilfenster wurden schnell geschlossen, da wir kleine Ruß- oder Kohlepartikel mit dem Rauch der Dampflokomotive in die Augen bekamen. Bei Hochdon führte die Bahn über den Nord-Ostsee-Kanal und ließ einen weiten Blick zu. Dann erreichten wir Niebüll, den letzten Bahnhof auf dem Festland, danach ging es mitten durch die Nordsee, über den Hindenburgdamm nach Sylt.
Wir hatten in der Schule schon einiges über die Insel gelernt und wussten, dass der Kern der Insel aus drei Trümmerstücken eines großen eiszeitlichen Landgebietes besteht, das sich noch in der Nacheiszeit weit in die heutige Nordsee erstreckte. Um 6000 v. Chr. senkte sich aber das Land und große Teile ertranken. Übrig blieben Westerland, Wenningstedt und Kampen, sowie Archsum und Morsum. Diese drei Inseln wurden vom Wasser der Nordsee umspült. Das Meer riss im Westen Land ab, im Osten trug der Flutstrom Sedimente heran und ließ die drei kleinen Inseln zu einer Großen zusammenwachsen. Das Marschland und die Dünen im Norden und Süden sind also noch sehr jung. Unter ihnen verbergen sich ertrunkene Teile der Insel
. So schrieb ich es nach der Klassenfahrt 1961 in einem Aufsatz.
In Westerland angekommen stiegen wir in die Inselbahn um, die uns nach Süden, nach Puan Klent bringen sollte. Diese Bahn war schon etwas Besonderes. Auf alten Borgward Lkw-Fahrgestellen waren Abteilwagen installiert und auf Schienen gesetzt worden. Ein Lkw zog zwei Anhänger und wir hatten sofort den passenden Namen für diese Bahn. Wir nannten sie den Käseschieber
. Blümchen pflücken war während der Fahrt verboten. Das Bähnchen zuckelte mit uns durch die Dünen, ab und zu sah man die Nordsee. Dann rief jemand Ahoi, Puan Klent in Sicht!
. Da lag das Heim, wir waren angekommen. Als Erstes gab es im großen Speisesaal ein Abendbrot und eine Ansprache der Heimleitung. Dann wurden wir auf die Zimmer mit den Etagenbetten verteilt, packten unsere Sachen aus und gingen schlafen. Doch die aufregende Fahrt ließ uns noch lange nicht zur Ruhe kommen, einer glaubte zu spüren, wie die Betten wackeln und wir sabbelten noch die halbe Nacht.
Am nächsten Tag machten wir eine Wattwanderung. Es war nicht weit, denn das Heim lag an der schmalsten Stelle der Insel. Am Nachmittag gingen wir durch die Dünenlandschaft an den Strand und wanderten dort bis nach Hörnum. In den Dünen lagen noch mehrere Bunker, die halb versandet in Richtung Strand gerutscht waren. Ein Bunker lag bereits auf dem Strand und die Wellen türmten sich hoch auf und brachen sich am Beton. Das waren die Reste von Hitlers Westwall, der ein tausendjähriges Reich
beschützen sollte. Als ich 1972 wieder einmal auf Sylt war, konnte ich keinen einzigen Bunker mehr entdecken, sie waren alle überspült und untergegangen.
Mit einem modernen Reisebus machten wir dann am 18. Mai eine Inselrundfahrt. Wir gingen zur Straße, die neben den Gleisen des Käseschiebers
verlaufend den Süden mit dem Norden der Insel verbindet. Als wir nach kurzer Zeit an einer Vogelkoje vorbeifuhren, erzählte der Busfahrer uns, wie hier früher die Eiderenten mit Lockenten in die Reusen gelockt wurden, um die teuren Eiderdaunen zu ernten
. In Wenningstedt besuchten wir dann ein viertausend Jahre altes Hünengrab, Denghoog
genannt. Man konnte von oben in die Grabkammer hinabsteigen und die Decke aus großen Findlingen bestaunen. Dann ging es weiter nach Kampen, zum roten Kliff, einer 32 Meter hohen Steilküste. Ein Höhepunkt der Rundfahrt war der Fischerort List und sein kleiner Hafen. Unser Busfahrer machte mit uns eine Hafenrundfahrt
und kreiste vier Mal um den Hafen herum. Ein Krabbenkutter lag dort an der Pier und der Fischer verkaufte seinen Fang frisch gekochter Nordseegarnelen direkt von Bord. Für fünfzig Pfennige gab es eine Kilotüte dieser köstlichen Meerestiere. Krabben pulend und essend ging es dann weiter nach Keitum, hinter uns eine Spur von Krabbenschalen lassend. Dort schauten wir uns ein typisches altes Sylter Friesenhaus und die schöne alte Kirche an. Am Abend, zurück in Puan Klent, gingen wir alle sehr früh schlafen, erschöpft von den vielen Eindrücken und der vielen frischen Luft.
Auf dieser Klassenreise 1961 habe ich Krabben pulen und diese Köstlichkeit schätzen gelernt. Aber frisch müssen sie sein, die kleinen Schalentiere, ohne Konservierungsstoffe und Jetlag!