1948 – Das Jahr der Währungsreform
Der Krieg steckte mir noch in den Knochen, aber es half ja nichts, ich musste arbeiten statt zu schießen und mein erstes kärgliches Brot verdiente ich mir als Musiker in einer Band. Wir spielten für die Engländer und wurden in Zigaretten bezahlt.
Wenn der Schmalz symbolisch troff beim hundertsten Erklingen der zuckersüßen Caprifischer
, dem unbestrittenen Dauerbrenner im Repertoire, konnte ich sicher sein, in der Unterhaltungsbranche des Army Welfare Service fest etabliert zu sein. Rudy Gutermuth, ein freundlicher junger Pianist und Bandleader, hatte mich engagiert für die von ihm gegründete Tanzkapelle Candy's
, die den Briten aufspielte mit der Besetzung Gitarre, Schifferklavier, Schlagzeug und Klavier. Die monatliche Garantiesumme betrug stolze 400,- RM (einschließlich der Sachwerte nach Zeitkurs) Das Kieler Arbeitsamt hatte bestätigt, Jürgen Voigt sei überwiesen an die Berufsgruppe 27 d4, und zugelassen und anerkannt vom Deutschen Musiker-Verband. Das Spiel mit den aus dem Radio abgehörten und nachgespielten Chorussen
ging nach einigen Proben ganz ordentlich, Rudy gab den Takt vor, ich spielte wie immer nach Gehör. Trotzdem verliefen die Stunden der Nacht zäh im Sande, und nicht immer klatschte unser englisches Publikum satten Beifall. Manchmal waren die Soldaten so freundlich, die Deutschen auf den Truck zu laden und in die Stadt zu fahren. Dann mochte es sein, dass eine Maid voll des süßen Schnapses gegen mich fiel und mir den Alkohol ins Gesicht blies. Gegen morgen fanden wir uns im verschneiten Park wieder, doch wie es da weiterging, ist nicht überliefert. Aber: Es war ein Glück auf Zeit. Wie ein Damoklesschwert hing über uns allen das nicht zu bremsende Gerücht, es werde bald Schreckliches geschehen mit der Reichsmark und dann sei alles anders als je zuvor und die Deutschen noch ärmer und kein eingespielter Schwarzer Markt sei mehr da mit seinen festen Preisen.
Im Kino am Dreiecksplatz liefen Filme, die vor allem die junge Generation in den Bann schlugen, Film ohne Titel
mit der Knef und dem Söhnker; oder Berliner Ballade
von Stemmle und Günter Neumann. Christian Blech brillierte in Affaire Blum
, Busen waren zu bewundern in Bitterer Reis
und de Sica kam mit dem realistischen Film Die Fahrraddiebe
. Später Rosselinis Deutschland im Jahre Null
. Die Nummer 100 der ostzonalen Wochenschau Der Augenzeuge
brachte 1948 eine tendenziöse Berichterstattung zur Berlinkrise:
An den Zonengrenzen. So ging das seit langem: Täglich gingen Hunderte, Tausende illegal über die Zonengrenze. Die meisten von ihnen: kleine Hamsterer. Was einer von ihnen im Koffer oder im Rucksack davon trug, war nicht viel. Aber Tausende und Abertausende solcher Fälle wurden zu einer Gefahr für die Ordnung und Versorgung der Zone. Nicht immer handelte es sich um kleine Hamsterer. Unter den illegalen Grenzgängern befanden sich Schädlinge, Agenten, Saboteure. Mancher konnte sich von der verbotenen Naziliteratur nicht trennen. Aber es gab noch schlimmere Fälle: Westbanditen und Schwarzhändler, die die Sabotage im Großen organisierten. Freilich gehen sie dem Augenzeugen nicht vor die Kamera…
Die Berliner Illustrierte
berichtete auf ihrem Titelblatt lobend vom Wiederaufbau des Dresdner Zwingers, aber da konnte niemand hinfahren. Die Welt
publizierte Auszüge aus den Tagebüchern des Josef Goebbels, für die sich kaum jemand interessierte. Schlimmer: Bahnen und Trambahnen waren hoffnungslos überfüllt, kaputt und meist ohne Fenster, es fehlte an Ersatzteilen und Baustoffen.
All das und mehr fand in der in der Provinz eine geringe Resonanz, Politik? Nichts für mich!
Dumpfe Ahnungslosigkeit und Ignoranz waren bei vielen Menschen die Kennzeichen der Zeit. Keiner der jungen Leute aus meinem Umfeld bewarb sich um ein politisches Amt, um Verantwortung, niemand dachte an das Wohl des Ganzen – jeder an sich und die wenigen Menschen, für die er zu sorgen hatte. Not machte egozentrisch, neidisch und unsozial. Was kümmert mich der Staat, hab mit mir selbst zu tun
. Auch ich konnte in mir keine dicke Ader für das Politische entdecken, meine Welt war klein und diesseitig konzentriert auf ein paar Blocks um Holtenauer- und Esmarchstraße, das Hindenburgufer, den Dreiecksplatz.
Ich ermunterte die Hausfrau, einen Zettel am Theater zu befestigen, sie habe ein Zimmer an Schauspieler zu vermieten. Sogleich erschien eine echte Theaterdiva – die fest engagierte Salondame Katharina und bezog das einstige Mädchenzimmer links von der Haustür mit eigenem Klo gegenüber. Es war gemütlich und die Diva geruhte es zu bewohnen, wenn die vielen Stunden Proben und Aufführungen ihr Zeit dazu ließen. Sie brachte den fremden Duft der Bühne mit. Mein Herz hüpfte und sang bunte Lieder. Ich war verliebt. Aberstunden brachte ich zu, am Bette sitzend, die Texte in der Hand – Rollen lernen, Rollen abhören. Raub der Sabinerinnen
, wundersam… spannend Diener zweier Herren
… Was ihr wollt
, der Blick auf das schmale Antlitz, umrahmt von dunklen Locken, die edel geschwungene Nase mit den vibrierenden Flügeln, der klassische Mund mit leicht herabgezogenen Winkeln. Beine einer Tänzerin, ein Busen wie ein klassisches Gemälde.
Die Kippe teilte sie mit dem Jüngling, mehr aber auch nicht. Ließ es sich gnädig gefallen, geliebt, bedient, artig angeschaut zu werden, wenn sie sich stundenlang abschminkte mit Pfunden von Nivea, wenn sie seufzend die Kleider fallen ließ ohne Scham und sich niederließ auf dem Lager nach Stunden der Pein. Sie sprach gern, gebildet, aber intolerant, großzügig im Materiellen. Liebe sei ihr zu anstrengend, aber Spaß an der Erotik habe sie schon. Sie spielte beim Regisseur Rudolf Sellner, der seine klassischen Stücke, wie Die Perser
, auf langen, ins Parkett reichenden Schrägen zu etablieren pflegte, keine Wonne für die schief stehenden Füße der Schauspieler. Und im Kassenhäuschen des Stadttheaters türmten sich die Briketts, denn jeder, der eine Karte wollte, musste zuvor ein solches Ding zum Heizen des Hauses abliefern. Dort erlebte ich den grandiosen Solotänzer Harald Creutzberg, wie er in seiner Garderobe fleißig an einem roten Pullover strickte. Nu lasst mich doch …
sagte er. Der scheue Dieter Borsche wanderte in den Kulissen umher und sprach den Text des Hamlet vor sich hin.
Für den großen Presseball kleidete die Diva sich unter den anfeuernden Rufen ihrer Verehrer in dunkelgrüne New Look Gewänder mit langen Rüschenröcken, die feinen Öhrchen verziert mit leise schaukelnden Phalli aus purem Gold. Katharina heimste Erfolge ein und wurde nicht müde, von den Elogen ihrer Kollegen und Freunde zu erzählen. In der Gemeinschaftsküche mischte Katharina die Zutaten zum Heringssalat, beginnend mit der gequirlten Heringsmilch – und erzählend mit schauspielerischen Betonungen von ihrem Vater, der seinerzeit ein beliebter Indianerschriftsteller gewesen sei, fast so berühmt wie Karl May. Und es ist seltsam – wissend um die gänzliche Vergeblichkeit meiner pubertätspickeligen Werbungen – ließ ich nie nach, die Diva anzubeten wie ein höheres Wesen von der Bühne, die bekanntlich die Welt bedeuten. Und ich litt tausend Qualen mit ihr, als sie sich einer schmerzhaften Kieferresektion unterziehen musste und tagelang nicht proben durfte. Ging mit zum Pater Kienzinger, gegenüber in die katholische Kirche, denn Katharina hatte gemeint, es wäre so schlecht doch nicht, im Glauben überzutreten, - oder? Aber ich wusste es nicht. Nur dass der Pater ein schöner Mann war.
Es kam, was kommen musste, die Dämmerung der so primitiven und irgendwie stets funktionierenden Naturalienwirtschaft. In ihr hatte man sich eingerichtet, kannte seine Lieferanten und ihre Preise und Qualitäten. Und irgendein verstecktes Wertstück, ein silberner Löffel, ein kleiner Perser, das alte Ohrgehänge, fand sich immer, wenn es nicht mehr weitergehen wollte. Aber die ganz oben hatten über den Bürger hinweg beschlossen – es müsse sein. Die Welt
verkündete in ihrer Ausgabe vom 19. Juni 1948 auf der Titelseite:
Der Schwarzmarkt, alles am Ende, wertlose Reichsmark lagen auf den Straßen, dienten als Fidibus für Pfeifenraucher. Mutter Erika notierte resigniert:
Erfreulich ist, dass wir wieder fast alles kaufen können, dass Obst, Gemüse, Fische frei und in großen Mengen zu kaufen sind. Eier sollen auch frei sein, aber es gibt keine. Fett, Fleisch, Nährmittel und Brot bekommt man nur auf Karten, schwarz kann man nichts mehr kaufen. Ich muss im Monat 81 Mark Miete zahlen, wovon die Studenten, meine Mieter, 50 Mark tragen, 6 Mark bringt die Bodenkammer ein. Wir hoffen auf ein Wunder. Und nun ist es so verlockend einzukaufen, es gibt Kleider und Wäsche, aber alles doppelt so teuer wie vor dem letzten Krieg. Wir haben jeder eine Kleiderkarte, 20 Punkte kostet ein Kleid, jeder hat zwei Schuhpunkte, acht braucht man für Lederschuhe. Aber diese Schuhe kosten dann 18 - 20 Mark für mich, Herrenschuhe noch mehr. Süßigkeiten gibt es auch in Mengen, zwar auf Zuckerkarten, aber davon haben wir genug: zwei Pfund pro Kopf im Monat. Wir bekommen Backpflaumen, Rosinen, Zitronen, Tomatenmark auf Karten, frische Tomaten frei. Zu Beginn der Währungsreform konnte für jede Person 60 Mark altes Geld abgegeben werden, dafür bekam man 60 Mark neues Geld in zwei Raten. Kleine Bankkonten verfallen, von größeren bekommt man 10%. Ich hatte noch 60 Mark auf meinem Konto.
Rudi Gutermuth musste mich entlassen, gab mir ein gutes Zeugnis, das meine Harmoniekenntnisse und die saubere Schlagtechnik lobte. Ich bewegte mich nun abwärts. Vom sauberen Army Welfare Service hinab in das schmuddelige Hotel International
an der Holtenauer Schleuse. Eine finstere Bar, ein düsterer Puff. Für 350,- DM brutto sollten wir jeden Tag von 20.00 bis 24.00 und zweimal bis 03.00 Uhr spielen. Mit den eiskühlen Kollegen Knoche und Wolbert saß ich auf der Holzempore vor einem desolaten Tanzsaal. Ton und Bild waren deprimierend und hatten mit gepflegter Combomusik nichts mehr zu tun. Knoche lachte sich die Ille an und zog mit ihr ins winzige Bodenzimmer mit hauchdünnen Wänden. Ich fragte sie, gehst du auf den Strich
? Ich? Nein, was denkst du denn, bist du blöd
? Harms, der Wirt keifte sie an: du hast alle Huren rausgeekelt, du blödes Aas, und der Puff steht und fällt doch mit den Huren
! Den Polen und Engländern, die mit ihren Schiffen in der Schleuse lagen und auf einen Drink etc. hereinkamen, war es egal. Sie wollten deutsche Girls, Zigaretten, Wodka. Und tanzen, ganz eng. Nachts zog die Wirtin ihr schwarzes Kleid an und tanzte auf dem Tisch. Gejohle, alle voll bis zum Kragen. Dann verhaute der Wirt seine Frau – später, wenn er ganz besoffen war, sie ihn. Mit der Gage haperte es erheblich, der Wirt meinte, die Combo sollte sie doch abessen. Mitte Dezember hatte der Spuk ein Ende – und mündete in der Arbeitslosigkeit.
Wenn ich nach Hause kam, müde, verzagt oft und unzufrieden mit mir und meinem Schicksal, blickte ich still auf den weiten Hof. Ein paar trübe Sandkästen, kleine Schrebergärten für Gemüse und Tabakpflanzen (genannt Bahndamm Schattenseite
) – dahinter eine klaffende Bombenlücke. Mutter hatte ihre gebänderte Gitarre herausgeholt und spielte in D-dur Es blühen die Rosen
, ihr Lieblingslied. Bald würde sie ihre Familie verlassen und in einem Sanatorium wieder einmal versuchen, ihre Tuberkulose loszuwerden. Bruder Rüdiger rutschte auf dem Teppich hin und her und spielte Eisenbahn. Hausfreund Hans kam vom Dienst: Wo steht das Essen, bin ich hungrig! Es war meine Welt, für die ich schlecht besoldet arbeitete. Mehr hatte ich nicht im Kopf – in jenen Tagen.