Meine Jugendzeit in den Nachkriegsjahren
Da unsere Wohnung in Quickborn nach der Heimkehr meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft zu eng geworden war, pachteten meine Eltern 1948 in Glashütte einen circa 18 Hektar großen Bauernhof. Für mich hieß das, die vierte Grundschule und in der vierten Klasse mitten im Schuljahr auf eine unbekannte Dorfschule zu wechseln.
Das Glück war mir jedoch hold. Meine Klassenlehrerin setzte mich gleich neben den besten Schüler, damit er mich mit dem neuen Lehrstoff bekannt machen konnte. Kurz danach überzeugte sie meine Eltern, mich auf die Wissenschaftliche Oberschule in Fuhlsbüttel zu schicken. Zu damaliger Zeit ein kleines Wunder. Da die Schule in Hamburg lag und wir in Schleswig-Holstein wohnten, mussten meine Eltern monatlich 60.- D-Mark Schulgeld bezahlen. Die gleiche Summe bekam zu der Zeit ein Landarbeiter als Monatsgehalt.
Nach einer bestandenen Aufnahmeprüfung durfte ich nun in diese privilegierte Schule gehen. Jeden Tag eine Strecke von elf Kilometer mit dem Rad, und elf Kilometer zurück. Zu der Zeit war ich der einzige Bauernsohn von den ungefähr 400 Schülern auf dieser Schule. Wir waren nur Jungens, kein einziges Mädchen bekamen wir im ganzen Jahr zu sehen. Meine Leistungen waren mittelmäßig. Gegen die Söhne von Lehrern, Architekten, Anwälten und Akademikern war es nicht so leicht mitzuhalten.
In Deutsch schrieb ich, soweit ich weiß, nur einmal eine Eins. Es war ein Stimmungsaufsatz über Macbeth
. Die Aufführung hatten wir im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg gesehen. Mathematik war meine große Stärke. Hier konnte ich über einen längeren Zeitraum beste Noten einfahren. Eines Tages fragte der Mathe-Lehrer, ob wir unseren Kuhstall mit Teppichen ausgelegt hätten. Die Hamburger hatten nämlich nach dem Krieg ihre teuren Teppiche und Wertgegenstände auf den Bauernhöfen gegen Kartoffeln und andere Lebensmittel eingetauscht. Ich verstand die Frage nicht gleich und ging beleidigt mit dem Lehrer in eine fürchterliche Auseinandersetzung.
Damit war meine Eins in Mathematik futsch. Ich aber hatte für mich meine Ehre gerettet.
Während der Schulzeit habe ich auf unserem Hof kaum mitgeholfen. Wir hatten im Wechsel nach den Ferien mal Vormittags- und mal Nachmittagsunterricht, weil die Schule doppelt genutzt wurde. Heute gar nicht vorstellbar. Mit meiner Mutter hatte ich eine Abmachung. Ich brauchte nicht zu melken, dafür musste ich die Wohnräume sauber halten. Fegen, Staub saugen und Staub wischen. Zur der Zeit fing ich auch an, intensiv zu lesen. Zuerst Wildwestromane: Billy Jenkins und Tom Prox und manchmal auch der Rote Korsar. Dann bin ich auf ernsthafte und schwere Literatur umgestiegen.
Zu den Jugendlichen im Dorf hatte ich, bedingt durch die Schule, kaum Kontakt. Das änderte sich auch nicht beim Konfirmationsunterricht, weil ich die halbe Zeit wegen des Nachmittagsunterrichts in der Schule fehlte. Dafür musste ich zwei Jahre lang jeden Sonntagmorgen in die Kirche. Mit der Zeit entwickelte ich mich zum Egoisten und Einzelgänger.
Da für mich kein Beruf in der Stadt oder im Büro in Frage kam, ging ich nach Abschluss der zehnten Klasse, oder mittlerer Reife, von der Schule ab. Nach dem Ende meiner regulären Schulzeit stieg ich auf dem elterlichen Pachthof in die Landwirtschaft ein. Ich brauchte einfach die Freiheit, die Weite und die Ungezwungenheit. Da der Betrieb durch die Gebäude auf Schweinemast ausgelegt war, mästeten wir also Schweine. Da meinen Eltern aber zum Start das Geld fehlte, wurde ein Hamburger Großschlachter mit einbezogen. Er kaufte die Ferkel, er bezahlte während der Mastzeit das Futter und er nahm die fertigen Tiere ab. Meine Eltern bekamen den Arbeitsaufwand bezahlt. Mein Vater zweigte von dem gelieferten Futter etwas ab und mästete ca. 20 Schweine auf eigene Rechnung. Das war der Anfang.
Dann kauften wir uns eigene Ferkel, holten mit Pferd und Wagen, später mit einem Dreiradtempo
, altes Brot, Kartoffelschalen und Küchenabfälle aus Hamburg. Diese Abfälle wurden in einem 800 Liter-Kessel gekocht und halbwarm verfüttert. Etwas Getreide war nachher auch vorhanden.
Wir hatten damals schon 200 Hühner, die im Winter in dem warmen Schweinestall lebten und dadurch das ganze Jahr Eier legten. Die Eier verkauften wir im Hamburger Raum, in den fünfziger Jahren zu ca. 50 Pfennige das Stück.
Einige Kühe und Jungvieh hatten wir auch. Was aber wirklich Geld einbrachte, war den Anbau von Rosenkohl und Kartoffeln. Durch die riesigen Mengen an Schweinemist konnten wir auf dem ansonsten mageren 20 Punkte Sandboden, überhaupt erst Kohl anbauen. Beide Erzeugnisse ließen sich gut in der nahen Stadt Hamburg absetzen.
Nach gut einem Jahr reiner Arbeit auf dem Hof ging ich für zwei Wintersemester auf die Landwirtschaftsschule nach Bad Oldesloe. Ungefähr 30 km mit dem Bus. Dort lernte ich neben vielen anderen Bauernsöhnen auch Heinz Wullweber aus Wilstedt kennen. Seine Eltern hatten zwei 80 Hektar Betriebe. Für mich eine ganz andere Welt, aber erstrebenswert. Sein Vater, auch im Vorstand der Hansa-Meierei Hamburg, fuhr einen großen Opel Kapitän, mit dem wir des Öfteren am Wochenende zum Tanzen über die Dörfer fuhren. Ich trat damals in die Wilstedter Landjugend ein, etwa 40 Jungen und 40 Mädchen im besten Alter. Dort brachte man mir auch den Unterschied zwischen einem Jungen und einem Mädchen bei …
Kurz nach Beendigung der Landwirtschaftsschule stand plötzlich ein befreundeter Landwirt meiner Eltern auf dem Hof in Glashütte. Er suchte zum 1.Juli 1957 einen Lehrling. Es war der Landwirt (nicht Bauer) Robert Ramcke aus Quickborn. Er bildete auf seinem 40 Hektar Betrieb seit Jahren vorbildlich landwirtschaftliche Lehrlinge aus. Dieser Mann verfolgte mich von dem Tag auf an, bis zu seinem Tod, selbst in manchen Träumen.
Ich hatte gerade die Hausweide mit neuen Eichenpfählen eingezäunt. Eingegraben in einem gleichen Abstand (ungefähr) auf der alten Grenze entlang. Die Pfähle standen aber nicht genau in einer Linie. Der Kommentar von Robert Ramcke: Für die gleiche Arbeit hättest Du sie auch in eine Flucht setzen können
, Er hatte recht, und das saß fürs Leben.
Robert Ramcke wurde mein Lehrchef und später mein Schwiegervater.
Der Lehrbetrieb in Quickborn war 40 Hektar groß. Davon 24 Hektar Dauergrünland und 16 Hektar Ackerland. Guter 40 Punkte Boden, anlehmiger Sand. Die Gebäude waren groß und in einem sehr guten Zustand. Es waren noch zwei Lehrlinge auf dem Betrieb. Außerdem half in seiner vielen Freizeit noch ein Bundesbahnarbeiter. Im Haushalt waren Frau Ramcke, Tante Martha zum Kochen, das Hausmädchen Tussie und die nette und manchmal recht freche Tochter Lotti, 14 Jahre alt.
Das Hauptaugenmerk des Betriebes galt dem Grünland. Die Heuernte war das Wichtigste. Das Milchvieh wurde im Winterhalbjahr im Stall mit der Melkmaschine gemolken und im Sommer auf der Weide mit der Hand. Dieses Melken hatte ich schon immer gehasst, und die armen Kühe haben das auch wahrscheinlich gemerkt: ein dreckiger Schwanz um meine Ohren, und der Melkschemel landete an der Kuh!
Die schwarzbunten Holsteiner-Kühe waren großrahmig und schwer. Die Milchleistung ließ zu wünschen übrig, aber beim Verkauf der jungen Tiere, zum Teil bis nach Bayern, kaufte damals das Auge mit. Die prächtig aussehenden Kühe brachten gutes Geld, durch ihr Gewicht auch beim Schlachter. Da der Chef im Vorstand der Rinderbesamungsgenossenschaft saß und für den Einkauf der schwarzbunter Zuchtbullen zuständig war, steuerte er natürlich diese Zuchtrichtung in seinem Sinne.
Der Ackerbau war eine sogenannte normale Dreifelder- Wirtschaft: Kartoffeln, Getreide und Rüben. Die Kartoffeln und das Getreide zur Hauptsache für die Schweinemast. Die Ferkel stammten von eigenen Zuchtsauen. Ein elf PS Deutz Trecker wurde zum Pflügen gebraucht und zum Mähen bei der Heuernte. Ansonsten wurden alle Arbeiten noch mit Pferden durchgeführt.
Wir haben die Getreidefelder noch mit der Hand rundherum abgemäht und mit der Hand aufgebunden, den Rest dann mit Trecker und Selbstbinder geerntet. Das Schlimmste in diesem Lehrjahr war die Heuernte. 24 Hektar Heu — durch gute Pflege und viel Kunstdünger optimale Mengen — mit der Hand auf den Wagen laden, das machte erst stark, dann aber ganz fertig.
Was einen aber immer wieder aufmunterte, war das gute Essen, die harte aber korrekte Haltung des Lehrherren uns gegenüber und immer mal eine Aufmunterung. Zum Beispiel ging es nach der Heuernte mit Mann und Maus, mit dem Opel Olympia an die Ostsee. Auf der Rücktour wurde in Kayhude Rast gemacht. In einem guten Restaurant gab es Kaffee und Kuchen. Kurz vor Weihnachten ging es dann noch einmal mit der Familie und den Lehrlingen zum Hamburger Dom.
In der Freizeit und nach Feierabend hatten wir viel Spaß auf dem Hof. Drei Lehrlinge und Lottis Freundinnen, es gab viele Möglichkeiten, sich zu necken. Die 15jährige Lotti habe ich auf einem Heuwagen, auf dem Heimweg aus den Wiesen, zum ersten Mal geküsst. Wir haben uns ewige Treue geschworen. Romantisch: ein quirliges Schulkind und ein reifer junger Mann. Für einige Jahre haben wir uns aber dann aus den Augen verloren. Meine Gehilfenprüfung habe ich schließlich mit der Note Sehr gut
bestanden.
Als am 1.Juli 1958 die Pacht in Glashütte abgelaufen war, übernahmen meine Eltern einen alten Bauernhof als Pachtbetrieb von einem Ehepaar in Heidrege, Kreis Pinneberg. Für mich war der Abschied aus Glashütte nicht ganz einfach, wenn nicht sogar sehr schmerzlich.
Wer einmal mit einem ganzen Bauernhof umgezogen ist, wird mich vielleicht verstehen. Pferde, Kühe, Schweine, landwirtschaftliche Maschinen und Möbel, das Alles musste von Glashütte nach Heidrege. Unser Nachbar Gustav half uns dabei. Mit seinem großen Lkw fuhr er sonst die Milch zur Hansa-Meierei und Lebendvieh zum Hamburger Schlachthof.
Am letzten Tag habe ich in meinem Zimmer gestanden und geweint. In einem Zimmer, in dem es keine Heizung gab, wo im Winter die Eisblumen die Tapeten verzierten, aber es war mein persönliches Reich.
Hier war ein Lebensabschnitt, meine Kindheit plötzlich zu Ende.