Der Sonntagsspaziergang
Sonntagmorgen, der Himmel war wolkenlos, Vater hatte dienstfrei und im Garten gab es nichts Dringendes zu tun. Beim Frühstück beschloss er daher: Heute machen wir einen Ausflug
. Meine Mutter räumte das Frühstücksgeschirr ab und suchte für uns Kinder die Sonntagskleidung heraus, dann half sie uns beim Anziehen. Auch meine Eltern machten sich jetzt fein, Mutter im Sonntagskleid, Vater mit weißem Hemd, Schlips und Jackett. So marschierte die Familie dann los, erst dem Fußweg durch unsere Siedlung folgend, dann weiter entlang der Tangstedter Landstraße in Richtung Stadt. Das war eine der beiden Hauptstraßen unseres Stadtteils und in den 1950er Jahren noch nicht asphaltiert, sondern mit einem Kleinpflaster aus Blaubasalt befestigt.
Wir kamen an der süßen Bude
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vorbei, einem Kiosk, der sonntags leider geschlossen hatte, und am Hof von Bauer Winkelmann. Winkelmann beschäftigte einen Knecht, Helmut, der sich auf dem Hof zu schaffen machte. Einen Sonntag gab es für ihn nicht. Man sah ihn jeden Tag in Gummistiefeln, brauner Cordhose und seiner verschossenen blauen Jacke auf dem Hof, oder mit dem alten grünen Traktor und Anhänger in der an die Siedlung angrenzenden Feldmark seiner Arbeit nachgehen.
Weiter ging es entlang der langen Mauer und dem Hauptportal des Krankenhauses, das früher einmal eine Kaserne gewesen war, und vorbei an der 1952 erbauten Heidberg-Schule. An der Querstraße Hohe Liedt
begann die Fritz-Schumacher-Siedlung und wir konnten in die lang gestreckten Gärten mit den rot geklinkerten Reihen- und Doppelhäusern sehen. Kurz hinter der Kreuzung stand ein unheimlich wirkendes rundes, fensterloses Gebäude. Mein Vater erklärte, dass dies ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg sei. Dieser Bunker steht heute noch und der NABU hat sich dafür eingesetzt, dass daraus ein Fledermausquartier wurde.
Eine Stunde später waren wir am Ziel unseres Ausflugs, einem mit Reet gedeckten Gasthaus, angekommen. Das Grundstück war ringsherum mit mehrere Meter hohen Hecken eingefriedet und es gab hier einen kleinen Zoo. Über dem Eingang prangte ein Schild Zum Wattkorn
, und in der Hecke ein weiteres mit der Aufschrift Storchenvater Schwen
. Bei schönem Wetter durfte man hier im Garten sitzen, zur Straße abgeschirmt von den hohen Hecken, aber der Straßenlärm hielt sich damals in Grenzen, da sich kaum jemand ein Auto leisten konnte. Der Storchenvater Wilhelm Schwen war in Langenhorn für seine Tierliebe bekannt und hatte seinen Garten in einen Park umgestaltet, der den Tieren und den Gästen gleichermaßen zur Verfügung stand. Allerdings konnte er fuchsteufelswild werden, wenn man den Rasen betrat, denn der war den Tieren vorbehalten. Er hatte auch ein Schild aufgestellt, auf dem zu lesen stand:
Pett nich op den Rasen
ton Fodern, Kiken, Knipsen,
stöör nich das Vagelvolk ‒
lettst Du em sin Freden,
dann makt dat di un mi
de gröttste Freid.
Auf dem Rasen stolzierten Störche, die man bei ihm abgegeben hatte, weil sie sich verletzt oder sich gar etwas gebrochen hatten. Wilhelm Schwen hatte die Gabe, gebrochene Flügel zu schienen und Verletzungen seiner Schützlinge zu behandeln. Auch zwei Rehkitze liefen frei im Garten herum. An den Wegen standen Tische und Stühle für die Besucher des Gasthauses und wir nahmen hier Platz. Mein Vater bestellte sich ein Glas Bier und für uns Kinder gab es einen Groschen für den Futterautomaten. Im Eingang des Gasthauses hing an der Wand so ein Automat, für einen Groschen bekam man dort eine Tüte mit Futter für die Tiere, und es machte mir großen Spaß, damit die Rehkitze oder die Störche zu locken. Gleich neben dem Schwenschen Grundstück war 1954 eine kleine Kirche gebaut und eröffnet worden, in der ich konfirmiert und später auch getraut wurde. Wilhelm Schwen war es gelungen, die Kirchenverwaltung davon zu überzeugen, dass auf dem Dach des Pfarrhauses ein Storchennest installiert werden müsse. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass dort tatsächlich Störche gebrütet haben.
Eine besondere Attraktion war aber der sprechende Vogel. Etwas größer als eine Amsel, glänzend schwarz und mit leuchtend gelbem Schnabel hüpfte ein Beo in seiner Voliere von Stange zu Stange und gab menschliche Laute von sich. Es war mir kaum möglich, mich der Faszination zu entziehen, die von diesem ungewöhnlichen Vogel ausging. Ich konnte beobachten, dass es anderen Besuchern ebenso ging, auch sie versuchten, mit dem Vogel ein Gespräch zu führen. Aber die Konversation erschöpfte sich schnell mit Hallo
und anderen wenigen Worten.
Der Bedarf an Vogelfutter war beim Storchenvater recht hoch, sodass er auch nebenher einen Handel mit Futtermitteln betrieb. Meine Eltern haben bei ihm das Hühnerfutter für unsere Eierlieferanten bezogen. Es war bis zum Wattkorn nicht weit, nur drei Kilometer und mit dem Rad leicht zu bewältigen. Ich erinnere mich, dass meine Mutter einen Papiersack mit Hühnerfutter zuhause aufmachte und es dann intensiv nach Fisch roch. Im Futter waren manchmal auch kleine Nordseekrabben enthalten. Alles was die Fischkutter als sogenannten Beifang
mitbrachten wurde in der Fischmehlfabrik Pallasch
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an der Ottensener Straße in Hamburg-Stellingen zu Fischmehl verarbeitet. Diese wertvollen Proteine wurden dann auch dem Hühnerfutter zugesetzt mit dem Ergebnis, dass die Eier oft nach Fisch schmeckten.
Spaziergänge über mehrere Kilometer machten wir öfters auch in die nahe Umgebung des Hauses. Bis zum Kupferteich oder auch ins Wittmoor, wo damals noch Torf abgebaut wurde. Strafgefangene aus dem Gefängnis Glasmoor
arbeiteten hier in Kolonnen und luden den getrockneten Torf auf die Loren der Torfbahn. Die Schienen endeten an der Einmündung Hopfenweg zum Hummelsbütteler Steindamm in der Torffabrik. Mein Vater kaufte dort den Torf zur Verbesserung der Bodenqualität des eigenen Gartens.
Seltener kam es vor, dass ein Ausflug am Sonntagmorgen in die Stadt gemacht wurde, dafür gab es immer einen besonderen Anlass. Entweder hatten wir Besuch, dem unbedingt der Hamburger Fischmarkt gezeigt werden musste, oder es wurden neue Hühner angeschafft, denn die gab es auch auf dem Markt zu kaufen. Egal zu welchem Anlass und wohin es ging, es wurde immer die Sonntagskleidung angelegt. So auch an dem Sonntagmorgen, als ich mit meinem Vater Hühner kaufen ging. Bis zur Hochbahnstation Langenhorn-Nord war es nur etwas weiter als bis zum Storchenvater und es fuhr nur gelegentlich eine private Buslinie Reisedienst Schmidt
die Bahnhöfe an. So nahm mich mein Vater vorn auf die Stange seines Fahrrades und fuhr bis zum Bahnhof, denn dort gab es einen bewachten Fahrradstand. Für ein paar Pfennige oder Groschen, ich erinnere mich aber nicht an seine Preise, nahm Herr Buddelmann das Fahrrad in Empfang, befestigte einen Abschnitt mit der Nummer des Aufbewahrungsscheins an den Speichen des Vorderrades und hievte das Rad hochkant und platzsparend in einen der Ständer.
Mit der Hochbahn fuhren wir nun bis zur Station Landungsbrücken. Ich hatte wieder den begehrtesten Platz ergattert, den Klappsitz ganz vorn neben der Fahrerkabine. Vom Bahnsteig aus konnte man den ganzen Hafen überblicken und ich sah auf dem anderen Elbufer in Steinwerder die gewaltigen Masten und Türme der Kabelkräne der Howaldtswerke, der Stülckenwerft und der Schlieker Werft. Etwas weiter weg auch die von Blohm & Voss. Dort gab es noch den alten nach dem Krieg von den Engländern gesprengten U-Boot-Bunker und mein Vater erzählte von den drei U-Booten vom Typ XXI, die immer noch unter den Trümmern lagen. Diese Boote waren einige der Wunderwaffen
mit denen Hitler noch 1945 den schon längst verlorenen Krieg zu gewinnen glaubte. Die Boote aber kamen nie mehr zum Einsatz. Nur die hässlichen alten Bunker, dieser hier mit der eingebrochenen Decke und die vielen leeren Flächen in Hamburgs Innenstadt erinnern noch an den vor wenigen Jahren zu Ende gegangenen Weltkriegswahnsinn.
Auf dem Fischmarkt ist richtig was los, Gedränge herrscht. Die vielen Leute wollen kaufen und sich amüsieren. Hier schreit einer und preist seine Bananen an, dort überbietet einer die Lautstärke des Anderen und verkauft Aale. Auf dem Hamburger Fischmarkt jener Zeit wurde fast alles verkauft, auch lebende Hühner. Zielstrebig, mich an der Hand, bahnt mein Vater sich einen Weg durch das Gedränge und strebt den Hühnerverkäufern zu. Die haben ihren Stand etwas abseits am Wasser, gleich neben der Fischauktionshalle. Weiße Leghornhühner oder kleine bunte Italiener stehen zur Auswahl und es wird über den Preis verhandelt. Mein Vater entscheidet sich für die Italiener, und mehrere Hühner werden in einen Pappkarton mit Luftlöchern gezwängt. Jetzt fehlen für das Sonntagsessen noch ein paar schöne frisch gefangene Schollen. An der Pier liegen mehrere Finkenwerder Elbfischer und verkaufen ihren heutigen Fang direkt an die Besucher des Marktes. Mein Vater verhandelt mit Ihnen über Preis und Menge und gibt sich bodenständig fachmännisch, was den Fang und die Sprache betrifft. Ich stehe dabei und schäme mich ein wenig für ihn, wie er versucht, sich in Plattdeutsch verständlich zu machen. Er zeigt auf die schönen Schollen, die er den Fischern abkaufen will, die mit den roten Punkten auf der Oberseite, nicht die daneben, mit der schwarzen Haut. Der Elbfischer macht große Bewegungen mit den Armen, als er die Fische einer nach dem anderen in Papier und dann in die Tüte packt. Und noch einen, und noch einen
schreit er dabei so laut er kann, um auch andere Kunden anzulocken. Mein Vater macht ein zufriedenes Gesicht, als wir uns auf den Heimweg machen. Siehst du
, sagt er zu mir spricht man mit den Fischern in ihrer Sprache, kriegt man auch das, was man haben will. Andere werden da häufig angeschmiert.
Zu Hause angekommen wird der Fisch in der Küche abgeliefert und die Hühner versorgt. Meine Mutter brät Speck in der Pfanne, es gibt heute Scholle nach Finkenwerder Art. Wie bei Tante Anni
schwärmt mein Vater. Tante Anni
ist ein Fischlokal auf Finkenwerder, das meine Eltern bei einem Ausflug kennen gelernt haben. Meine Mutter schimpft aus der Küche über den Fisch, der viel zu fett ist und so ein glasiges Fleisch hat. Die haben dir Butt statt Schollen angedreht, das sieht man doch an der schwarzen rauen Haut
und was hast du denn dafür bezahlt?
will sie noch wissen. Der Sonntag ist verhagelt, der Fisch schmeckt nicht so wie erwartet, ist auch noch beim Wenden in der Pfanne kleben geblieben und kaputt gegangen. Ja Platt müsste man können, und die Fischer mit ihren großartigen Bewegungen beim Einpacken der Fische besser beobachten. Aber es kommen ja noch mehr Sonntage und man ist ja lernfähig.