Tiefflieger
oder:
Ein Wochenende im Herbst 1944
Wochenende – ein Begriff, der heute, im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Gewissheit von zweieinhalb Tagen Freizeit
, mit Autofahrten ins Grüne, Nahe und Ferne, mit Gaststättenbesuchen und exotischen Köstlichkeiten, mit kulturellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen und mit viel, viel Zeit zum Nichtstun und Relaxen
verbunden ist.
Die Generation unserer Enkel und Urenkel kennt das gar nicht anders und ist davon überzeugt, dass es immer
so war. Doch gibt es noch Mitmenschen in meiner Generation, deren Erinnerungen in eine Zeit zurückreichen, wo es ganz anders
war.
Im Jahr 1944 zum Beispiel, als ich als Volkspflegerin
So lautete damals die Berufsbezeichnung für Sozialarbeiterin
in Münster, meiner Geburtsstadt in Westfalen, tätig war. Die Stadt hatte damals schon über hundert Bombenangriffe erlitten (ich hatte aufgehört, sie zu zählen) und die historische Altstadt lag in Trümmern.
Sogar unser großartiger romanischer Dom (in dem ich getauft worden bin), Amtssitz unseres Bischofs Clemens August von Galen, dessen Widerstand gegen den Nationalsozialismus auch den Kriegsgegnern bekannt war, war das Opfer gezielter Bombenangriffe geworden.
Das Nordviertel
war im Wesentlichen noch unzerstört. Nur im oberen Teil der Nordstraße, die damals Hermann - Göring - Straße
hieß, hatten drei Häuser bei einem kleineren Angriff etliche Brandbomben abbekommen. Ausgerechnet Großmutters Haus, in dem ich geboren bin und seit 1940 wieder wohnte, hatte nun kein Dach mehr, ein ausgebranntes Obergeschoss und stand jetzt als halbe Ruine traurig anzusehen inmitten der Reihe der stattlichen Jugendstilhäuser am Nordplatz.
Alle Mieter des dreistöckigen Hauses waren ausgezogen und mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben als ebenfalls auszuziehen, obwohl ich im ersten Stock wohnte und es mir gelungen war, etliche große Brandlöcher in den Decken des dritten Stockwerkes behelfsmäßig abzudichten – mit Hilfe von Franz BlankeNach dem Krieg als Laienschauspieler (Plattdeutsch) bekannt geworden, Großmutters großartigem hilfsbereiten Gemüsehändler der Nordstraße, mit dem zusammen ich zwei Rollen Dachpappe über die Brandstellen gelegt und mit Balken beschwert hatte. Herbstregen und Winterstürme würden das Haus gänzlich unbewohnbar machen. Vorerst aber war noch Frühherbst und zum Wochenende am Sonnabendnachmittag fuhr ich regelmäßig zu den Eltern nach Dülmen. Im Gegensatz zu Münster hatten wir in Dülmen noch Frieden
, das heißt, es fanden keine Bombenangriffe statt und ich konnte nachts ungestört schlafen, ein Luxus, der uns in Münster nur noch selten zuteil wurde. In Dülmen flogen zwar am Abend oder in der Nacht hoch über der Stadt manchmal Bomberverbände leise rollend gen Osten, aber das ferne Rollen gehörte in meine Träume. Keine heulenden Alarmsirenen rissen uns aus dem Schlaf. Kein hastiges Gerenne war notwendig. Es gab in Dülmen auch keine Bunker, die man angstvoll laufend hätte erreichen können.
Meine Eltern waren alleine und freuten sich über meinen Besuch. Mein Bruder Hans war an der Front
irgendwo in den Weiten Russlands und die kleine
Schwester Hella im Reichsarbeitsdienst
im Emsland und wenig später im Kriegshilfsdienst in Prag eingesetzt. Der Tieffliegerangriffe auf die Eisenbahn wegen fuhr ich damals schon fast immer mit dem Fahrrad nach Dülmen. Es war am einfachsten und man benötigte dafür am wenigsten Zeit. Dreißig Kilometer am Sonnabend Mittag von Münster nach Dülmen und montags in der Frühe wieder zurück waren auch für eine trainierte Radfahrerin, wie ich es war, eine ganz ordentliche sportliche Leistung, zudem ich beruflich ständig überfordert war. Weitaus weniger anstrengend wäre natürlich die Fahrt mit einem Auto gewesen, besonders bei Hitze oder strömendem Regen. Aber das war ein unerfüllbarer Wunschtraum. Doch eines schönen Sonnabend Mittags wurde dieser Wunschtraum überraschende Wirklichkeit.
Da stand doch am Ausgang der Stadt, auf der Weseler Straße ein Polizeibeamter und stoppte alle Fahrzeuge, die die Stadt verließen. Auf dem Gehweg daneben stand eine kurze Schlange von Menschen. Es waren Menschen, die am Wochenende die Stadt verlassen wollten oder mussten. Der Uniformträger rief laut den Zielort des Fahrzeuges, das an seiner Seite anhielt, aus, und in Windeseile setzten sich einige der Zunächststehenden aus der Warteschlange in Bewegung und erkletterten den haltenden Wagen. In der letzten Phase des Krieges waren es fast nur Lastwagen, die noch fahren durften, oft mit Holzvergaser; Pkws sah man kaum noch.
Die Lastwagenfahrer waren durchaus nicht wütend über den lästigen Polizeibeamten, der sie grundlos behinderte, ja, nicht einmal ungehalten. Und das hatte seinen Grund – den ich gleich erläutern werde.
Mein Fahrrad fand immer auf der Ladefläche des Lasters Platz am Sonnabend; denn die Ladung war meistens in der Stadt verblieben. Die ungebetenen Fahrgäste fanden ihren Platz direkt hinter der geschlossenen Fahrerkabine auf der Ladefläche, einen Stehplatz natürlich. Auch bei Beladung des Lasters war dieser Platz stets vorsorglich ausgespart. So waren die kostenlosen Fahrgäste geschützt vor dem Fahrtwind und konnten ihr Wächteramt
erfüllen und darum ging es dem Fahrer.
Zur Erfüllung der Aufgabe dieses Wächteramtes
lagen stets ein paar dicke Holzknüppel bereit; das war zwingend notwendig. Der Fahrer in seiner geschlossenen Kabine hatte ja nur einen begrenzten Ausblick und zwar in der Hauptsache nach vorn.
Wenn nun die Tiefflieger, die damals mit Recht so gefürchteten tief fliegenden Jagdflugzeuge der englischen Luftwaffe, von der Seite her oder gar von hinten ganz niedrig, getarnt auch noch durch die Chausseebäume, herangejagt kamen, waren die Fahrzeuge den Maschinengewehrgarben hilflos ausgeliefert. Vom Fahrer wurden sie viel zu spät gesehen. Wir Passagiere aber standen oder hockten, mit dem Rücken an die Kabine gelehnt mit dem Knüppel in der Hand und hielten Ausschau.
Sobald wir in der Luft, zwischen den Wolken oder durch die Chausseebäume hindurch einen Punkt erblickten, der sich in rasender Geschwindigkeit näherte, schlugen wir mit den Knüppeln wild gegen die Rückwand der Fahrerkabine. Der Fahrer brachte daraufhin augenblicklich seinen Laster mit kreischenden Bremsen und einem Ruck, der uns von den Füßen gerissen hätte, hätten wir uns nicht sofort auf den Boden niedergelassen, dicht am nächsten Baum zum Halten. Dann hieß es: Nichts wie runter von der Ladefläche und hinein in den nächsten Straßengraben! Ob der Straßengraben trocken oder mit Matsch gefüllt war, spielte keine Rolle, doch es war angebracht, den Chausseebaum oder den Laster zwischen sich und den heranrasenden Jäger zu bringen, bevor das wütende Tack tack - tack die Luft erfüllte.
An einem Sonnabendnachmittag zählte ich auf der letzten Strecke unserer Landstraße zwischen dem Dorf Buldern und meiner Heimatstadt Dülmen genau acht zerschossene Lastwagen, für jeden Kilometer einen.
Ein Bild habe ich lange nicht vergessen. Bei einem der zerschossenen Lastwagen hing der Fahrer aus der offenen Wagentür mit dem blutüberströmt zerfetzten Kopf nach unten, während wir daran vorbeirasten mit allem, was der Motor hergab, um das gefährliche, gut einsehbare Straßenstück möglichst rasch hinter uns zu bringen. Niemand hielt an den zerschossenen Wagen an: Kein Arzt, kein Sanitäter, kein Krankenwagen war zu sehen, so lange die Angriffsgefahr bestand.
Wie gut, dass die Landstraßen damals von tiefen Wassergräben begleitet waren! Heute noch sind mir Landstraßen ohne tiefe Gräben daneben unsympathisch und ich weiß, dass meine Augen automatisch noch immer nach Sichtschutz und Erdmulden suchen – nach mehr als einem halben Jahrhundert. Und eines Tages habe ich begriffen, dass es in meinem Unterbewusstsein noch immer denkt: Wo finde ich Schutz, wenn die Tiefflieger heranrasen?
Eines Sonntag morgens, als ich mich im Badezimmer meines Elternhauses in Dülmen in der Badewanne räkelteAnmerkung der Redaktion:
Deshalb badeten wir damals – wenn wir es überhaupt wagten – bei Nebel oder kurz nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Tiefflieger nicht mehr fliegen konnten und die Nachtbomber uns noch nicht erreicht hatten. Dann aber im Rekordtempo ohne Räkeln.Günter Matiba – ein luxuriöses Vergnügen, das ich in Münster nicht mehr genießen konnte, horchte ich auf.
Mein geschultes Ohr hörte ein bekanntes Brummen und zwar nicht aus großen Höhen über den Wolken…
Ich sprang aus der Badewanne, griff das Badetuch vom Hocker und rannte die Treppe hinunter in die Küche und von dort in den Keller. Schon im Flur hörte ich das erste gefährlich dumpfe Rrrrumms
, den Einschlag einer Bombe in nicht weiter Entfernung.
Die beiden anderen Bomben hörte ich unter der Erde.
Dort stand ich mit nassen nackten Füßen, das Badetuch über der Schulter im Kohlenstaub des Kokskellers. Der Kokskeller war laut Familienbeschluss als Zuflucht für derlei Notfälle verabredet worden, da er stabile Wände und keine Außenfenster hatte.
Die dritte Bombe war in etwa dreißig Meter Entfernung von unserem Haus nebenan in den Schlossgarten des Herzogs von Croy gefallen und hatte ein großes rundes Loch in die Gemüsebeete gestanzt.
Es hatte sich wohl um den Notabwurf eines feindlichen Bombers gehandelt, der von seinem Verband abgekommen und in Bedrängnis geraten war.
So erzählte man später in der Stadt.
Als meine Eltern von ihrem obligaten sonntäglichen Morgenspaziergang im herzoglichen Schlosspark zurückkehrten, wollten sie an eine ernsthafte überstandene Gefahr für unser friedliches Dülmen nicht glauben.
Eine Weile haben sie und die übrigen Mitglieder meiner Familie noch über mich gelacht, wenn sie daran dachten, wie ich patschnass zwischen den Koksbergen barfuss im Kohlestaub gestanden und mit nichts als einem Badetuch über der Schulter auf Bombenabwürfe gelauscht hatte. Nein, Ernsthaftes
konnte in Dülmen doch nicht passieren, darin waren sie sich mit den meisten Dülmenern einig.
Es gab weder Kasernen mit Soldaten noch Kriegsindustrie, nichts Kriegswichtiges oder Repräsentatives. Und die Eisenbahn verlief ja zum Glück weit vor der Stadt…
Und die kleine Eisenhütte? Nun, die lohnte
doch einen Angriff nicht. So sprach damals mein kluger
Vater.
Und er behielt ja auch Recht. Der Eisenhütte galt der Angriff nicht, am 21./22. März 1945. Sie blieb erhalten, als die Stadt in einem lodernden Inferno unterging.