Die traurige Geschichte des Mr.Nowlan
Wenn man durch das schöne Irland fährt, erkennt man wie in einem grünen Freilichtmuseum noch überall die Spuren einer furchtbaren Tragödie. Im Herbst 1845 kam der Tod über das Land. Der Tod in Gestalt eines harmlos erscheinenden Pilzes. Die Tragödie spielte sich ab, weil Millionen irischer Kleinbauern ihr Wohl und Wehe auf eine Ackerfrucht gesetzt hatten: die Kartoffel. Eine große Bevölkerung lebte seit Jahrhunderten von der Erdknolle, baute sie an in vielerlei Gestalt und Sorten, verließ sich auf ihr Gedeihen. Und die Menschen gediehen – wie ihre Kartoffeln – bis der Pilz kam und alles vernichtete. Er brachte die Kartoffelfäule, immer wieder, 1845, 1846, 1847. Die Kartoffeln verfaulten und die Menschen lernten den Hunger kennen.
Es handelte sich um einen dramatischen Fall einseitiger Monokultur, und ich versuchte, mehr zu erfahren und suchte Rat in Dublin. In einem alten Haus der Vorstadt und umgeben von rotem Plüsch und vielen Antiken traf ich den Historiker Professor Dr. I. Nowlan. Er hatte in Marburg studiert und sprach gut deutsch, zog das Englische aber vor. Die irische Famin-KatastropheDie als Große Hungersnot (englisch Great Famine oder Irish potato famine; irisch An Gorta Mór) in die Geschichte eingegangene Hungersnot zwischen 1845 und 1849 war die Folge mehrerer durch die damals neuartige Kartoffelfäule ausgelöster Kartoffel-Missernten, durch die das damalige Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung Irlands vernichtet wurde.Quelle: Wikipedia hatte er verinnerlicht und nannte mir Orte, die ich besuchen sollte. Nowlan drückte mir ein BuchEdwards, D., Williams, T.D.: The great Famine, New York 1957 in die Hand, das eine gute Einführung bietet, führte mich in die prächtige und stille Bibliothek und dort in den riesigen, schweigsamen, braungetäfelten Lesesaal. Ein freundlicher Bibliothekar war willens, mir aus dem reichen Fundus die Jahrgänge 1845 – 50 der London Illustrated News
auf einem Tisch zu stapeln. Begegnung mit einem Medium, das seine Leser ohne Fotos, doch mit Hilfe sorgsam gestochener Bilder und spannender Texte über das dramatische Geschehen der damaligen Welt unterrichtete. Eine Sammlung kleiner Kunstwerke von erstaunlicher Aussagekraft. Der Famine
wurde viel Raum in der Berichterstattung gegeben – es war seinerzeit ein brisantes politisches, soziales und gesundheitspolitisches Thema, überschattet und pointiert von der alten Rivalität, ja Feindschaft, zwischen England und Irland. Man gewann den Eindruck, dass England seine irischen Nachbarn nicht für voll nahm, mehr für tumbe Bauern, die es nicht besser wussten. Iren waren immer die billigen Arbeitsklaven für die britische Industrie. Man erlaubte mir, einige der bewegenden Bilder zu fotografieren: Famine Funeral
von 12.7.1847; Irish Emigrants receiving the priest’s blessing
, 1851; At the gate of a workhouse
, 1846; Searching for potatoes
1847; the failure of the potato crop
, 1846, eine Familie vor ihrem verlassenen Haus, erschütternd in der Ausweglosigkeit.
Es war ein warmer Herbst, die Landschaft blühte in rembrandtschen Farben. Nowlan führte uns über Kilkock, Kinnegard, Gort – schmale, mauergesäumte, kurvige und nicht ungefährliche Straßen nach Ennis am Shannon Fluss in der Grafschaft Clare. Eine verlassene Kirchenruine namens Ballynagally mit malerischen Grabsteinen beeindruckte mich, wie die zugewachsenen Ruinen ehemaliger Cabins
, der kleinen geduckten Bauernhäuser, dann die längst nicht mehr bestellten Felder, die Haufen runder Steine. Kaum ein Mensch in dieser düster-erhabenen Landschaft mit ihren Herbstblumen und den Büschen voller dicker, schwarzer Brombeeren. Weiter zum Dorf Cross mit alten Bauernhäusern, zum Hafen Carrigaholt, von dem aus damals viele Menschen auf wartende Schiffe gestiegen waren, in hektischer Flucht vor dem Tod und dem Elend der Heimat. In der Gespensterlandschaft The Burren
glaubte ich mich umgeben von Kobolden und Klabautermännern, die im Nebel webten – die Büsche hingen voller dicker Spinnweben – kein Laut. Schichtweise, wie die Kulissen im Theater, hob sich der Nebel. Haben hier wirklich Menschen gelebt, geschuftet, geliebt, sind gestorben?
Noch 1841 sollen nach einer Volkszählung in Irland acht Millionen Menschen gelebt haben, mehr als dreiviertel von ihnen als Bauern auf winzigen Stücken Land und es habe einen recht fruchtbaren Osten und einen unfruchtbaren Westen auf der Insel gegeben. Nahezu die Hälfte der Gesamtbevölkerung sei ganz und gar angewiesen gewesen auf die Kartoffel. Und als dieses Überlebensmittel ausblieb, seien die Familien dem Hungertod ausgesetzt gewesen. The great famine
hat seine Spuren nicht nur in den Ruinen der Häuser und Kirchen hinterlassen, auch die Dichtung nahm sich ihrer an. D. F. MacCarthy klagte in A MysteryIst es richtig? Ist das fair (angemessen)?
:
Dass wir in Verzweiflung umkommen in diesem Land, auf diesem Boden, das unser Schicksal ist.
Den wir mit Mühe kultiviert und mit unserem Schweiß bewässert haben!
Is it right? Is it fair?
That we perish of despair
In this land, on this soil,
Where our destiny is set.
Which we cultured with our toil
And watered with our sweat!
In den dunklen Pubs der Dörfer kann man sie hören, die traurig-melodiösen Gesänge trunkener Iren. Wir passierten das gespenstisch leere Tower-House Castle Leamaneh, das ein Conor O’Brian einst bewohnte und hielten im nahezu leeren Fischerdorf Corbally. Hier besuchten wir das Folk-Museum, ließen uns führen von der rotgewandeten Frau Hastings, die es betreute. In der alten Schule hatte man gesammelt, was an die Famine erinnerte, grobe Kochtöpfe, Kartoffelstampfer, Reiben, Sicheln, Torfstecher, ein originales Leinenhemd, eine traurige Kinderwiege. Im verfallenen Cabin daneben gab es eine winzige Stube, einen winzigen Schlafraum, eine niedrige Tür – zu zehnt hätten sie hier gewohnt damals, sagte Frau Hastings, und nun würden die letzten Einwohner ihres Dorfes wohl auch bald sterben.
Über die alte Hafenstadt Cork fuhren wir nach Killarny am Loch Lain und waren in der Grafschaft Kerry, einst das ärmste der Gebiete der Famine. Hier steht noch romantisch das alte Workhouse, früher diente es als Hospital für die vielen Kranken, die daniederlagen an Typhus, Rückfallfieber, Schüttelfieber, DysenterieVeraltete dt. Bezeichnung für Ruhr, Dissenterie und starben. Hier kannte Nowlan einen freundlichen Bauern, der uns auf seinem Hof empfing, eben dabei, seine Kartoffeln zu ernten, wie alle Vorfahren. Bauer Patrick Sugrue baute an die Sorten: Kerry’s Pinks
, Arran Banner
, Golden Wonder
, Marias Peers
, Home Guard
und British Queen
. Wir durften zuschauen, wie er mit Hilfe des Nachbarn und eines unwilligen Pferdes die Knollen aus der braunen Erde holte, wie einst. Und er hatte auch einen Busch Kartoffelblätter mit den schwarzen Flecken, wie der Pilz Phytophthora infestansPhytophthora infestans ist eine Protistenart aus der Abteilung der Eipilze (Oomycota). Dieses Pathogen ist bezüglich seiner Wirte hoch spezialisiert. Es befällt eine Reihe von Nachtschattengewächsen (Solanaceae) und vereinzelte Vertreter aus den Familien der Korbblütler (Asteraceae), Convolvulaceae und Nyctaginaceae. Wirtschaftlich bedeutende Wirtsarten von Phytophthora infestans sind Kartoffeln, Tomaten und Petunien; ein Befall von Auberginen und Paprika ist sehr selten.
Quelle: Wikipedia ihn verursacht, der Urheber der Famine, eingeführt aus Amerika und Europa, übertragen vom Wind, vom Regen und Insekten. Trockenes Wetter liebt der Pilz nicht, in dampfender Wärme gedeiht er gut, wie sie 1846 vorherrschte. Bauer Sugrue spritzte seine Felder mit Du-Tar
und Dithane
gegen die Fäule, mit Erfolg – seine Vorfahren hatten noch keine Chemie, mussten sterben oder fliehen.
1845 also war sie urplötzlich aufgetreten, die Kartoffelfäule, fegte mit großer Virulenz durchs Land bis zu einem Höhepunkt 1848, kam etwas schwächer wieder 1849 und begann 1850 allmählich zu verschwinden. Die Behörden warben für den Anbau von Gemüse und Wurzelfrüchten anstatt der Kartoffeln. Aber große Teile Irlands waren inzwischen entvölkert, ganze Dörfer unbewohnt. Tausende starben in ihren Cabins, ohne je einen Arzt gesehen zu haben. Andere fand man tot und sterbend an den Straßen, auf den Feldern, in verlassenen Häusern. Die Überlebenden flohen. Zwischen 1846 und 1847 so viele, dass die Schiffe nicht nur überfüllt – sie waren vollgepackt mit Menschen und kaum ein Schiff, in dem nicht der Typhus wütete und Tausende tötete, die hatten fliehen können und glaubten, sie hätten es geschafft. Die Ceylon
z.B. hatte 277 Passagiere an Bord, 117 starben auf der Reise, 115 an Fieber bei der Ankunft. In nur neun Monaten des Jahres 1847 starben 5.200 irische Auswanderer an Typhus auf ihrer Reise nach Kanada. Ein Autor schätzte, dass bis 1847 eine Million Iren an der Famine
gestorben seien. In den Jahren 1849 bis 1852 hätten über 200.000 Menschen pro Jahr das Land verlassen, allein 1851 eine Viertelmillion nach Nordamerika. Insgesamt sollen 1,5 Millionen Iren ihr Land in den Jahren der Famine
verlassen haben, rund 18 Prozent der Gesamtbevölkerung – mehr als jedes andere Land im 19.Jahrhundert. Irlands Landwirtschaft hat sich nie von diesen Verlusten erholt. Und die Dichter und Sänger ruhten nicht, das grandiose Leid ihres Landes in Liedern und Gedichten zu bewahren. Seltsam – das Thema Monokultur
blieb trotz aller Erfahrungen, die man damit machte, auf der Agenda, bis weit ins 21. Jahrhundert.