Meine Kindheit in den Kriegsjahren
Am 1. Januar 1938 wurde ich in Rendsburg (Schleswig-Holstein) geboren. Da meine Geburt sehr schwierig war — für meine Mutter fast lebensbedrohend — konnte ich keine Geschwister bekommen. Damit waren schon einmal drei Dinge von vornherein geklärt:
1. Alleinerbe: Keine weiteren Erbschleicher.
2. Wie meine Frau heute sagt: verzogenes Einzelkind
3. Durch den totalen Entzug der Muttermilch ist mein liebstes Getränk heute immer noch Milch.
4. Eiskalt. Wahrscheinlich ein absoluter Nachholbedarf.
Meine Eltern waren in der Landwirtschaft tätig. Kurz nach meiner Geburt bezogen sie einen etwa 16 Hektar großen Bauernhof in Mehrow, in der Nähe der damaligen Reichshauptstadt Berlin. Die Wohn-und Wirtschaftsgebäude waren neu. Mein Vater musste nach kurzer Zeit in den Krieg. Russland. Daraufhin bewirtschaftete meine Mutter den Betrieb mit zwei Kriegsgefangenen aus Frankreich. Der Nettere hieß Marcel.
Zwei junge Mädchen halfen im Haus, Hof und Betrieb. Für mich war ein 14 jähriges Mädchen eingestellt. Da der Ackerboden sehr lehmhaltig war, bauten wir viel Rosenkohl an, der problemlos nach Berlin verkauft wurde.
Aus diesen ersten Lebensjahren weiß ich nicht allzu viel. Mit dem Nachbarsohn Karl-August habe ich oft gespielt. Wir sind zum Beispiel in die Munitionskammern der nahegelegenen Autobahnbrücke gekrabbelt. Beim Anrücken des Feindes sollte die Brücke gesprengt werden. Welch ein Irrsinn. Bei Fliegeralarm ging es immer in einen selbstgebauten Erdbunker auf dem Hofgelände.
Zwischen unserem Land und der Autobahn befand sich eine Scheinwerferstation der Wehrmacht. Bei einem Luftangriff auf Berlin leuchtete sie die feindlichen Flugzeuge am Himmel an, und eine Flakstation versuchte, sie dann abzuschießen. Dadurch wurde zweimal unser Betrieb mit Brandbomben übersät, die aber keinen Schaden anrichteten.
Durch Tauschaktionen meiner Mutter gegen Lebensmittel bekam ich eine komplette Märklin-Eisenbahnanlage zu Weihnachten geschenkt. Das Schönste war ein etwas größerer Eisenbahnwaggon, bestückt mit einer schwenkbaren Flak aus reinem Messing. Damit konnte ich Stricknadeln durch die ganze Stube schießen.
Mit sechs Jahren wurde ich in Mehrow eingeschult. Nach ungefähr fünf Wochen Schulunterricht rückten die Russen immer näher auf die Reichshauptstadt Berlin zu. Aus Angst um mich schickte meine Mutter mich mit einem der Hausmädchen zu meinen Großeltern nach Hasloh (Schleswig-Holstein). Das Mädchen hieß Olga. Sie kam aus Ostdeutschland, fast von der russischen Grenze zu uns. Olga blieb bis 1948. Erst in den 1960er Jahren konnte sie ihre Mutter und Schwester wiederfinden. Die Schwester hatte, um im Gefangenlager zu überleben, in Sibirien einen Russen geheiratet. Unser Kontakt zu Olga hielt sich bis zum Tode meiner Mutter.
Olga und ich fuhren damals in einem Zug von Berlin nach Hamburg. Im Dunkeln hielt der Zug einmal an einem Militärflugplatz. Ständig landeten und starteten Stukas (Sturzkampfbomber). Irgendwann fuhr der Zug weiter und wir strandeten auf dem Bahnhof Schnelsen bei Hamburg.
Es war mitten in der Nacht und wir mussten beide auf der harten Holzbank im Warteraum schlafen. Gegen morgen konnten wir meinen Großvater anrufen. Er hatte natürlich damals schon ein Telefon. Opa ließ uns dann von einem Knecht mit einem Pferdefuhrwerk abholen.
Hasloh, Kreis Pinneberg, Schleswig-Holstein 1945, für drei Monate
Mein Großvater August Mohr, Viehhändler und Bauer, regierte seinen Betrieb aus einem extra für ihn gebauten Stuhl mit breiten Armlehnen. Opa wog damals ungefähr 170 Kilogramm. Vor ihm der Schreibtisch und das Telefon. Durch das Fenster konnte er alles und jeden sehen, der auf den Hof zukam oder ging. Ich glaube, er hat in seinem ganzen Leben nie körperlich gearbeitet. Nur Befehle erteilt. Meinen Großvater habe ich zeitlebens ob seiner Geschäftstüchtigkeit bewundert.
Auf dem Hof lebten meine Großeltern, dann der eigentliche Bauer, Onkel August und Tante Martha. Ferner die beiden Kinder Erna und Gerhard. Außerdem wohnte dort auch noch Tante Luise Mohr.
Aus Angst vor den Bombenangriffen auf Hamburg war sie aufs Land zu ihren Schwiegereltern geflüchtet. Ihr Sohn Peter, mein Cousin, wurde später mein bester Freund und ständiger Begleiter während der Jugendzeit.
Eines Tages kam noch eine Flüchtlingsfamilie aus Ostpreußen auf den Hof. Sie brachten zwölf Trakehnerpferde mit. Dadurch gewannen sie bei meinem Großvater gleich etwas Respekt und Anerkennung. Er wird garantiert beim Verkauf der Pferde die Finger mit im Spiel gehabt haben. Die Familie bezog den gesamten oberen Boden in dem großen Wohnhaus.
Ich ging in Hasloh in die Grundschule. Alle Klassen waren in einem Raum. Herrlich. Jeden Morgen das absolute Chaos. Herr Stiebeler, ich glaube der einzige Lehrer, holte erst einmal den Rohrstock hervor, und ein oder zwei Jungen bekamen richtig Schläge. Erst dann kehrte Ruhe ein und der Unterricht konnte beginnen.
Nach ungefähr drei Monaten alleine bei meinen Großeltern stand plötzlich meine Mutter auf dem Hof. Mein Glücksgefühl und meine Tränen waren unbeschreiblich.
Meine Mutter war mit einem zweispännigen Pferdefuhrwerk von Berlin nach Hasloh gekommen. Weit über 300 Kilometer. Sie hatte einen ganzen Treck mit 14 Pferdefuhrwerken nebst Familien mit Kindern angeführt und heil und unverletzt nach Schleswig-Holstein gebracht. In ihren langen Lederstiefeln trug sie zur Sicherheit eine geladene Pistole. Typisch für die Tochter von August Mohr.
Damit war für mich die Zeit in Hasloh als Wohnort vorüber.