Flucht auf die Insel
Welche Bücher nehmen Sie ins Gepäck, wenn Sie auf eine Insel ziehen? Ich tat ein paar Krimis in den Koffer und den dicken Parzival des Wolfram von Eschenbach in der Ausgabe von Dieter Kühn. Wangerooge war notwendig geworden. Meine Batterien näherten sich der Null-Ladung. Die immerwährenden Kämpfe um Stoffe, um Konzepte, um Aufträge – die Gefechte mit den Sendern und ihren Redakteuren, mit Produzenten, die Rangeleien um Honorare und Budgets, die Sucht nach Alkohol – ich war kaputt an Leib und Seele, wollte nur noch aufhören. Ich war es so müde, dies Fernsehgeschäft. Und erlebte den Augenblick, da ein Mensch allein und ohne zu fragen für sich entscheidet, was aus ihm wird und wie es weitergeht mit diesem Leben. Wangerooge, die alte Insel mit der ehrwürdigen Geschichte und den autofreien Straßen, schien mir eben recht als telefonfreies Refugium. Am Spülrand standen rotgeschnäbelte Austernfischer und ich dachte an Freund Niko Tinbergen und was er gefunden hatte zur Tradition des Muschelöffnens, und siehe, die Vögel taten es noch unverdrossen, die Stecher
und die Hämmerer
. An der stürmischen Westküste suchte ich nach den überspülten Grundmauern des Kinderheims, in dem man mich gequält hatte in den 30er Jahren, da eine Kinderschwester herzzerreißend schlecht auf dem Harmonium heilige Lieder jaulen ließ und der sechsjährige Jürgen nur dünne Suppe löffeln durfte, bis seine Hilferufe die Eltern erreichte und sie ihn von den Qualen erlösten. Wangerooge hatte recht gelitten unter den Bomben des Zweiten Krieges, aber die weiten Dünen mit den graziös wehenden Gräsern, die immer runde Striche in den Sand zeichneten, boten windgeschützte Mulden, in denen ich den ziehenden Wolken nachträumen und das Kullern der Sandkörner hören konnte.
Ich hatte Logis genommen in einem alten Bauernhof. Meine Wirtin, um die achtzig, braute nachmittags einen schweren Friesentee mit Kluntjes und hinein gehobener Sahne in ihrer geduckten Stube. Ihr Frühstück auf der zugigen Terrasse war kümmerlich, wie die anderen Gäste, mit denen kein Wort zu wechseln war. Manchmal erzählte die Wirtin von ihrem gestorbenen Mann, der mit anderen oft hinaus gemusst habe im großen Ruderboot bei heftigen Stürmen, wenn die Seeleute vom kenternden Schiff in der tobenden See um Hilfe riefen, und zeigte Bilder mit den Helden von der Seenotrettungswache. Dann malte ich ihr wohl ein paar Fensterrahmen in frischer weißer Farbe, mit Tee belohnt. Mittags ging ich in die Kneipe an der Hauptstraße, wo die gebratenen Heringe zart und nicht teuer waren. Ein Strandkorb für den Nachmittag lohnte nicht, der Sturm fegte jeden Tag die Strände sauber, und ich konnte weit wandern auf der Suche nach Strandgut, an dem ich schnitzen wollte. Mein Geld hatte nur gereicht für eine Hucke unterm Dach. Dort lag ich an der trüben Lampe und las in den 25.000 Versen des Parzival-Romans. Dieter Kühn, der die Verse neu übersetzt hat, meint, Wolframs Opus sei das erfolgreichste epische Werk des Mittelalters gewesen, ein richtiger Bestseller und abgeschrieben auf den Häuten aus Pergament. Eine Szene entsprach meiner Stimmung. Königin Herzeloide lebt als Alleinerziehende mit Sohn Parzival auf dem Gut Solitude. Parzival tobt umher und genießt sein Leben. Aber:
Und eines Tages sah sie ihn in Bäume starren, Vögel sangen! Sie sah genau, die Vogelstimmen dehnten ihrem Kind die Brust – es war sein Wesen, war die Sehnsucht. Die edle Herzeloide hasste die Vögel, wusste nicht warum. Sie wollte den Gesang verscheuchen, trieb die Ackersleut und Knechte zur allergrößten Eile an: Vögel fangen und erdrosseln! Die Vögel freilich ritten schneller, es kamen da nicht alle um, ein Teil von ihnen blieb am Leben, wurde singend wieder munter …
Ich träumte mir einen Film mit einer solchen Szene, fragte aber gleich, wer würde das kaufen und machen wollen, Ich sammelte Muschelgehäuse und baute eine Miniburg am Strand, eine Lösung des Problems brachte das nicht. Sand, Wind und schäumendes Meer taten das Ihre, meine lahmen Flügel zu kräftigen, den Alkohol aus der Seele zu spülen. Ich beschloss, zuhause eine moderne Schreibmaschine zu erwerben und Texte zu schreiben, abseits der Routine, zum Spaß, als Fingerübung vielleicht, damit das Schreiben leichthändig vonstatten ginge. Kein Roman würde es werden, gewiss nicht, vielleicht aber die Punkte im Blick, Blickpunkte, wenn sie möglich sind im Nachhinein.
Die Landschaft von einst, heute beschrieben, wo der Blick längst woanders zur Ruhe kam. Kann jemand den Duft einer zehn Jahre alten Landschaft anders wiedergeben als der Restaurator das gereinigte Gemälde? Wie war es denn damals in der erstickenden Hitze von Jericho. Ja, lässt sich sagen in gequälter Erinnerung, ja, es war heiß. Aber wie heiß, wie war das, mit der Hitze auf der Haut, Hitze, die ins Innere stach, wie genau? Das Tonband fragen? Gab es die präzise Beschreibung des Moments? Auf dem Tonband, die Stimmen stimmen, Geräusche, gedämpft von der Umwelt, gehen mit, geben Kolorit. Atmer sind da, das Zögern nach Worten. Doch das Wahre von damals, ist es anders als festgefroren in den Schichten der braunen Bänder? Das Ich setzt sich zusammen aus bunten Splittern, wer wird erinnert, was erinnert sich? Du sortierst es dir zurecht, das Erinnernswerte, weil du nicht leben kannst mit dem Müll, den das Leben in dir zu Haufen schaufelte. Selektion zum Überleben, nun wohl – selektioniere! Doch jener, der das Selektierte papieren vor Augen hat, es vergleicht und ordnet ins eigene Paket der Erinnerung – was tut er damit. Ein Spiel spielen? So gibst du anderen die Steinchen zum Spielen. Und wenn sie die Murmeln nicht wollen, weil ihre Rundungen nicht vollkommen sind? Kinder tauschen Murmeln, bunte gegen große. Ein Vorteil muss schon sein. Gedächtnis, das Spiel der bunten und der großen Murmeln, die Lotterie der Selektion – was bleibt, ist gut, warum wäre es sonst geblieben? Wer all das multiplizieren will, das Millionen mal Millionen Murmelspiel der Millionen Gedächtnisse, er könnte nicht anders als den Abschied nehmen vom Schreiben.
Sie kamen manchmal, die Momente des verspielten Schreibens auf Bierfilzen und Servietten in Kneipen beim Apfelsaft-Trinken. Ein Psychologe hätte von Prozessen der Verinnerlichung gesprochen, von Anzeichen einer Heilung. Draußen schwanken die großen, grünen Blätter des Fliederbusches. Immer wieder hackt der Hausmeister ihn ab, und doch schaut er immer wieder in mein Fenster, gern gesehener Gast. Die schöne Farbe ist das lichte Grün der vom harten Gegenlicht durchsonnten Blätter mit dem Filigran ihrer Rippen. Erinnerung an den FBI-Mann namens Baker, der Pflanzengefühle mit dem Lügendetektor belauschte und fand:
Pflanzen leiden und können sich freuen. Ich blicke meine Pflänzchen beschwörend an und schicke ihnen geistige gute Wünsche, bilde mir ein, ihre Chlorophyllkörner zu sehen, wie sie sich munter bewegen und Zucker machen.
Das Heute ähnelt, zum Verwechseln, dem Gestern. Orte, Anlässe und Form des Tagebuchschreibens sind 1987 nicht anders als 1945. Noch immer wird aufgeschrieben, was sich scheut, gesagt zu werden. Mag sein, dass sich Gedanken dieser Art leichter nachlesen als nachhören. Kniffligkeiten des Formulierens haben sich inzwischen kaum entknotet. Private Tagebuchblätter lassen es leichter zu, fetzenhaft, marginal zu formulieren, ohne im Nachhinein die Bauchschmerzen der Prüfung durch andere zu initiieren. Ich lese Fontane, wie er lustig durch das Frankreich von 1871 reist und seinen dienenden Sohn trifft. Frage: Was sind Gefühle? Wie wird man ihrer gewahr? Woran lässt sich festmachen – du hast ein Gefühl oder da ist nichts, nur tote Ebene? Und wenn, ist es schlimm, kein Gefühl zu haben, sind jene gebenedeit, die Gefühle ihr Eigen nennen? Oder ist es besser, nicht zu reflektieren über Emotionen, ihr So- und Nichtsein, einfach hinzunehmen als Geschenk einer Macht? So kann man nur abstrahierend an das Problem der Gefühle herantreten, zag anklopfend, ob eine Tür aufgetan werde dem Fragenden.
In Bochum ließ man mich einen Vortrag halten über das Paradigma in den Wissenschaften. Ich endete mit einem Satz des Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker:
Einmal im Leben muss ich alles in Zweifel ziehen, was ich bisher geglaubt habe. Einmal im Leben ist diese Anstrengung notwendig. Heute finde ich mich in der Lage dazu; heute will ich beginnen.
Wenn es nur nicht so schwer wäre, sich selbst, also das eigene Sein, in Zweifel zu ziehen.