Ostpreußen 1941: Flinsen für eingesperrte Soldaten
Bevor die deutschen Truppen 1941 nach Russland einmarschierten, glich ganz Ostpreußen einem riesigen Heerlager. Trotzdem glaubte noch niemand an einen Krieg mit Russland, Russland war doch zehnmal so groß wie Deutschland! So vermessen würde Hitler ja wohl nicht sein und mit diesem Riesenreich einen Krieg anfangen!
Manch einer zerbrach sich wohl den Kopf über das viele Militär, was sollte das nur bedeuten? Die Soldaten lagen zwar in Ruhestellung, waren aber in Alarmbereitschaft. Jedenfalls schrieben viele Soldaten ihren Lieben daheim, ob Mutter, Frau, Schwester oder Freundin, …hier ist alles ruhig! Kein Gedanke von wegen Krieg! Du kannst mich hier besuchen, musst nur bis zur Bahnstation
sowieso
fahren und von dort hol ich Dich ab! Musst mir nur den genauen Zeitpunkt Deines Eintreffens rechtzeitig bekannt geben!
Und die Eingeladenen kamen nach vorheriger Absprache - sie wurden auch von ihren Soldaten abgeholt! Aber da gab es einen Pferdefuß, der anfangs nicht recht bekannt war oder vielleicht auch hier und da nicht so ernst genommen wurde. Jedenfalls musste jeder Soldat, der von seinem Quartier in einen anderen, entfernten Ort wollte, einen Urlaubsschein von der Kompanie haben! Und den gab es wohl in keinem Falle, das Militär war ja in Alarmbereitschaft! Und dennoch dachte mancher Soldat, was kann mir da schon passieren, und fuhr am besagten Tag und zur besagten Stunde zum vereinbarten Bahnhof. Da der Besuch ja oft eine weitere Reise hinter sich hatte, ging man mit ihm in ein Lokal, um dort etwas zu essen oder zu trinken oder auch beides!
Aber bald schon tauchten bereits auf dem Bahnhof die Militärpolizisten, die im Volksmund auch Kettenhunde
oder Kameradenklau
genannt wurden, auf, um die Urlaubsscheine zu kontrollieren, die jedoch meist gar nicht vorhanden waren. Die Folge war, Meldung an die jeweilige Kompanie. Kam der Ertappte zurück, wurde er wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe zu 2-3 Tagen Arrest verurteilt. Ja, aber wohin mit dem Verurteilten? Die Armee lag ja doch in Alarmbereitschaft. Würde man ihn in ein richtiges Gefängnis stecken, wie würde man ihn dann im Ernstfall schnellstens zur Einheit zurückbekommen?
Also musste man einen Ausweg erfinden, der war dann wie folgt: In jedem größeren Ort - das waren gewöhnlich die Dörfer, in denen eine Kirche stand - wurde ein Knast
eingerichtet, mal im Spritzenhaus der Feuerwehr (die auch immer ihre Spritze im Kirchdorf hatte), mal sogar im privaten Bereich.
Nun hatte ich in unserem Kirchdorf eine Schwägerin. Der Schwager war selbstverständlich auch Soldat. Deshalb hatte sie fremde Leute zur Hilfe bekommen. Mit in ihrem Haushalt lebte noch eine Oma. Omas wurden in der Landwirtschaft gebraucht, wer sollte denn auf die Kleinsten achten, wenn die Eltern auf dem Feld arbeiteten? Und oft, sehr oft sogar, haben die Omas auch das Essen für die ganze Familie gekocht.
Zurück zur Schwägerin. Ihre Waschküche auf ihrem Hof wurde beschlagnahmt, weil man sie von außen betreten konnte. Vor dem Fenster kamen Eisenstäbe, die Tür konnte man von außen verschließen und fertig war das Zimmer für den Kurzurlaub mit Wasser und trocken Brot
. Es dauerte auch nicht lange, da bezog
der erste Insasse sein neues Domizil. Die Oma meiner Schwägerin schaute sich das an und fällte ihr ganz privates Urteil.
Eines Tages sagte zu ihrer Enkeltochter: Frieda, heut bringst mir mal paar Kartoffel mehr aus dem Keller. Aber sicher
meinte Frieda, Du kannst doch so viel Kartoffel haben, wie Du nur brauchst! daran liegt doch nichts!
Sie wunderte sich aber, warum die Oma heute mehr Kartoffeln als sonst haben wollte. Als sie dann mit ihren Kartoffeln aus dem Keller oben war, da war die Oma in Fahrt. So richtig auf hundert! Datt göft it nich
schimpfte sie im allerbesten ostpreußischen Plattdütsch, unsre Jungs die soll'n
in Krieg und müssen vorher hungern? Datt göft it nich!
Und dann hat Oma Helene Demant aus Rodebach, Kreis Ebenrode Kartoffelpuffer zum Mittagessen gebacken. Das Küchenfenster stand ganz weit offen, damit der Ölgeruch über den ganzen Hof duften konnte!
Als die ersten Kartoffelpuffer fertig waren, ging sie zur Waschküche, klopfte ans Fenster und rief: Soldatche, mechten Se vielleicht paar Kartoffelflinsche?
Flinsen
hießen die Kartoffelpuffer in Ostpreußen, ob nur auf dem Lande, das weiß ich nicht mehr. Na und welcher Soldat, der da bei Wasser und trockenem Brot fest sitzt, sagt bei dem Duft nein
, selbst wenn er das Wort Flinsche
gar nicht kennt und nicht mal weiß, was das überhaupt ist!
Und so hat Oma Helene so manchem Knacki eine kleine oder gar eine große Freude gemacht. Das ging so lange gut, bis die Soldaten gen Russland marschierten. Da musste Oma Helene keine Flinsen mehr für das arme Soldatche
backen. Vielleicht lebt heute noch jemand von den ehemaligen Knackies
und denkt an Oma Helene und ihre Flinsen zurück.
Jedenfalls ging das Gerücht hinter vorgehaltener Hand unter den Soldaten umher: In Rodebach in den Knast gehen, ist gar nicht so schlimm. Brauchst keine Angst haben, dass da hungern musst!
Zum Glück verbreitete sich das Gerücht nicht unter einer gewissen Schicht des Militärs, sonst wäre das für die alte Dame sicher nicht gut ausgegangen.
Warum Oma Helene das Küchenfenster weit aufsperrte? Der ganze Hof sollte doch nach Öl riechen. Es hätte ja sein können, dass der wachhabende Soldat, der Wasser und Brot brachte, in der Waschküche verdächtige Ölgerüche bemerkt hätte! Aber, aber! Der Soldat darf doch auch mal sein Verlies lüften und was kann er denn dafür, dass auf diese Weise ein verlockender Ölduft auch in seinen Raum kommt?
Ja, Oma Helene war clever. Gewusst wie!