Ein Pimpf in Berlin
Jener Abschnitt, den man erinnertes Leben und Existieren nennen könnte, begann für mich in einem finsteren Abwasserkanal, wo es nach Fäkalien und Ratten roch. Die hohen Betonrohre waren oval geformt, unten floss ein Rinnsal talwärts. Wer hier lief, musste von rechts nach links und von links nach rechts hüpfen, um auf dem Trockenen zu bleiben. Der Kanal zog sich Kilometer unter dem Pflaster hin, endlos, wie es schien. In hallender Dunkelheit. Alle paar hundert Meter tröpfelte von oben ein wenig Licht, die Kanaldeckel, die leise rumpelten, wenn ein Auto drüber fuhr. Wir waren meist zu fünft, Jungens natürlich, Mädchen gab's da nicht, auf dem Weg von der Schule durch den Bäke-Park nach Hause, wo jede Mutter mit dem Essen wartete. Horst Gude, mein Blutsbruder von nebenan, hatte mir den geheimen Eingang der Bäke zum Orkus gewiesen, getarnt hinter einem blühenden Hollerbusch. Hatte mir eine lange Daimonlampe in die Hand gedrückt, damit ich mich melden könne, falls Gefahr drohte verloren zu gehen in der Schwärze und an einer der vielen Abzweigungen. Alle Jungs trugen den sechsschüssigen Trommelrevolver am Gürtel, ballerten herum. Freundliche Metallhandwerker hatten die gesetzlich vorgeschriebenen verschweißten Läufe aufgebohrt, wir schossen mit Bleikugeln, angetrieben von Platzpatronen. Auf 5 Meter gab das Löcher im Bein. Wir waren eine verschworene Bande. Alle vier Wochen wurde Blutsbrüderschaft getrunken, das Fahrtenmesser ritzte im Finger das Blut hervor, mit dem man schrieb warme Worte ewiger Freundschaft ins Tagebuch. Und die Revolver wurden in Zigarrenkisten bewahrt, eingehüllt in fettendem Stullenpapier und vergraben unter der dicken Fichte, Geheimnis düster beschworen, den Ort nie und nie zu verraten.
Ich hatte 1937 meinen 11. Geburtstag gefeiert und wurde zum Pimpf mit Braunhemd und Koppelschloss gemacht. Und der Abwasserkanal war das dunkle Mysterium, da ferne Stimmen wisperten aus allen Seiten und kein Ohr vermochte zu sagen, wer gerufen hatte – hallo …??? Ich träumte nachts von der Endlosigkeit des Dunklen, von fernen Mädchen, die im Wasser trieben und gerettet werden mussten. Stattdessen aber fingen mich die Nachbarsbrüder Raufeisen ein, fesselten mich mit Draht an einen Baum und folterten mich, um Geheimnisse zu erpressen: wo sind eure Waffen? Ich verriet das Vergrabene nicht. Blut und Ehre hieß das Wort der Pimpfe, ein Held war ich aber nicht und litt. Und musste das Blut abwischen, damit es nicht auffiel am Mittwoch, wenn Heimabend war in der Hütte an der Schloßstrasse. Fähnleinführer Hanshelmut hielt mal wieder Vortrag über das Leben des Führers in Braunau am Inn (geboren am und so). Kannte ich auswendig. Besser war schon das glatte Teerpflaster auf der Feuerbachstraße. Mit weißer Kreide malte ich den Rundkurs der Avus, 50 Meter lang und schön geschwungen. Unsere Märklinautos der Marken Mercedes und Auto-Union, große Konkurrenten mit den Fahrern Bernd Rosemeyer und Rudolf Caracciola, wurden mit dem Daumen in Fahrt stracks gebracht und liefen schnurgerade, denn wir hatten sie mit Blei ausgegossen. Wenn so ein eingefahrener Renner dann doch im Gully verschwand, konnte der Pimpf seine Tränen nur schwer zurückhalten, denn Taschengeld war knapp und Märklin teuer.
Pimpfe auf Fahrt
Spannend für uns erfahrene Karl-May-Leser gestaltete sich das Lagerfeuer im Grunewald, wenn die Pimpfenrotte auf große Fahrt ging mit Zelt, Mundharmonika und Hordentopf für die harten Erbsen, die schöne Püpse ergaben und gern belacht wurden. Ein älterer Pimpf zeigte lässig, wie man drei Wackersteine so auf dem Sand platziert, dass der Wind über das Flämmchen streicht und den darüberstehenden Topf erwärmt. Das Fahrtenmesser diente dem Entrinden der Äste, damit die Zeltstangen hielten, und dem Zerschneiden der Kochwürste. Drüben, am anderen Ufer des Sees, werkelte die Mädchengruppe an ihren Zelten, aber mehr als rüberschielen war nicht, und von Mädchen hatte keiner eine Ahnung, und auch nicht, was man mit ihnen machen könnte – nur einer sagte was, der hatte eine Schwester, aber viel war aus ihm nicht herauszukriegen. Da blieben nur die Flamme unter den Wackersteinen und die brennende Phantasie. Zur rechten Zeit scheuchte ein schnurtragender Oberpimpf uns in die Landschaft, und wir zerrissen uns Hemden und Hände an den Stacheln der Brombeeren, deren Blätter in Säcken zu sammeln und in die Apotheke zu tragen waren für heilsame Tees. Im Herbst sah man die Braunhemden gebückt unter Buchen die Eckern einzeln aufklauben und in Gefäßen bergen, auch dies zur Gesundheitsfürsorge des großdeutschen Volkes. Oder wir gingen zu zweit in die Häuser der Birkbusch- und Klingsorstraße, klingelten, riefen freundlich Heitler
und baten, aufgebrauchte Zahnpasta- und sonstige Metalltuben sammeln zu dürfen – für Zwecke der Rüstung wohl, aber das sagte man nicht. Freundlich wurden wir empfangen, und manchmal gab es eine Brause. Ja, der Führer wusste etwas anzufangen mit seiner geliebten Jugend (hart wie Kruppstahl, flink wie Windhunde und so weiter). Ich war stolz auf meine Uniform, welche die Eltern bezahlt hatten, denn der Staat tat das nicht. Weniger entzückt war ich, wenn der Anthropologe mit seinem Stab kam und unsere Schädel vermaß, ob wir auch die arischen Körpermaße hätten. Nach meiner Erinnerung waren die Vorkriegswinter in Berlin gewöhnlich trocken und sehr kalt … in der kaum wärmenden dunklen Pimpfen-Winteruniform mit den unten gebundenen Skihosen stand ich manchen Dezember auf der leeren Straße im eisigen Wind, in einer Hand die klappernde Sammelbüchse der Winterhilfe
, in der anderen das Kästchen mit den Holzfiguren, die für 10 Pfennige zu erwerben waren. Ich klapperte und klapperte, aber die Passanten eilten vermummt vorbei, den traulichen, warmen Wohnungen zu. Der Kasten mit den Figuren durfte nur leer abgegeben werden, aber er wurde nicht leer. Mich tröstete kaum, dass auch Göring und seine Paladine mit der roten Büchse unterwegs waren und manche Prominenten. Ich zog das Koppel mit der Siegrune auf dem Schloss fester um den Bauch und versuchte, das Zittern abzustellen. Dann kam manchmal die Mutter mitleidig herbeigelaufen, kaufte resolut alle Figuren und steckte mich zu Hause in die Badewanne, damit ich mir keine Lungenentzündung holte, was sie am meisten fürchtete.
Im Sommer wanderte ich durch den blühenden Bäkepark, das Schulbrot in der Tasche. Der alte Parkwächter im Wächterhäuschen hatte Unbill zu ertragen von den Kindern – Kondome wurden gefunden und mit Applaus aufgepustet, verknotet und in die Fichten gehängt zur Zierde. An der Kreuzung alter Landstraßen in Lichterfelde hatte man den Friedhof aufgelassen, verrottete Schädel lagen umher wie vergessene Kegelkugeln. Ich suchte und fand einen Oberschenkelknochen und bewahrte ihn in meiner Trödelsammlung. Beim Bäcker kaufte ich für 10 Pfennige schwarzgebrannte Randabschnitte vom Blechkuchen, es gab eine Tüte voll und sie schmeckten besser als der Kuchen zu Hause. Meine grüne Brausetüte hielt ich unter die Plumpe, wie der Berliner sagt und ließ sie mit Wasser füllen, bis es köstlich schäumte. Meine Salmis schmeckten mir nur, wenn ich sie sternförmig auf den Handrücken klebte.
Im Untergeschoss der Städtischen Lilienthalschule in Lichterfelde schenkte der Hausmeister Milchsuppe aus, die obligate Schulspeisung, in einem Regal gab es kleine Flaschen mit Kakao, den ich mochte. Die Klassenräume waren groß und hoch, und die Bänke tintenbekleckst und mit Messern zerschnitzt. In Erdkunde hielt man den Atlas so, dass die Finger darunter unsichtbar für den Pauker an den Hosen fummelten. Der schöne (so sagten manche Eltern) Englischlehrer ließ die Times
in der Klasse vorlesen, damit wir uns an modernes Englisch gewöhnten – ich mochte den Unterricht so gern wie den in Deutsch. Und bewunderte den drahtigen Turnlehrer, er lehrte uns in der geräumigen Halle das Aufentern an dicken Tauen, das Balancieren auf schwebenden Balken, und manchmal saßen die Eltern auf Stühlen und wir turnen ihnen was vor. Auf dem geschotterten Schulhof übte ich den kräfteschonenden Anlauf für den Weitsprung in die holzgerahmte Sandkiste und brachte es auf 5 Meter. Der Turnlehrer stand mit der Stoppuhr am Ziel der schmalen Aschenbahn neben der Schulstraße und wehte mit den Armen für den Start des 100 Meter Laufs. Ich erinnere mich an die Ziffer 14,4 sek. die ich jubelnd erreichte und den Sieg einheimste. Die Eins in Turnen konnte man dazu benutzen, die Fünf in Mathe auszugleichen, weil Sport als Hauptfach galt. Der Schulbetrieb war ein Vergnügen, langweilig nur der Fahnenappell mit Fanfarengetön am Montag früh auf dem Schulhof mit vaterländischer Rede des Direx, die niemand recht begriff und auch nicht zuhörte. Deutschlandlied
, erste Strophe und Horst-Wessel-Lied
nacheinander dauerte so lang, dass der erhobene Arm abzufallen drohte.
Ich war selten in meinem Zimmer. In der Küche werkelte die blonde Christa, unser Landjahrmädchen aus Jever, eben 18 geworden, ich mochte sie sehr, liebte sie vergeblich, und immer hatte sie was für mich, eine Mohrrübe oder einen Apfel, und sie lachte gern, aber schon im April würde man sie einziehen zum Landjahr und dann wäre ich wieder allein. Wenn Vater heimkam, fragte er nach meinen Erfolgen in der Schule, viel mehr sagte er nicht und ging mit der Mutter ins Wohnzimmer, da redeten sie über ihren eigenen Kram, der mich nichts anging. Fahrradfahren durfte ich nicht, das sei zu gefährlich auf den Berliner Straßen, wurde mir streng bedeutet. Dabei kamen höchstens mal fünf Autos den Tag unsere Straße lang. In meinem Kinderzimmer mit der bunten Tapete zog ich Strippen an meinem Metallbett mit den hohen Aufbauten und breitete eine Decke drüber, das ergab eine dichte, dunkle Höhle, in der ich träumte, und meine Phimose behandelte, die weh tat. Am Samstag gingen die Eltern plaudernd unter den Linden spazieren, guckten Schaufenster am Alexanderplatz – ich blieb auf den Straßen – meiner Heimat. Und abends schickte man mich in die Eckkneipe, dort gab ich die grüne eineinhalb Liter- Flasche mit dem Henkel und dem dicken Verschluss dem Wirt über die Theke. Der steckte einen roten Schlauch hinein und ließ das Bier laufen, so dass es nichts von seinem Schaum verlor. Im Treppenhaus musste ich den listigen Verschluss öffnen und einen kleinen Schluck vom bitteren Stoff nehmen: Himmlisch. Nebenan hatte der Hosenschneider seine Werkstatt, da saßen die Gehilfen auf langen Tischen im Schneidersitz und nähten Stoffe, die unter dem dicken Bügeleisen dumpf mieften, weil sie doppelt und dreifach gewendet waren und vom Vater auf den Sohn vererbt und der Meister ließ mich unter dem Tisch sitzen und eine Schwarz-Weiß-Zigarette
rauchen für zwei Pfennig das Stück, und eine Kaffeebohne hinterher wegen Mundgeruch.
Das Theater Berlin
Spalierstehen lautete der Befehl an die Pimpfe, und das geschah auf der Reichsstraße oder irgendwo am Flugplatz. Wenn Chamberlain aus London und Daladier aus Paris den Führer besuchten, Patt und Patachon sagten die Berliner, weil Daladier klein und rund, Chamberlain dünn und lang war, mit Regenschirm. Und wir standen und standen, manch einer fiel um, wurde versorgt von den Heeres-Sanitätern. Wenn ganz hinten leise, stärker werdend nach und nach das Gebrüll zu uns drang, (wie Ola beim Fußball) wussten wir – die Wagenkolonne kommt! Und standen noch strammer als sowieso. Und wenn es nicht Pat und Patachon waren, dann der Duce aus Rom und der stand wie ein marmornes Denkmal im Fond des großen Mercedes. Und würde bald eine lautstarke Rede halten. Aber dann war unser Fähnlein unterwegs nach Hause, und ich vorneweg als Längster, der das Fähnlein am Stock tragen durfte, und die Leute am Straßenrand mussten es grüßen. Wenn der Vater wieder auf Dienstreise in Deutschland unterwegs war - schnappte Erika sich ihren Sohn, zog ihm Bleylepullover und Kletterweste an, verfrachtete ihn und sich im Bus 5E und fuhr, im Obergeschoss sitzend wie kleine Könige, in die Stadt. Hand in Hand wanderten wir durch die Museumsinsel, kletterten die vielen Stufen des Pergamonaltars hoch, wobei Erika die Ilias auf Griechisch zitierte, was ihr Vater ihr beigebracht hatte. Mal gab es dann eine Tüte Eis beim Mann mit der Karre und weiter ging es in das Zeughaus, wo mich die realistischen Kriegerportraits Schlüters beeindruckten.
Eroberungen
Am 13. März 1938 dröhnten die Radios bei der Übertragung einer Sendung aus der neuen Ostmark. Wien jubelte dem lichtbringenden Führer zu, der seine Heimat Österreich nunmehr
, wie er es nannte, dem Deutschen Reich einverleibte oder heimholte
oder so. In der Schule holten wir die Atlanten vor, und der Erdkundelehrer erläuterte die neuen Grenzen und die Protektorate Böhmen und Mähren. Atlanten mussten öfter nachgedruckt werden in jenen Jahren, wo immer etwas erobert wurde von den Deutschen. Der September war golden und milde in der Pracht der Früchte, die Mutter auf dem Markt kaufte. Unser Klassenlehrer Dr. Schubotz beschloss, seinen Zöglingen etwas pädagogisch Wertvolles zu gönnen. Natürlich auch im Sinne der Partei, die einen Zuschuss bewilligte. Er stopfte seine Klasse in Eisenbahnwaggons und fuhr in die Schorfheide bei Berlin. Dort lag das recht modern eingerichtete Landschulheim Zerpenschleuse am Teltowkanal. Die warm-braunen Gewässer wurden okkupiert zu Spiel und Spaß, und ich machte unter Aufsicht des gestrengen Lehrerauges meinen Freischwimmer
. Ich erhielt ein Zeugnis und durfte mir ein Abzeichen an die Badenhose nähen, einen Verdienstorden. Dann kletterte man auf einen hölzernen Leiterwagen und wurde von herrlichen Kaltblütern in die Schorfheide gezogen. Den Reichsjägermeister Hermann Göring sahen wir nicht, dafür Herden friedlich grasender, unendlich dicker, wolliger Wisente, die Göring hielt zur Zucht, und mancher dachte an Odin und die alten Germanen.
November-Pogrom 1938
Das fürchterliche und propagandistisch aufgeheizte Ereignis kam am 9. November 1938 – Pogrom, ReichskristallnachtDie Tagebucheinträge des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels vom 10. und 11. November 1938 sind zentrale Belegstellen für die Verantwortung Hitlers an den Novemberpogromen, dem größten Gewaltakt gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg.
Goebbels schildert in diesen Tagebuchaufzeichnungen Hitlers Anordnung, die sich lokal ausbreitende Gewalt gegen die deutschen Juden fortzusetzen und auszudehnen sowie dessen Einverständnis mit der gesamten Aktion
. Der Propagandaminister beschreibt seine eigene Rolle, die NSDAP-Funktionäre zum Pogrom anzustacheln und seine Befehle, die Synagogen im Gau Berlin zu zerstören. Aus den Tagebucheinträgen geht hervor, dass die scharfen antisemitischen Verordnungen, die unmittelbar auf die Pogrome folgten, von Hitler angeregt wurden.[Klick …], brennende Synagogen, flüchtende Menschen. An vorderster Front die braune SA, mit Lust und Gewalt zerschlugen die Kerle die Schaufenster jüdischer Geschäfte (Juda verrecke!
) warfen Möbel auf die Straßen, malten Hetzschilder und hinderten Passanten, diese Geschäfte zu betreten. Wenn Pimpfe sich näherten, winkte man sie weg: Haut ab, das ist nichts für euch, ihr seid zu jung!
In Steglitz gab es wenige jüdische Geschäfte, es blieb dort, so weit ich sehen konnte, ruhig am 9. November. Hat unser Fähnleinführer über Juda verrecke geredet? Haben wir Kinder unter uns darüber gesprochen? Habe ich nachgedacht, habe ich getrauert um das Widersinnige, Grausame? Ich weiß es nicht, meine Erinnerung gibt vage, verschwommene Bilder frei. Habe ich, beeinflusst von meiner Mutter, das Geschehen verdrängt, gelöscht? Nicht wissen wollen?
Dann brach das später viel zitierte Jahr 1939 über uns herein, und die älteren Leute dachten ängstlich an den Weltkrieg 1914 - 1918 und an den Rübenwinter und an Versailles und an Verdun. Ein etwas zages Sylvester beging meine Familie bei Sekt und üppigem Essen in der Schlüterstraße, da lebte und schuf der Reichs-Bildhauer
Olaf Lemke, der Marinesymbole gestaltete, den Adler-Knauf auf dem Dolch etwa. Das Atelier stand voller voluminöser Lehm- und Steinbüsten der Größen des Reiches, auch Ludendorffs, auf diese Gesichter war er spezialisiert, aber er machte sie nicht so dickhalsig wie der Kollege Arno Breker in Düsseldorf. Ich stand in der Weihnachtsnacht auf dem Lemke-Balkon und sah in der Ferne den erleuchteten S-Bahn Zug durch die Landschaft brausen. Vielleicht nach Potsdam, die Strecke war vor kurzem neu eröffnet worden.
Joseph Goebbels, Tagebucheinträge
Novemberpogrome 1938, Reichskristallnacht
, 10. und 11. November 1938
Joseph Goebbels, Tagebucheinträge vom 10. und 11. November 1938
10. November 1938. (Do.)
Gestern: der traditionelle Marsch vom Bürgerbräu zur Feldherrnhalle und dann zum Königlichen Platz. Es ist ein grauer Novembertag. Unübersehbare Menschenmassen umsäumen die Straßen. Am Königlichen Platz die große Totenfeier. Sehr würdig und stimmungsvoll.
Mit Ley parlavert. Er ist ein guter Kerl. Auch er hat es manchmal satt und sehnt sich nach Ruhe. Er beklagt sehr, daß er so selten mit dem Führer zusammenkommt.
Lutze schimpft mächtig über die S.S. Nicht ganz mit Unrecht, zum Teil aber auch aus Konkurenzneid. Himmler hat doch allerhand auf die Beine gestellt.
Im Hotel Arbeit: der Ausbau des Rund- und Drahtfunks soll nun tatkräftig in die Hand genommen werden. Ich verlange jetzt genaue Termine.
Die Theater im Sudetengau erfordern große Zuschüsse. Ich bewillige sie gleich, damit sie überhaupt mal wieder anfangen können zu spielen.
Es bekümmern sich jetzt im Gegensatz zu früher zuviele um die Presse. Das tut auch nicht gut. Ich lasse das ein wenig abstellen.
Das Befinden des von dem Juden angeschossenen Diplomaten Rathsin Paris ist weiterhin sehr ernst. Die deutsche Presse geht mächtig ins Zeug.
Die Rede des Führers im Bürgerbräu findet im In- und Auslande ein sehr starkes Echo.
Helldorff [Richtig: Helldorf] läßt in Berlin die Juden gänzlich entwaffnen. Die werden sich ja auch noch auf einiges andere gefaßt machen können.
Moskau proklamiert aufs Neue die Weltrevolution. Unter dem großen und weisen Weltmarschall Stalin. Aber das klingt alles so hohl. Moskau hat in der Tschechenkrise sein ganzes Prestige eingebüßt. Das kann mit Phrasen nicht mehr aufgeholt werden.
Den Nachmittag an meinem neuen Buch gearbeitet. Das macht mir jetzt richtigen Spaß.
Dietrich hat gegen Berndts Artikel, der auf meine Veranlassung geschrieben wurde, gemeckert. Aber mehr gegen Berndt. Gut, daß Berndt in eine neue Abteilung kommt.
In Kassel und Dessau große Demonstrationen gegen die Juden, Synagogen in Brand gesteckt und Geschäfte demoliert. Nachmittags wird der Tod des deutschen Diplomaten vom Rath gemeldet. Nun aber ist es g[ar].
Ich gehe zum Parteiempfang im alten Rathaus. Riesenbetrieb. Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln.
Einige Laumänner machen schlapp. Aber ich reiße immer wieder alles hoch. Diesen feigen Mord dürfen wir nicht unbeantwortet lassen. Mal den Dingen ihren Lauf lassen. Der Stoßtrupp Hitler geht gleich los, um in München aufzuräumen. Das geschieht denn auch gleich. Eine Synagoge wird in Klump geschlagen. Ich versuche sie vor dem Brand zu retten. Aber das mißlingt.
Unterdeß unterhalte ich mich mit Schwarz über Finanzfragen. Mit Streicher über die Judenfrage. Mit Ribbentrop über Außenpolitik. Auch er ist der Meinung, daß man die Tschechei nun auf kaltem Wege einsacken kann. Man muß es nur geschickt anfangen. Chvalkovski [Richtig: Chvalkovský] will. Ob auch die andern, das weiß man nicht.
Mit Wagner zum Gau. Ich gebe noch ein präzises Rundschreiben heraus, in dem dargelegt wird, was getan werden darf und was nicht. Wagner bekommt kalte Füße und zittert für seine jüdischen Geschäfte. Aber ich lasse mich nicht beirren. Unterdeß verrichtet der Stoßtrupp sein Werk. Und zwar macht er ganze Arbeit. Ich weise Wächter in Berlin an, die Synagoge in der Fasanenstraße zerschlagen zu lassen. Er sagt nur dauernd: Ehrenvoller Auftrag
.
S.S. Vereidigung vor der Feldherrnhalle. Um Mitternacht. Sehr feierlich und stimmungsvoll. Der Führer spricht zu den Männern. Zu Herzen gehend.
Ich will ins Hotel, da sehe ich den Himmel blutrot. Die Synagoge brennt. Gleich zum Gau. Dort weiß noch niemand etwas. Wir lassen nur soweit löschen, als das für die umliegenden Gebäude notwendig ist. Sonst abbrennen lassen. Der Stoßtrupp verrichtet fürchterliche Arbeit. Aus dem ganzen Reich laufen nun die Meldungen ein: 50, dann 7[5] Synagogen brennen. Der Führer hat angeordnet, daß 2[5]-30 000 Juden sofort zu verhaften sind. Das wird ziehen. Sie sollen sehen, daß nun das Maß unserer Geduld erschöpft ist.
Wagner ist noch immer etwas lau. Aber ich lasse nicht locker. Wächter meldet mir, Befehl ausgeführt. Wir gehen mit Schaub in den Künstlerklub, um weitere Meldungen abzuwarten. In Berlin brennen 5, dann 15 Synagogen ab. Jetzt rast der Volkszorn. Man kann für die Nacht nichts mehr dagegen machen. Und ich will auch nichts machen. Laufen lassen.
Schaub ist ganz in Fahrt. Seine alte Stroßtruppvergangenheit erwacht. Als ich ins Hotel fahre, klirren die Fensterscheiben. Bravo! Bravo! In allen großen Städten brennen die Synagogen. Deutsches Eigentum ist nicht gefährdet. Im Augenblick ist nichts Besonderes mehr zu machen. Ich versuche, ein paar Stunden zu schlafen.
Morgens früh kommen die ersten Berichte. Es hat furchtbar getobt. So wie das zu erwarten war. Das ganze Volk ist in Aufruhr. Dieser Tote kommt dem Judentum teuer zu stehen. Die lieben Juden werden es sich in Zukunft überlegen, deutsche Diplomaten so einfach niederzuknallen. Und das war der Sinn der Übung.
Ich habe noch allerhand zu arbeiten. Jannings will mit Gewalt seinen Film retten. Aber ich kann ihm auch nicht helfen.
Der Rundfunk auf über 10 Millionen Hörer gestiegen. Ein phantastisches Ergebnis, das sehr erfreulich ist.
Ich gebe Anweisung, daß Verbote im Bereich des ganzen Ministeriums nur von mir ausgesprochen werden dürfen. Sonst geschieht zuviel Blödsinn.
Man will zum 80. Geburtstag des Kaisers Gedenkfeiern machen und Lobesartikel schreiben. Ich wäre damit einverstanden, wenn auch die Seite gegen den Kaiser ebenso zu Wort kommen könnte. Aber da zucken die Reaktionäre zurück.
Bei den Wahlen in Amerika Freunde Roosevelts vielfach geschlagen. Starker Gewinn der Republikaner. Aber das sagt noch nichts gegen Roosevelt selbst.
London läßt Teilung Palästinas fallen. Damit kommen die Engländer doch nicht durch.
Führerrede im Bürgerbräu findet ein sehr agressives Echo in London und Paris. Das war ja auch zu erwarten. Wenn man den Kriegshetzern auf die Finger klopft, dann schreien sie auf.
Den ganzen Morgen regnet es neue Meldungen.
Ich überlege mit dem Führer unsere nunmehrigen Maßnahmen. Weiterschlagen lassen oder abstoppen? Das ist nun die Frage.
11. November 1938. (Fr.)
Gestern: Müller erstattet Bericht über die Vorgänge in Berlin. Dort ist es ganz toll hergegangen. Brand über Brand. Aber das ist gut so.
Ich setze eine Verordnung auf Abschluß der Aktionen auf. Es ist nun gerade genug. Lassen wir das weitergehen, dann besteht die Gefahr, daß der Mob in die Erscheinung tritt. Im ganzen Lande sind die Synagogen abgebrannt. Diesen Toten muß das Judentum teuer bezahlen.
In der Osteria erstatte ich dem Führer Bericht. Er ist mit allem einverstanden. Seine Ansichten sind ganz radikal und agressiv. Die Aktion selbst ist tadellos verlaufen. 17 Tote. Aber kein deutsches Eigentum beschädigt.
Mit kleinen Änderungen billigt der Führer meinen Erlaß betr. Abbruch der Aktionen.
Ich gebe ihn gleich durch Presse und Rundfunk heraus. Der Führer will zu sehr scharfen Maßnahmen gegen die Juden schreiten. Sie müssen ihre Geschäfte selbst wieder in Ordnung bringen. Die Versicherungen zahlen ihnen nichts. Dann will der Führer die jüdischen Geschäfte allmählich enteignen und den Inhabern dafür Papiere geben, die wir jederzeit entwerten können. Im Übrigen hilft sich das Land da schon durch eigene Aktionen. Ich gebe entsprechende Geheimerlasse heraus. Wir warten nun die Auswirkungen im Ausland ab. Vorläufig schweigt man dort noch. Aber der Lärm wird ja kommen.
Kemal Atatürk ist gestorben. Ein großer Mann dahingegangen. Hauptsächlich wohl durch eigene Zuchtlosigkeit. Aber ich glaube, daß das für uns kein Schaden ist. Aber die Türkei ist dadurch praktisch führerlos.
Im Hotel weitere Arbeit. Ich gebe noch ein paar Rundrufe heraus. Damit glaube ich ist die Judenaktion vorläufig erledigt. Wenn nicht noch ein paar Nachspiele kommen.
Die Juden sind am Ende doch sehr dumm. Und sie müssen ihre eigenen Fehler teuer bezahlen.
Ich telephoniere mit Heyderich [Richtig: Heydrich]. Auch der Polizeibericht aus dem ganzen Reich entspricht meinen Informationen. Es ist somit alles in Ordnung. Nur in Bremen ist es zu einigen unliebsamen Exzessen gekommen. Aber die tauchen gänzlich unter in der Großaktion. Ich mache mit Heyderich [Richtig: Heydrich] die Zusammenarbeit zwischen Partei und Polizei in dieser Frage aus.
Bis zum Abend noch weitergearbeitet. Es kommen Meldungen aus Berlin über ganz schwere antisemitische Ausschreitungen. Jetzt geht das Volk vor. Aber nun muß Schluß gemacht werden. Ich lasse an Polizei und Partei dementsprechende Anweisungen ergehen. Dann wird auch alles ruhig.
Empfang des Führers für die Presse im Führerbau. Der Führer ist sehr nett. Etwa 400 Pressevertreter. Der Führer hält eine großartige Rede. Über Sinn und Wert der Propaganda, deren Erfolge er sehr lobt und über die Aufgabe der Presse.
Später noch lange mit den Journalisten zusammengesessen. Der Führer erläutert ausführlich die Tschechenkrise, wettert gegen die Feigheit der Intellektuellen, läßt sich sehr offen über Ungarn aus, kennzeichnet sehr klar das englische Pokerspiel und gibt dabei einen großen Überblick über die ganze internationale Lage. Um Mitternacht muß ich nach Berlin zurück.
Die ausländischen Sender berichten sachlich über die antisemitischen Aktionen in Deutschland.
Ich übernehme jetzt für Berlin selbst die ganze Gewalt. In solchen Krisenzeiten muß einer der Herr sein.
Nur wenig Schlaf.