Vom Sinn des Alterns
Älter werden, ein bisschen weise … Es fällt leichter, einzutauchen in eine Vergangenheit, die als freundlich, lichtdurchflutet, warm erlebt wird. Es führt aber auch dazu, Vergangenes in einem helleren Licht zu sehen, als die Realität es in Wahrheit zeigte. Die frühen 90er Jahre waren für dies Land jene geschichtliche Epoche, da die Westler und die Ostler sich neu vereinigt miteinander arrangieren sollten. Es war hartes Brot, das sie aßen, und die politisch verordnete Fröhlichkeit (alles wird gut, es wird zusammenwachsen, was zusammengehört in blühenden Landschaften), alle Euphemismen und Verlogenheiten der regierenden Parteien stellten sich bald als das heraus, was sie waren, Schönfärbereien, um das Wählervolk einzuschläfern, damit die Menschen nur noch ein Kreuz machen konnten an rechter Stelle. Bittere Enttäuschung im Osten machte der Begeisterung über Wessibananen Platz, Enttäuschung auch darüber, wie mit den guten Erkenntnissen und Menschlichkeiten der Zone
nun umgegangen wurde, wie erbarmungslos der westliche Kapitalmarkt die blühenden Lande überwucherte.
Später mussten wir DDR mit Anführungsstrichen schreiben, denn Adenauer hatte befohlen, es gäbe sie gar nicht. Jener Adenauer, der irgendwann auf die Idee kam, er müsse ein bundesdeutsches Staatsfernsehen gründen – und auf den Bauch fiel. Manchmal vermisste ich die Gnade der späten Geburt
des Nachfolgers Kohl, denn als Frühgeburt
bewahrte ich für meinen Geschmack zu viele Erinnerungen, die mich störten in den Nachdenklichkeiten der Epoche. Auf eine vertrackte Weise verschmolzen die Bilder der Vergangenheit zu einem Kaleidoskop der Zeit, Bilder, Töne, Gerüche – ein Wirbel der Vergänglichkeit, gelebtes, selten geliebtes Leben.
Älter werden, sich alt fühlen – man merkt es daran, wie viele Freunde schon gegangen sind, weil ihre Zeit kam. Man redet im Geiste mit den Toten, erbittet Rat und Hilfe, wie früher. Die Freunde bleiben stumm. Älter werden, sich alt fühlen – was hast du getan in deinem Leben, und war es das wert? Wer Seneca liebt, wird in seinen Texten Trost suchen, etwa in Von der Kürze des Lebens
. Da schreibt der Philosoph vor zweitausend Jahren:
Geistig spüre ich noch keine Ausfallserscheinungen, wie sehr ich auch die körperlichen Schäden des Alters empfinde. Mein geistiges Wesen hat einen großen Teil seiner Last abgelegt. Es ist froh und diskutiert mit mir über den Wert des Greisenalters: das Alter sei die Blütezeit des Geistes.
Wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern wir vergeuden zu viel. Leben muss man das ganze Leben lang lernen, und auch sterben muss man das ganze Leben lang lernen.
Beides ist schwer in dieser Zeit – eben weil die Zeit uns wenig Zeit lässt für uns und die Verwirklichung der in uns schlummernden Möglichkeiten. Auch deshalb fragt der älter Gewordene sich sorgenvoll: Hab ich genug aus dem gemacht, was mir mitgegeben wurde? Und antwortet beschämt, nein, es war zu wenig. Da hätte mehr sein können, müssen! Nun ist es zu spät. Nun musst du dich bescheiden in dem, was dir noch möglich ist. Der wahrhaft weise Seneca sagte auch das folgende: Man soll jeden Tag so einrichten, als schlösse er die Reihe unserer Tage ab, als setzte er dem Leben ein Ziel und ein Ende.
Wer sich am Abend gesagt hat: Ich habe mein Leben gelebt
, erhebt sich jeden Morgen mit dem Gefühl, dass ihm ein unerwarteter Gewinn zufällt.
Schmerzhafte Einsichten führen zur Abfassung privater Erinnerungen. Geschieht dies, weil der Mensch weiterleben möchte in den Gedächtnissen möglicher Leser? Zum mindesten hat das Wühlen in den Kisten und Kasten der trügerischen Erinnerungen den Effekt, dass dem älter Gewordenen die sparsame Spanne Lebens, die er durchlief, recht zum Bewusstsein kommt. Und er wird gewahr, wie oft und wie sehr er immer wieder geirrt hat – in der Beurteilung naher Menschen, in der Suche nach dem rechten Weg, rechter Erkenntnis.
Schauen wir in die Vergangenheit.
Geronten
nannte man in der Antike die Greise, die Ältesten, die auch Recht sprachen an der Seite des Königs. Wir finden sie schon bei Homer im Rat des Agamemnon. In Sparta bestand der Rat der Geronten, die Gerusia, aus 28 Männern, älter als 60 Jahre und mit untadeligem Ruf. Sie wurden auf Lebenszeit gewählt, waren die Höchsten im Staat und niemandem Rechenschaft schuldig. Davon sind wir Heutigen Äonen entfernt. Heute untersucht die Gerontologie, die Alterns-Forschung, warum wir altern und uns dabei so bescheuert empfinden.
Unser Land steuert auf eine Altenrepublik
zu, um 2030 wird jeder zweite Deutsche älter sein als 50. Doch die heutigen Alten sind keine erhabenen Geronten, manche zeigen eher abschreckende Beispiele dafür, wie Jugend einmal aussehen wird. In der Werbung reduziert man die Alten auf Treppenlifte, Kukident und Granufink bei Blasenschwäche, Nivea vital für die reife Haut. Sex appeal? Igitt!
Altenheime heißen politisch korrekt – eher euphemistisch Seniorenresidenzen
, aber da residieren keineswegs nur Senioren, allzu oft werden wundgelegene, hilflose Greise lieblos von überforderten Hilfskräften zu Ende gepflegt, bis sie entsorgt werden können. Todgeweihte werden zu Teilen der Wegwerf-Society. Die Gesellschaft hat dem Tod abgeschworen, sie betet gebräuntes Frischfleisch an wie den Gott des Mythos – vor allem im Fernsehen. Ein Mit- und Füreinander von jung und alt ist die seltene und medienträchtige Ausnahme.
Im Sommer des Jahres überraschte der Sender uns mit dem Plan, ein Altenmagazin
zu machen, attraktive Folgen zu produzieren für ein Publikum, das sich in den Sendungen wiederfinden sollte. Der Leitgedanke hieß Alternativen
. Ältere Zuschauer / innen sollten angeregt werden, nach Alternativen für ihr Leben zu suchen, anstatt sich im zermürbenden Altersstress das Einerlei häuslicher Arbeit aufzubürden. Eine Sendung wollte der Frage nachgehen, wie der ältere Mensch sich ehrenamtlich beschäftigen kann und was das für ihn und für die Gesellschaft bedeutet. Ein gutes Thema , weil weite Teile des öffentlichen Lebens nicht funktionieren würden ohne das anonyme Heer der ehrenamtlichen Frauen und Männer.
Das Fernsehen tut sich nicht leicht mit den Alten und Älteren in den Reihen der Zuschauer, weil alle Menschen, eben auch die im Fernsehen Beschäftigten, eine Todesangst haben vor den Folgen des Alterns, vor Hässlichkeit, Leid, Vereinsamung, Schmerz und Sterben.
Wie so vieles auch, wird Alter und Altern in unseren Tagen wissenschaftlich erkundet. Die USA sind da schon weiter. Dort bekannt ist der Anatom Leonard Hayflick an der Universität von San Francisco. Sein Buch Wie und warum wir altern
formuliert es so:
Alter ist eine Lebenszeit, da mehr und mehr Dinge zum letzten Mal geschehen und weniger und weniger Dinge zum ersten Mal.
Bemerkenswert sind die Befunde der Baltimore Longitudinal Study of Aging
:
- Menschen über 70 können kleine Veränderungen nicht mehr so rasch entdecken, z.B. die Bewegungen des Uhrzeigers.
- das Kurzzeitgedächtnis nimmt mit dem Alter ab.
- Die mündliche Lernfähigkeit (im Gegensatz zur schriftlichen) nimmt ab.
- Das visuelle Gedächtnis, die Fähigkeit, aus dem Gedächtnis geometrische Figuren nachzuzeichnen, nimmt stark ab
Altern resultiert von der Interaktion genetischer, ökologischer und der Faktoren des Lebensstils. Die Veränderungen durch das Altern sind individuell höchst verschieden. Unstreitig ist aber, dass der Faktor Zeit
mit dem Alter eine besondere Rolle zu spielen beginnt. Alte Menschen werden das Gefühl nicht los, keine Zeit mehr zu haben, weil die Zeit ihnen unter den Händen zerrinnt, wo sie doch noch so viel zu tun haben. Guy Pentreath schrieb den folgenden Text auf eine Glocke der Kathedrale von Chester:
For when I was a babe and wept and slept, Time crept,
When I was a boy and laughed and talked, Time walked;
Then when the years saw me a man, Time ran;
But as I older grew, Time flew.
Es war ein guter Zufall, dass während unserer Vorbereitungen eine ältere Dame die Hansestadt besuchte, um im Museum für Völkerkunde ihr neues Buch vorzustellen: The Fountain of Age
– die Autorin, klein, stakkatosprechend im New Yorker Slang, wach und quirlig: Betty Friedan. Sie hatte die Welt der Frauen durcheinander gewirbelt mit ihrem Bestseller Der Weiblichkeitswahn
. Hier ging sie auf ein Thema ein, das viele Menschen in Deutschland beschäftigt, die Depressionen bei Männern zwischen 64 und 70. Sie schreibt:
Die Arbeit geht verloren, und mit ihr die Freunde. Selbstverachtung tritt an die Stelle von Selbstachtung. Es gibt keine Hoffnung mehr. Nur noch Passivität und Hilflosigkeit, Verlustgefühle und Isolation. Ein Mann, dessen Selbstgefühl mit seiner Arbeit verquickt ist, kann leicht dahin kommen, sich wie ein Nichts zu fühlen, wenn er diese Arbeit nicht mehr hat.
Betty Friedan plädierte kämpferisch für eine Alterspolitik, die mehr ist als Renten- und Pflegepolitik. Es gelte:
- das Altersbild zu korrigieren, der Realität anzupassen;
- die Kompetenz der Älteren zu erhalten und zu stärken; die Motivation zum Tätigsein, zum Engagement der Senioren zu fördern
- vom Angebot der Älteren Gebrauch zu machen; ihre Einsatzbereitschaft abzurufen.
Menschen, die vital altern, haben das Bedürfnis, ihre neu entwickelten Fähigkeiten in die Gesellschaft einzubringen – und die Gesellschaft braucht wiederum die Weisheit und die Perspektive der Älteren und ihren Mut zur Wahrheit, um die Probleme der Polarisierung und des Verfalls anzugehen. Die Aufgabe laute Generativität. Teil eines Gemeinwesens zu sein, das heiße, Teil einer Sache zu sein, die größer ist als man selbst, und etwas zur menschlichen Gesellschaft beizutragen, um der nächsten Generation ein Vermächtnis zu hinterlassen – und das sei ein brennender Wunsch im vitalen Alter, anders zwar als das Aufziehen eigener Kinder, aber ebenso wichtig für das Überleben der Menschheit. Von den Stärken des Alters Gebrauch machen. Darin liegt die Philosophie der Betty FriedanDas ist genau die Gründungsphilosophie der Seniorenbeiräte in Deutschland. Betty Friedan hat es dort abgekupfert. Die Redaktion – G.M..
Wir nahmen Verbindung auf mit dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Ein Betonbau mit unwohnlichen Spitzen, Tetraedern und harten Kanten, ein Ort weniger der Kontemplation als kühler Forschungsarbeit. Hier lernten wir die Erkenntnisse des Ehepaars Margret und Paul B. Baltes kennen. Sie prägten den hoffnungsvollen Begriff Weisheit als Expertenwissen
. WEISHEIT, diesen uralten ehrwürdigen Begriff, der mit Güte und weißen Haaren verbunden ist, definierten die Baltes als eine herausragende Form von Lebenswissen, das höchst komplex und ausdifferenziert sei. Die Inhalte beträfen wichtige Lebensfragen und Lebenskonflikte, für die es keine eindeutigen, von der Gesellschaft vorgegebenen Antworten gebe. BaltesOhne despektierlich zu sein, dafür brauchten Sie nicht nach Berlin zu den Baltes zu fahren. Sie hätten diese Gedanken und noch viel mehr hier in Norderstedt in den Ausgaben des FORUM, des Mitteilungsblattes des Landesseniorenrats Schleswig-Holstein, in den Reden des (Mit-)gründers des Seniorenbeirats, Horst Vanselow, und den Erfolgsberichten der über 100 Seniorenorganisationen, allein in S-H, nachlesen können. Schauen Sie auch mal in die Gemeindeordnungen der Länder, die Gesetzgeber haben bereits reagiert.Die Redaktion – G.M. riet:
Da wir im Alter insgesamt weniger Kapazitätsreserven haben, ist es sinnvoll, sich weniger vorzunehmen, sich auf wenige Lebensbereiche zu konzentrieren, bestimmte Lebensbereiche werden zunehmend zu den Akten gelegt.
Weisheit des Alters – diese sei zu fördern. Weisheit kann manche Altersschwäche kompensieren. Für manchen Geronten sicher eine Erkenntnis, die es ihm leichter macht, seine Runzeln selbstbewusst zu tragen: Siehe, ich bin in Würde alt und weise geworden! Doch wie Alter sich anfühlt, d.h. wie der Greis sein Älterwerden selbst empfindet, das können die Forscher nicht wissen. Sie werden es später erfahren.
Manche Greise brauchen die emsige Aktivität, die Tatbereitschaft für Andere.
Das meinte die lebhafte Annette Uhrig in Kiel, die mit strenger Agilität den Bürgertreff
dirigierte, wo die Alten beiderlei Geschlechts das Malen üben und Englisch lernen konnten und wo eine bunte Bodenzeitung
entstand auf der Holstenstraße, interessiert betrachtet von allerlei Leutchen, die den Wahlversprechen des SPD-Abgeordneten lauschten. Unter den hohen Buchen des Segeberger Friedhofs interviewte Studentin Claudia die uralte Frau Kruse und erhielt liebenswürdige Antworten auf ihre Fragen nach den Wehwehchen und kleinen Freuden des hohen Alters. Die Psychologin Dr. Sievers brachte das Team nach Wankendorf. Betreutes Wohnen
hieß dort die Devise, und der alten Dame im sauberen Stübchen schien es besser zu gehen als den vielen, die im Großraum stumpf und verdrossen vor sich hin starrten. Das Alter ist weiblich und heißt Armut
dozierte Sievers und meinte die vielen Witwen in unserem Land, die mit 700 Mark und weniger ihr Dasein zu fristen haben bis zum vergessenen Ende.
Die Ehrenamtlichen treffen immer auch auf das verborgene Elend in dieser Gesellschaft. Das erlebte täglich Frau Swantje, wenn diese junge Schwester im PKW über die Dörfer fuhr, wo mancher Uralte schon gequält auf Hilfe wartete beim Urinieren. In Köln-Longerich trafen wir muntere alte Damen, die sich jeden Morgen um 9 Uhr reihum anriefen, um festzustellen, ob jeder noch lebte. Und eine Hundertjährige machte uns vor, wie nützlich der Funkfinger
sei, ein kleiner Signalapparat, den sie um den Hals trug und der auf Knopfdruck die Helfer der Maltheser herbeirief, falls sie es einmal nicht mehr zum Telefon schaffte. In Frankfurt begleiteten wir einen pensionierten Lufthansapiloten, der mit eigenem VW Bus übriggebliebenes Essen von Restaurants und Hotels abholte und zur Verteilung an die Bedürftigen in die alte Baracke brachte. (Mir geht’s gut, warum soll ich nicht was Sinnvolles tun?) Die munteren, gar nicht alten Alten, die Ehrenamtlichen, zu ihnen gehörten auch die ehrenwerten grünen Schwestern
in den Kliniken – sie alle ließen uns nicht los. Das Alter, ob im Ehrenamt oder auf der Parkbank sinnierend, ist ein erst mit dem Tode endendes Thema.