An den Ufern des Weißen Meeres
Karelien 1999
Mich zog es wieder nach Russland und ich flog nach St. Petersburg. Die Stadt blühte im Schein restaurierter Fassaden und orthodoxer Kirchen. Die bitteren Wunden, welche die Deutschen der Stadt geschlagen hatten, heilten langsam. Manche Straße zeigte wieder das Flair der Zarenzeit. Im schlanken Boot trieben wir durch stille Kanäle und fanden bildhafte Motive. Dann litten wir unter den sowjetischen Barbarismen eines vergammelten Hotels, das gewiss bessere Tage sah.
Nach dem Kümmerfrühstück zum kleinen Flugplatz. Die trödelige Maschine schaffte den Weg nach Archangelsk nur mühsam. Auf dem kärglichen Flugfeld wartete ein russischer Techniker, dem ich ansah, dass er kaum wusste, wohin mit seinem Gerät und hatte bange Gefühle. Wir wurden in die Maschine gepfercht. Mit langen Anläufen hob sich der riesige doppelrotorgetriebene Hubschrauber mit 20 Mann Ladung plus Fracht. Dröhnend und schüttelnd flog er über die Dwina zur Halbinsel Onega mit ihren grünen Taigaflächen und braunen Mooren. Alles drängte sich schauend und fotografierend um die winzigen Bullaugen. Eine holperige Landung auf der Wiese vor dem Dorf Purnema am Wald. Scharen blonder Kinder und lächelnde Eltern standen zur Begrüßung der Fremden. Fürbass wanderten wir durch den Sand der Heide zum Ufer des Weißen Meers, schlugen das Lager auf, Feuer loderten romantisch in der hellen Dämmerung. Der Koch zelebrierte Brei in Blecheimern und braunen Tee. Die runden blauen Nylonzelte waren hauchdünn und stammten aus Korea. Frierend floh mich der Schlaf. Die Erfahrenen unter den Naturburschen sprachen dem Wodka zu und ihre rauen Gesänge hallten weit über die stillen Tannen.
Die Kirche im Nachbardorf Lyamtsa war unter Stalin zur Dorfkneipe degradiert worden, nun saßen die Dörfler artig in den Bänken und lauschten den Worten des Nationalparkchefs Tscherwjakov über die Vorteile, die ein solcher Park ihnen hier bringen würde. Ihren Gesichtern sah ich an, sie waren zu höflich, dem Süßholzraspeln zu widersprechen, allzu oft hatten sie schon die hohlen Versprechungen der Großen aus Moskau gehört. Weil mir zu kalt war, verbrachte ich die Nacht im Mannschaftslogis unseres Schiffleins und eine fahle Morgensonne warf einen goldenen Pfad auf das stille Wasser des Meeres. Kein anderes Schiff weit und breit, nur Möwen schaukelten in der Luft und schrieen wie Babies. Ich war weit weg von zuhause, weiter als der Nordpol.
Manche festen oder lockeren Paare hatten am Waldrand genächtigt, eingehüllt vom Gesumm Abermyriaden stechwütiger Moskitos, die sich auf alles stürzten, was nach nackter Haut roch. Dies machte die Morgentoilette im Busch zum gefährlichen Abenteuer, manch ein Schrei aus weiblicher Kehle hallte im Geäst. Die uralt wackelige Fischerhütte am Strand sah sie hüpfend auf einem Bein und fluchend, die dünnhäutigen Europäer. Dann brachen alle auf, einen Braunbären zu suchen, den jemand gesichtet hatte. Kein Braunbär weit und breit, nur Mücken.
Schifflein und Wanderer trafen sich im Delta des Latnyaje Flusses, tief eingeschnitten in eine hügelige Buschlandschaft mit braun-blauen Holzhäusern. Im Zentrum des Dorfes stand das Haus der alten verlassenen Dorfklinik, der Laden darin bot zwei oder drei Konservendosen und vier Wodkaflaschen, keine Kunden. Der Kindergarten hütete Kinder, deren Eltern auf den Feldern arbeiteten. Die verlassene Seehund-Station zeigte verrostetes Geschirr und müde Schiffswracks. Nur der Friedhof mit seinen lichtgrünen Zäunen und den Fotos der Verstorbenen auf den Gräbern und den Sowjetsternen erzählte von den guten Zeiten unter Stalin, als es allen besser ging in den Kolchosen. Im Dorf stand ein altersschwaches Holzhaus. Die gute Stube mit den bunten Decken und dem großen grünen Ofen, darin eine alte Frau. Ja früher habe ihr Mann, erzählte die 84-jährige, die Fische auf dem Rücken seines Pferdes nach Archangelsk gebracht, ein langer Weg. Elf Kinder habe sie dem Staat geschenkt und aufgezogen zu guten Menschen, und nun? 60 Mark im Monat, und die seit drei Monaten nicht mehr bekommen. Nur noch getrocknete Waldpilze waren im Haus und zwei Dosen Eingemachtes. Und der Laden im Dorf habe nicht mal Seife auf Lager. Bedrückt gingen wir und fragten uns, was soll ein Nationalpark hier, für wen, für Touristen? In einem Staat, der die Renten nicht zahlt?
Unser Schiffchen suchte sich seinen Weg weiter nach Norden. Die kleine Felseninsel Anzer war bedeckt mit einem bunten Teppich geheimnisvoller Tundrablumen, die selbst Botanikprofessor Succow nicht alle benennen konnte. Wir wanderten auf die kargen Höhen, sahen ein altes Holzhaus und den weiten menschenleeren Strand. Das kristallklare Wasser, darin schwebend riesige Braunalgen wie Geister der Verstorbenen. Der russische Koch Vladimir hatte dicht am Ufer das Feuer entzündet, Holz lag genug umher – und den braunen belebenden Tee bereitet. Die Nabufrau blies melodisch auf der Flöte und wandelte barfuß wie eine Meermaid. Was sie dachte, sagte sie nicht. Ich betrachtete sinnend die dicken Abdrücke eines Braunbären im feuchten Sand und stellte mir den bepelzten Besitzer vor. Die Landschaft um mich her sah alt aus, nach früher Vergangenheit. Im Buschwerk verborgen, eine aus runden Steinen gelegte geheimnisvolle Figur. Drumherum bearbeitete Flintwerkzeuge. Waren es Robbenjäger, die vor zwei oder drei tausend Jahren hier lagerten? Da war niemand, den ich fragen konnte.
Der enge Terminplan mahnte zur Weiterfahrt. Ein Abstecher war noch möglich zu einem Wallfahrtsort mit langer Geschichte. Hinter wuchtigen Mauern verborgen grüßten die runden Türme des riesigen Solowezki-Klosters auf der gleichnamigen Insel, gegründet um 1430. Im Nordischen Krieg spielte das Kloster eine strategische Rolle. Stalin hatte hier eines seiner gefürchteten Gulags für Intellektuelle errichtet. In den Arbeitslagern und Kellergelassen sind Abertausende verreckt, ohne Zeugen, ohne Trauer. Heute wird etwas restauriert, werden Touristen empfangen, die dringend benötigtes Geld bringen und die acht Mönche bestaunen, wie sie kenntnisreich dicke Holzkloben zerhacken für den langen Winter. Still bestaunte ich die sakralen Gemälde und die Preziosen der orthodoxen Kirche. Sah ein paar primitiv gehämmerte Löffel und anderes Gefangenenwerkzeug. Aber es blieb wieder keine Zeit. Das Boot über den Onegasee nach Petrosawodsk konnte ich eben erreichen. Und ich traf Natascha, die hübsche Frau des Parkdirektors, seit Jahren beschäftigt, altes Geschirr, Werkzeuge, Töpfe und Holzgefäße aus der langen Geschichte Kareliens zu sammeln und den Dingen einen Ort zu geben in Gestalt eines aufgegebenen Bauernhauses am Rande des Wodlosero-Sees. Und sie bekannte mir, wie schwer es sei, in archäologisch-ethnologischer Manier die Relikte gewachsener Kultur zu bergen und einer Besichtigung zugänglich zu machen. Für Touristen vielleicht, die bitte einmal hierher kommen möchten.