Vor 50 Jahren: Binnenschiffer-Mission
Sie begegnen sich täglich auf den Flüssen und Kanälen, die Motorschiffe und Schleppkähne der Binnenschifffahrt. Tausende von Tonnen, Schwergüter aller Art, werden von ihnen transportiert. Um die täglichen Nöte der Männer, Frauen und Kinder auf dem Wasser mühen sich die Helfer der Binnenschiffer-Mission schon seit über 80 Jahren, es ist ein altes, fast schon klassisches Arbeitsfeld der Inneren Mission.
Vor ein paar Wochen konnte die alte Barkasse billig erworben und umgebaut werden. Jetzt tuckert sie Tag für Tag, viele Stunden lang, von einem Hafenbecken zum anderen, bei jedem Wetter. Heute ist sie an der großen Schleuse, morgen am Zollanleger. Seelsorge und Hilfe für den Nächsten hat sich der Schiffermissionar zur Lebensaufgabe gemacht. Das ist nicht leicht bei einer Gemeinde, deren Mitglieder weit verstreut sind und nur alle paar Monate hier vor Anker gehen.
Riesengroß ist das Hafengebiet. Früher machte der Schiffermissionar seine weiten Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Mit der Barkasse geht es schneller, jetzt kann er auch mehr Schiffer besuchen, seine Hilfe wird von vielen erwartet.
Er steigt an Bord, wird begrüßt oder auch abgelehnt, was macht es. Dann beginnt ein Gespräch, das oft Stunden dauert. Sie haben mehr Sorgen, als mancher andere, diese Fahrensleute. Manche stammen aus dem Osten, hatten ihr Häuschen in Odereck, Crossen oder Grünberg. Der Anfang im Westen war hart. So ein moderner Kahn kostet eine halbe Million Mark. Zinsen und Hypotheken müssen erarbeitet werden. Die Konkurrenz von Schiene und Straße ist zu spüren. Früher fuhren sie von Bremen nach Danzig. Der eiserne Vorhang zerschnitt auch die Wasserstraßen. Die Alten sind dem zermürbenden Existenzkampf nicht mehr gewachsen. Lange Liegezeiten ohne Verdienst haben die wenigen Ersparnisse aufgezehrt. Der Kahn gehört ihnen, sie sind Schiffseigner, aber das Geld für die dringenden Reparaturen fehlt, und ohne diese erhalten sie keine Fahrlizenz. Die enge Kajüte ist feucht und kalt, der Mann schon seit Monaten schwer krank. Nun hat der Diakon für ihn einen Platz im Altersheim erwirkt. Aber der alte Schiffer lehnt ab, er will die Planken, auf denen er 50 Jahre gestanden hat, nicht mehr verlassen.
Um ein Zentrum für die im Hamburger Hafen liegenden Schifferfamilien zu bilden, ließ die Innere Mission dort einen alten Wehrmachtskutter zur schwimmenden Kirche umbauen. Nicht weit von den Elbbrücken liegt das Schiff am Steg, es ist 27 Meter lang und bietet 200 Besuchern Platz. Jeden Sonntag ruft die Glocke vom kleinen Holzturm die Gemeinde der Männer und Frauen, Schiffseigner und Matrosen, zum Gottesdienst. Hier werden Trauungen festlich begangen, Kinder getauft und Konfirmanden unterrichtet.
Sonntag Nachmittag wird das Schiff zum Haus der Offenen Tür. Und zum Abend der Gemeindejugend erscheinen regelmäßig 60-80 junge Menschen. Jeden Tag ist hier was los, sagt der Küster. Der Gedanke einer schwimmenden Kirche war nicht neu. Lange vor den Weltkriegen gab es eine Schifferkirche in Aken an der Elbe. Der Küster im Vorschiff, ein alter Fahrensmann von der Oder, hat das verblichene Foto noch im Spind hängen. Diese neue Hamburger Kirche wurde ein selten schöner Bau mit einer geschmackvollen Holzverkleidung. Alles erinnert noch an einen Schleppkahn. Die Motive für die Glasfenster und Schnitzereien entstammen dem Leben der Binnenschiffer.
In Hamburg und Mannheim, in Hannover und Herne, in Minden und Duisburg gehen die Diakone der Binnenschiffer-Mission an Bord der Kähne, um Rat und Hilfe zu bringen. Dabei taucht immer wieder ein Problem besonderer Art auf, das Leben der Schifferkinder. Meist hat ja der Fahrensmann seine Familie bei sich. Bunte Gardinen an den Kajütenfenstern und flatternde Wäsche verraten das Wirken der Hausfrau. Manches Schifferkind wurde an Bord geboren. Aber sie sind dort ständig in Gefahr, sie möchten spielen wie alle Kinder an Land, aber die Mutter muss sie festbinden, damit sie nicht ins Wasser fallen. Es ist eng auf einem Schleppkahn, die Kajüte klein und niedrig , kein idealer Spielplatz. Dann kommen sie ins schulpflichtige Alter. Früher wurde versucht, sie während der Liegezeiten in den Hafenstädten, einmal in Hamburg, einmal in Berlin, in die Schule zu schicken, oder die Mutter machte den hoffnungslosen Versuch, ihnen selbst das Lesen und Schreiben beizubringen. Eine Wohnung an Land zu bekommen ist sehr schwierig, weil die Behörden oft die Zuzugsgenehmigung verweigern. Seit die Binnenschiffer-Mission hier eine Aufgabe gesehen hat, sind mehrere Schifferkinderheime entstanden. Fast 500 Jungen und Mädchen hat sie heute insgesamt. Wir haben einen Besuch in Hörstel bei Rheine gemacht. Das Heim entstand 1949. Rund 90 Kinder zwischen 6 und 15 Jahren leben und spielen hier. Die moderne Schule steht nur ein par Schritte weiter. Die Kinder erhalten eine kräftige Kost, die Wäsche wird gewaschen, die Strümpfe gestopft. Jeder hat ein Stück Garten, für das er verantwortlich ist. Viele sind jenseits der Oder-Neiße-Linie geboren. Dort kamen vor dem Kriege die Väter zum Wochenende zur Familie zurück. Die Fahrstrecken waren kleiner als im Westen. Die Mutter lebte mit den Kindern zuhause, manche besaßen ein Häuschen. Heute sind sie alle auf dem Schiff, 8 Personen oft in einem Raum. In Hörstel wissen die Eltern ihre Kinder gut aufgehoben. Die Heimat der Schifferkinder bleibt der Strom, im Kinderheim aber haben sie für Jahre einer glücklichen Kindheit ein Zuhause gefunden.
Ein Zuhause, das jenes Mädchen dort in wenigen Stunden verlassen wird. Viele Bürger sehen keine Zukunft in diesem Land. Die Eltern wandern aus, wie 60 000 andere in jedem Jahr aus der Bundesrepublik Deutschland. Bunte Prospekte schilderten ihnen das Leben drüben in leuchtenden Farben. Die Auswanderer – Mission versucht, das richtig zu stellen, traumhafte Vorstellungen zu korrigieren, die sich nicht im entfernten mit der Wirklichkeit decken. 1500 Passagiere kann die Castel Filice
aufnehmen, die Reise nach Australien dauert 6 Wochen. Das große Gepäck ist schon verstaut. Nach einer letzten Passkontrolle gehen die Auswanderer an Bord. Die Schwestern der Bremer Bahnhofsmission nehmen sich vor allem der vielen Kinder an. Immer wieder trifft man neben jungen Männern und Frauen Familien mit drei oder vier kleinen Kindern an, die drüben ganz von vorn anfangen wollen. Sie glauben noch nicht, was der Diakon ihnen zum Abschied sagte, dass sie sehr hart arbeiten, große Entbehrungen auf sich nehmen müssten, um vielleicht nach Jahren zu erreichen, was sie hier aufgaben, und dass erst die dritte Generation einmal ganz zuhause im anderen Land sein wird. Viele schaffen es nicht. Einige Tausend kehren jährlich zurück, enttäuscht, verbittert, ohne Mittel. Und doch wollen viele dieser Rückwanderer, kaum sind sie hier, wieder zurück. Einer sagte: Eigenartig, man ist hier nicht mehr und drüben noch nicht zuhause.