Mein erstes Fahrrad
Einige Monate vor der Währungsreform, am 14. März 1948 wurde ich in der Andreaskirche, in der ich 1933 getauft wurde, konfirmiert. Meine Freundin Hildegard und ich gingen seit Monaten jeden Sonntag zum Gottesdienst. Meine Mutter fand das sehr übertrieben, sie wusste ja nicht, dass wir unsterblich in Pastor Witte verliebt waren.
Weihnachten war die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt und wir durften uns auf die Stufen zum Altar setzen, was uns nur Recht sein konnte, waren wir ihm doch so sehr nahe. Mein Weihnachtswunsch, ein Fahrrad war mal wieder nicht in Erfüllung gegangen. Vielleicht würde es ja zur Konfirmation etwas werden.
Seit geraumer Zeit stand nun die Kleiderfrage im Vordergrund, was ziehe ich zur Konfirmation an. Hildegard hatte noch zwei Geschwister, ihre Mutter war Kriegerwitwe und dadurch berechtigt, einen Bezugschein für ein Kleid zubekommen. Wir bekamen so einen Schein nicht. Meine Mutter hatte zwei Brüder in Amerika, die uns hin und wieder mit Care-Paketen unterstützt hatten und sie bat diese, wenn möglich ein dunkles, abgelegtes Kleid meiner Cousine für mich herzuschicken. Das Kleid kam an und ich war entsetzt, damit sollte ich zur Konfirmation gehen? Es handelte sich um ein schwarzes Chiffonkleid, das Vorderteil in kleine Fältchen gelegt, von der Schulter bis zum Saum - und durchsichtig!
Von meiner Großmutter wurde ein schwarzes Unterkleid ausgeliehen. So ausstaffiert meinten Mutter und Tante Erna: Toll siehst du aus, so ein schönes Kleid hat sicher kein anderes Mädchen.
Ich selbst fand, dass ich schrecklich aussah, so als ginge ich zu einer Beerdigung. Hildegard hatte ein königsblaues Wollkleid mit Goldknöpfen, die von oben bis zur Taille auf jeder Seite schräg nach unten verliefen. Sie war zu beneiden.
Nun musste noch die Frage der passenden Schuhe geklärt werden. Wir gingen zu Schuh-Timm am SchulterblattDer Name der Straße leitet sich von einem Wirtshaus Zum Schulterblatt
ab, das Mitte des 17. Jahrhunderts (erste Erwähnung im Altonaer Grundbuch: 1717) das bemalte Schulterblatt eines Wals als Erkennungszeichen verwendete. Dieses Schild ist heute im Museum für Hamburgische Geschichte zu besichtigen. (1). Ich entschied mich, nach einigen Kämpfen mit meiner Mutter für ein Paar schwarze Pumps mit einem ziemlich hohen Keilabsatz aus Holz. Darauf zu laufen war nicht einfach und sogar ziemlich anstrengend, aber die mussten es sein.
Vorbereitungen für eine Feier oder Einladungen an Verwandte gab es nicht. Der Tag meiner Konfirmation hatte sich mit dem Kirchgang erledigt und ich musste zu meiner Erleichterung feststellen, dass es noch schlechter gekleidete Mädchen gab als ich. Zu Hause angekommen gab es Geschenke von der Familie und den Nachbarn, zum größten Teil waren des Geldgeschenke. Das Geld wurde gezählt und es kamen fast 1.000 Reichsmark zusammen.
Ich hatte schon lange mit einem Fahrrad geliebäugelt, das aus verschiedenen Einzelteilen vom Fahrradhändler Sievers in der Rentzelstr. zusammengesetzt worden war. Oft saß ich in dem geöffneten Fenster der Werkstatt, das zu ebener Erde in unseren Hinterhof hinausging. Mit Herrn Sievers hatte ich mich schon des öfteren unterhalten und ihm gesagt, dass ich mir ein Fahrrad wünsche. Er meinte, ja da spar mal schön und dann kannst du dir eines Tages eins kaufen. Nun war es endlich so weit. Am nächsten Morgen nahm ich mein Geld, nachdem ich alle Vorschläge meiner Mutter, was ich alles mit dem Geld machen könnte, abgelehnt hatte und begab mich zum Fahrradhändler Sievers. Der staunte nicht schlecht, als ich ihm das Geld auf den Tresen legte und sagte: Ich hätte gern das Fahrrad.
Er holte das Fahrrad und erst jetzt sah ich, dass es ein Herrenfahrrad war und aus verschiedenfarbigen Teilen zusammen gebaut war. Herr Sievers gab mir noch einen Topf schwarze Lackfarbe und einen Pinsel mit und meinte, wenn du es damit anmalst, sieht es nicht mehr so zusammengesucht aus. Voller Stolz nahm ich mein Fahrrad in Empfang, hängte den Farbtopf an den Lenker, steckte den Pinsel in die Tasche und machte mich hoch beglückt auf den Heimweg.
Als ich den Laden verlassen hatte, wollte ich mich gleich auf den Sattel schwingen und stellte fest, das war gar nicht so einfach mit dieser Mittelstange, die immer im Weg war. Nach anfänglichen Schwierigkeiten kam ich immer besser damit zurecht, nur aufzusteigen wie die Jungen, mit einem Bein über das Hinterrad, habe ich auch nach unzähligen Versuchen nie geschafft. Wunderbare Touren habe ich mit meiner Freundin Lotti - Hildegard besaß leider kein Fahrrad - und dem Nachbarsjungen Günter unternommen. Ich erinnere mich, dass wir auf der Autobahn bei Harburg gefahren sind und in den angrenzenden Wäldern Bickbeeren gepflückt haben. Autos sind uns dort nie begegnet. Die 1.000 Reichsmark waren also sehr gut angelegt, zumal zu der Zeit ein Pfund Bohnenkaffee auf dem schwarzen Markt 500 Reichsmarkt kostetet. Ich denke, dann war das Fahrrad ein echtes Schnäppchen.
Mein erstes Damenfahrrad habe ich mir 1951 als Lehrling auf Raten gekauft. Bis heute bin ich eine begeisterte Radfahrerin.
(1) Ort der Handlung: Hamburg-Grindel, Schulterblatt ist der Name einer Straße