Sigi starb in Afrika
Zehn Jahre waren vergangen, seit wir den blonden Christian mit der Kamera begleiteten zu den dornigen Akazien im fernen Ferlo des Senegal in Westafrika. 1980 und 1990, eine Generation hatte die nächste abgelöst in La Brousse
im Süden des Sahel. 1990 brachen wir wieder auf, um zu dokumentieren, wie deutsche Entwicklungshilfe (Hilfe zur Selbsthilfe, Ressourcenschutz) sich hier entwickelt hatte, ob sie den Hirten geholfen hatte bei der Reparatur unendlicher Schäden an der Umwelt aus der Vergangenheit. Die Deutschen haben viel Scheiß gebaut
, sagte ein alter Experte, aber jetzt denken sie nach. Alle Ressourcen-Schutzmaßnahmen stehen im massiven Interessenskonflikt mit der einheimischen Bevölkerung, wir müssen runter von der großen, teuren Technik und hin zu einer großflächigen Anwendbarkeit, die bezahlbar, kontrollierbar ist. Es ist immer die Frage, wer hier die Hosen anhat, die Deutschen oder die Senegalesen
.
Wir fuhren wieder in Kolonne von Dakar auf der Küstenstraße nach St.Louis. Die Ortsnamen klangen vertraut. Die Bäume an der Landstraße waren höher gewachsen, aber die Baobabs sind noch immer die Denkmäler botanischer Lächerlichkeit. St. Louis, Hotel La Poste am Markt, vertraut die primitiven Wald- und Jagdbilder an den Wänden der Rezeption. Der Tee auf der umrankten Terrasse vor der stählernen Flussbrücke, deren Belag unter den Autoreifen sang wie die Berliner S-Bahn. Draußen bettelten Kinder um ein paar Münzen. Ein uralter Bus bot Abenteuerfahrten ins Innere. Die Mädchen stolzierten schnippisch umher in kurzen Röcken und bunten Ohrgehängen. Das Zimmer 221 roch nach hunderttausend schwitzenden Vormietern. Fliegengitter knarrten, der Lokus zog nicht ab, die Dusche tröpfelte, die gehäkelte Überdecke gepunktet von Millionen Mückenleichen, auf dem dunklen Fliesenboden wanderten Heerscharen von Insekten unbekannte Wege. Die Nacht war durchwebt von bangen Träumen. Heiß stieg die Sonne über dem dunstig braunen Wasser. Sigi, der grau gewordene GTZDeutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit-Weideexperte, freute sich über das Wiedersehen und hatte eine Wagenladung Überlebenskram eingekauft für die Expedition in die Wüste.
Wer raucht, fährt im ersten Wagen. Sigi steuerte nicht den vertrauten Weg über Richard Toll, er kam von Süden her und der alte Fuchs verfuhr sich im Gewirr der kreuz- und quer verlaufenden Pfade im gelben, endlosen Sand. Musste freundliche Hirten nach dem Wege fragen, durch tiefe Furchen, vorbei an dürren Büschen, an Kümmerbäumen, und nirgends rief ein Vogel. Es knallte unerfreulich und der Reifen war platt. In kochender Hitze Gepäck auspacken, Wagenheber raus, Toyota hat den Ersatzreifen tief unter dem hinteren Blech versteckt. Der Backofenwind ohne Feuchte dörrte die Haut, der Körper verlangte nach Sprite
. Herden zogen meckernd vorüber, Hirten grüßten, ein Eselsgespann schleppte Wasser in dicken schwarzen LKW-Autoschläuchen.
Eine Rundhütte an kleiner Wasserstelle – und endlich, die weite, flache, braune, hufezertretene Arena um den Betonbrunnen. Vindou Tiengoli, Zentrum deutscher Entwicklungshilfe im Norden Senegals, Ort eines einst ehrgeizigen Aufforstungsprogramms der Acacia senegal. Größer war die deutsche Station geworden, schicker, mit Gästehaus, Veranda, Garten und Sonnendach. Hundert Meter weiter: Vindou, 7000 Einwohner inzwischen, mit Straßen, einer Moschee, einer Schule und Kaufmannsläden. Die ordentlichen Deutschen haben eine Straßenbeleuchtung installiert. Fulbefrauen wanderten einher, neugierig die ToubabsIn Zentral- und Westafrika der Name für Weiße
musternd, hübsch in ihren leuchtend blauen Boubous mit den gleichfarbigen Kopftüchern. Weiß die langen Gewänder der würdevollen Herdenführer. Feuchte Händedrücke, Gemurmel in französisch, in Fula und Wolof. Aber die schöne Aby, die einst die Zeichen in den Sand malte, sie ist nicht zu sehen, ist sie glücklich irgendwo da draußen im Ferlo mit dem Vater Ines?
Sigi hatte Weideperimeter vermessen und Zäune bauen lassen, wie schon vor zehn Jahren. Doch wer hielt sie instand gegen die akrobatischen, bäumekletternden Ziegen? Wer zahlte wann für was? Immer nur die Deutschen? So wichtige Fragen wurden, wie überall in Afrika, im großen Palaver besprochen. Von Männern natürlich, denn die Frauen blieben beim Brunnen, bei den Kindern und am Kochherd. Unter den Männern des Fulbestammes war der würdige Carlingel alias Salika der Boss, ein gut aussehender Familienvater und Herdenführer aus altem Stamm. Mit ihm versammelten sich die Honoratioren im Hof, alle fein gemacht mit den besten Gewändern. Kein Afrikaner sitzt freiwillig in der Sonne, der Kameramann fürchtete aber um die richtige Belichtung der schwarzen Gesichter und ordnete an: alle ins Licht setzen. Sie taten es und schwitzten. (Wer zahlt, schafft an, oder?) Genossenschaftspräsident Dadal-ka begrüßte das deutsche Team und sagte, er würde gern mal nach Deutschland fahren um zu sehen, wie sich dort das Leben abspielt.
Rede ... Gegenrede ... Murmeln ... Argumente .... Palaver in bester Tradition, Sigi mitten drin, einer der Ihren. Ja, man will die Zäune der Deutschen reparieren, ja, man will die Rückzahlung am Zauneigentum pünktlich jährlich leisten. Man weiß, dass die Familien, die in den umzäunten Arealen wohnen dürfen, besser leben, gesünder, als draußen. Und immer gehe es ja um das Wohlergehen der kostbaren Kühe, die jung nicht geschlachtet werden.
Gemessenen Schrittes gingen die Herdenführer auseinander, freundlich die Deutschen grüßend, die hier einen Wandel in Gang gesetzt haben. Sigi unter dem zerknüllten Trapperhut strahlte. Sein Baby, die geschützte Weide, war das einzige Projekt der Deutschen, das eine Zukunft hatte. Weil es den Intentionen der Fulanis entgegenkam, weil sie es begriffen. Vom hohen Wasserturm aus drehte die Kamera die ruhenden und trinkenden Herden an der Wasserstelle. Hier hatte sich in den zehn Jahren nichts zum Besseren geändert, aller Boden war wie immer zertrampelt von Hunderttausend Hufen und tot. Im Gästehaus aufs Essen wartend, redete man über das gescheiterte deutsche Projekt und was man wo und wann drehen wird. Der GTZ-Chef Dr.Baum wünschte ein Statement abzugeben und hatte Angst vor möglicher Kritik aus der Zentrale in Deutschland. Sigi verteilte Kondome aus einer großen Tüte, für alle Fälle, ihr wisst ja, die Fulbefrauen sind selbstbewusst und frei in ihrem Liebesleben, aber passt gut auf!!! Von AIDS sagt er nichts. Aber den Crewmännern war kaum nach Lovestories im Sand zumute.
Aufbruch. Schweigsam, bedrückt saß Sigi am Steuer. Früh morgens führte er zur Wasserstelle M'bar Toubab. Vor zehn Jahren ein Paradepferd der Entwicklungshilfe. Und heute? Wo waren Sigis Wassermelonen, wo die Tröpfchenbewässerung, wo die vielen kleinen Akazien in ihren Pflanzbeuteln, wo das neue Palaverhaus im schönen Arbeiterdorf? Ruinen, verwehte Trümmer, geborstene Wände, überwucherte Beete, ein einsamer Esel. Wie viele Deutsche Mark lagen im Sande vergraben und wie viele Hoffnungen. Ein ehrgeiziges Modell einer ökologischen Rundum-Aufforstung mit Siedlung und Gärten zur Selbstversorgung: tot und kaputt. Gescheitert an fehlender Zukunftsplanung, an der Überheblichkeit mancher Experten, die zwar die Landessprachen nicht sprechen, aber alles besser wissen als die Einheimischen. Weiter zur Wasserstelle Tatki.
Ach, da standen sie noch, die pflegeleichten Vielzweckbäume
der Marke Acacia senegal in Reih und Glied. In seiner produktiven Zeit liefert jeder Baum an die 3,6 kg des kostbaren Gummi arabicum. Doch das Missverhältnis zwischen den Produktionskosten und den Marktpreisen war zu groß. Schlimmer noch: 1983, drei Jahre nach dem ersten euphorischen Dreh brach die schreckliche, langanhaltende Dürre übers Land herein – und so war aus der Traum.
Ich fragte nach den Betroffenen, den Fulbe (Pullo, Peul, Fulani). Das selbstbewusste 5-Millionen Volk gibt Rätsel auf. Deutsche Projekte erkundeten interdisziplinär das menschliche Umfeld: Geschichte, Religion, Bräuche, Gesundheit, Literatur, botanisches Wissen. Aus alter Freundschaft wurde ich freundlich geladen ins geflochtene Rundhaus des alten Carlingel alias Salika. Wir hellten das Dunkel im Inneren auf mit Hilfe zweier Batterieleuchten, es entstand ein Rembrandt-Effekt. Selbstbewusst und schweigsam saßen sie auf den buntbedeckten Rundbänken an den Innenwänden. Das Familienoberhaupt Carlingel, neben ihm die älteste seiner vier Frauen namens Djoumel, eben befasst mit der langwierigen Tee-Zeremonie. Zweitfrau Selam trug das Baby auf dem Arm. Tiefblau gewandet Tochter Dengeré, neben ihr die hübsche Fatime im grünen Gewand. Im Dunklen das Baby Djoumel und die Schwiegertochter Hola. Mit seinem ältesten Sohn zusammen hatte Carlingel im von Sigi eingezäunten Perimeter 80 erwachsene Rinder, 30 Kälber, 80 Schafe und 40 Ziegen. Sie alle fühlten sich wohl, waren gut genährt, wohlhabend. Nirgends die Trommelbäuche der Unterernährung wie in anderen Teilen Afrikas. Sigi durfte mit seinem Weideexperiment zufrieden sein – auch deshalb wurde er hier allerorten gegrüßt und verehrt.
Unter dem riesigen Baobab hockte Projektleiter Dr. Baum mit der jungen Diplomandin Ellen Koller im Gesträuch. Sie steckten Pfähle in die Erde und zählten alte und junge Bäume. Sinn der Übung war ein Vergleich zwischen der Vegetation in der feuchten Senke mit der auf der trockenen Höhe. Hier wuchsen vor allem Acacia, Belanites, Boscia senegalensis. Man wollte wissen, wie sich 5 Jahre eingeschränkter Viehhaltung auf das Regenerationsvermögen der Bäume ausgewirkt hatten. Grasendes Vieh im Senegal, erklärte Baum, wirke wie in Deutschland das Überhandnehmen von Wild in den Wäldern. Deshalb würden hier gegen wild grasende Tiere Flächen eingezäunt. Das sei Ressourcenschutz, eines der oft zitierten Schlagworte der deutschen Entwicklungshilfe.
Früher waren es die Herdfeuer und der Mond, die das Dorf Vindou nachts erleuchteten, heute waren es die Lampen der Deutschen. Am Ortsrand eine schwarze Hütte, kaum zu finden. Im düsteren Innenraum drängten sich Jugendliche, tranken das gespendete Brausewasser. Die Musik aus Schallplatten dröhnte in die Nacht. Jungen und Mädchen wiegten sich im Rhythmus, wie nur Afrikaner das können. Ohne Alkohol. Und verschwanden grußlos, schwarze Schatten.
Am frühen Morgen trugen, wie stets, die Frauen mühe- und würdevoll die Gefäße mit 40 und 50 Litern Wasser vom Brunnen in die Häuser, bereiteten den Tee, buken Küchlein aus Hirse in Öl. Die Herren ruhten derweil im Schatten, rauchten und plauderten. Eine junge Frau machte den Toubab aus Allemannia an, strich sich den Bauch, grinste freundlich mit weißen Zähnen. Alles lachte – sie nahm den Fremden auf den Arm und freute sich über dessen Verlegenheit. Zeigte aber stolz ihren Ausweis mit den Namen der Familie und viele große Fotos. Alle waren bereit, sich fotografieren zu lassen zum Abschied. Aus winzigen Gläsern der letzte süße, heiße Tee, ein feuchter Händedruck.
Die Wagenkolonne in Richtung Richard Toll und St. Louis rutschte durch den ausgefahrenen Sand. Der Ferlo sieht aus wie ein Stück afrikanischer Savanne, nur die Elefanten fehlen. Durch die Fenster strömte Luft aus dem Backofen, 50 Grad mindestens. Zeit zum Dösen. Bilder flimmerten vorbei. Erstaunlich, diese Fulani – immer brachen sie in Gelächter aus, für sie war der Toubab ein unbegreifliches Wesen aus einer fernen Welt. Wenn ich den Männern eine grobe Afrikakarte in den Sand malte, begriffen sie sofort, wo die Heimat war. Und zeigten auf Dinge, die sie haben wollten, akzeptierten ohne Aggression, wenn ich meine Uhr nicht hergeben mochte. Diese Menschen lehrten mich Geduld, Zeit-haben, das Hinnehmen von Gegebenheiten, das sich anpassen an Raum, Klima und Mitmensch. Niemand wird sie idealisieren, Schlitzohren die sie sind. Aber sie können Dinge lehren, die Westler mit ihrer Ratio dringend nötig hätten. In ihrer komfortablen Isolation wirkten die weißen Helfer oft unbeholfen, obwohl sie betont höflich auftraten, manchmal kriecherisch. Um ja nicht als Rassisten zu gelten.
Die Deutschen wollten das Verhalten der Hirten ändern, zu deren Bestem, wie man sagte. Seit Jahrtausenden aber wandern die Herden über alle Grenzen hinweg dorthin, wo Gras wächst und ein Brunnen Wasser spendet. Dann sollten sie in umzäunten Arealen sesshaft werden, sollten ihren Stolz, die Herden, dezimieren, sollten gar Kühe schlachten lange vor dem Schlachtalter. Ein Markt für Kalbfleisch sollte in St. Louis entstehen, dirigiert vom deutschen Forstrat und mit Hilfe der cleveren Madame Kane in ihrem buntbemalten Fleischstand. Wie aber wird es weitergehen? Sigi schnippte die Zigarette in den Sand, schob den Sombrero ins Genick: Da kommt ein alter Mann, wo wir in der Runde sitzen, und sagt, er will auch reden, aber nicht zu viel. Er wirft einen Stock in den Kreis und sagt, wir wollen nicht hoffen, dass dieser Stock ein geladenes Gewehr ist, denn dann löst sich ein Schuss, das Pulver ist verschossen, alles ist wie früher. Vor den Deutschen waren schon viele hier. Die haben es so gemacht wie das Gewehr, dann war das Pulver weg, sie selber weg und wir sind immer noch hier.
In der Runde sagte Sigi: Ich bleibe! und heute sagt man, Sigi ist immer noch da.
Ein Kollege sagte, Sigi, du spinnst, gehst gesundheitlich kaputt in dem Backofen, und wenn dich die GTZ nicht mehr braucht, schickt sie dich zum Teufel. Dazu Sigi: Ich bin jetzt 23 Jahre hier, in der Zentrale in Deutschland gehe ich kaputt, ich bin kein Bürokrat.
Sigi ist gestorben, irgendwo in Afrika, verbraucht im Dienst an der Sache, die sein Leben war.
Nachts in der bunten Halle des Hotels La Poste saß ein friedliches und fröhliches und manchmal singendes Relikt aus dem vorigen Jahrzehnt, die Lebedame Coumba – immer und zu allen Diensten bereit. Und leise rauschte der Gambia unter dem Fenster.