Evakuiert nach Bayern
Die Bombennächte von Hamburg hatten meinen Eltern, meiner Tante Erna und meiner Großmutter alles genommen, was sie besaßen. Das Rote Kreuz versorgte uns mit Kleidung und dem Nötigsten. Für meine Großmutter begann eine Zeit, von der sie noch viele Jahre später schwärmte. Zum ersten Mal in ihrem Leben besaß sie einen Mantel, bisher hatte sie nur ein Umschlagtuch, Sommer und Winter. Sie erhielt zum Beispiel einen Schirm und eine Handtasche, beides ließ sie nicht mehr aus den Augen.
Die Wohnung meiner Tante Ilse in Altona, bei der wir alle untergekommen waren, wurde auf die Dauer zu eng und mein Vater, der inzwischen Urlaub bekommen hatte, beschloss, ihr seid außerhalb der Stadt besser aufgehoben. Er sagte wohlweislich nicht, dass er uns aufs Land bringen wollte, denn meine Mutter war ein Großstadtmensch. Und somit machten wir uns mit sieben Personen auf den Weg.
Die erste Station war Uelzen, dort besaßen Verwandte meines Vetters Heinz, der mit uns kam ein Haus, in dem wir für einige Zeit aufgenommen wurden. Immer wieder ging mein Vater zum Bahnhof um Fahrkarten für uns zu besorgen und eines Morgens war es soweit. Er hatte Fahrkarten nach Kronach in Bayern, die nur unter schwierigsten Verhältnissen zu haben waren, das heißt er musste seinen Schinken, den er von einem Bauern bekommen hatte, dafür hergeben. Meine Mutter war entsetzt, was sollten wir in Bayern? Mein Vater erklärte ihr: Solange noch Bombenangriffe auf Hamburg zu erwarten sind, müsst ihr in Sicherheit gebracht werden und außerdem wo willst du wohnen, ein Großteil Hamburgs ist zerstört?
Sobald es wieder sicherer ist, hole ich euch zurück.
Alles Jammern half nichts, sie musste mit.
Auf dem Bahnhof war der Teufel los, eine riesige Menschenmenge wartete auf den Zug nach Bayern. Es handelte sich um einen Transport ausgebombter Familien, die nicht bei Angehörigen oder anderweitig untergebracht werden konnten. Für Heinz und mich begann ein richtiges Abendteuer. Der Zug war überfüllt, die Menschen, die nicht warten konnten, durch die Türen in den Zug einzusteigen, kletterten mit ihren geretteten Habseligkeiten durch die Fenster. Die Gänge im Zug waren so voll, dass man weder vor noch zurück konnte. Die Kommunikation innerhalb des Zuges klappte hervorragend. Mein Vater bat einen Soldaten folgende Frage weiterzugeben: Sind Oma Fiffi, Tante Erna nebst Freundin im Zug?
Nach kurzer Zeit bekam er die Antwort: Alle da.
Meine Eltern, Heinz und ich hatten vor der Toilette Platz gefunden. Die Toilette konnten nur die benutzen, die in unmittelbarer Nähe standen, so dass wir immer mal wieder auf dem Klo Platz nehmen konnten, wenn wir nicht mehr stehen mochten.
Am Abend legte meine Mutter eine Wolldecke auf den Boden der Toilette und Heinz und ich legten uns darauf schlafen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel als wir endlich in Kronach ankamen. Die Erwachsenen waren erschöpft und müde von der anstrengenden Fahrt, nahmen ihr weniges Gepäck und begaben sich zu den Sammelplätzen. Von dort ging es auf Pferdefuhrwerken in die einzelnen Dörfer der Umgebung. Wir landeten im Dorf Friesen. In dem einzigen Gasthof in der Mitte des Dorfes nahmen wir Platz. Die Einwohner des Dorfes kamen und musterten uns argwöhnisch, denn sehr vertrauenerweckend sahen wir bestimmt nicht aus. Der Bürgermeister hielt eine kurze Begrüßungsansprache und bat seine Mitbewohner, die Personen anzusprechen, die sie aufnehmen möchten.
Eine Frau kam auf mich zu und fragte: Möchtest du mit mir kommen? Wir wohnen hier gleich gegenüber.
Meine Mutter nickte mir zu und ich ging mit. Die Familie besaß ein Sägewerk und es war sehr laut als wir durch das Tor zum Wohnhaus gingen. Die Frau nahm mich mit in die Küche, dort stand ein riesiger gedeckter Tisch. Sie wies mir einen Platz in der äußersten Ecke an. Erst später sah ich, das ich direkt unter dem sogenannten Herrgottswinkel, den ich bis dahin nicht kannte, saß. Nacheinander kamen nun die Arbeiter des Sägewerks in die Küche. Jeder der hereinkam, sah in meine Richtung, machte einen Knicks und eigenartige Zeichen mit der rechten Hand zur Stirn und zu beiden Seiten der Brust. Ich fühlte mich sehr unbehaglich und dachte, irgendetwas Ungewöhnliches müsste auf meinem Kopf sein, deshalb wischte ich mehrmals mit der Hand darüber, aber keiner kümmerte sich darum. Als alle am Tisch saßen, wurden riesige Schüsseln aufgetragen. Ich weiß nicht mehr was es zu essen gab, aber es hat wunderbar geschmeckt. Nach dem Essen zeigte man mir ein Zimmer, in dem ich von nun an schlafen sollte. Es befand sich im ersten Stock und vom Fenster aus sah man auf das Wasser, das die Maschinen im Sägewerk antrieb.
Als ich zurück in den Gasthof kam, waren meine Tante, deren Freundin und meine Großmutter auch schon untergebracht. Nur meine Eltern und Heinz, der auf dem Schoß meiner Mutter saß, waren noch da. Meine Mutter sagte zu mir: Vati und ich wissen auch schon wo wir wohnen werden, nur Heinz will nicht allein zu einer fremden Familie. Geh’ jetzt rüber zu deinen Leuten und sage, dass du nur dort bleibst, wenn Heinz mitkommen darf. Mir war das sehr peinlich, weil die Menschen so nett zu mir waren. Aber es blieb mir nichts anderes übrig, ich musste gehen. Die Frau, die mich mitgenommen hatte machte es mir sehr leicht, sie meinte: Aber selbstverständlich kannst du ihn mitbringen, ich wusste ja nicht, das er zu euch gehört.
Schnell holte ich Heinz und auch er bekam erst mal was zu essen und ein Zimmer neben dem meinen.
Für uns begann eine herrliche, leider viel zu kurze Zeit in Bayern.