Nur ein Fahrrad?
Es war kurz nach dem Zusammenbruch
, wie wir damals sagten. Ich war zum Einkaufen ins Dorf gefahren, vier Kilometer mit dem Fahrrad. Die kleine Behelfsheimsiedlung am Waldrand in der Nähe des großen Gutshofes lag so weit vom nächsten Dorf entfernt. Die Holzlauben würde man heute als menschenunwürdig
bezeichnen, mit Recht. Es gab darin weder Wasseranschluss noch Toiletten. Aber wir hatten ja das Jahr 1945.
Im Dorf hatte ich Kartoffeln erstanden und eine dicke Steckrübe. Sie klemmte unter dem Gepäckträger des Fahrrades. Milch hatte es auch gegeben, Magermilch natürlich und mageren Schichtkäse, auf Marken. Das Dorf hatte eine Molkerei. Und dann hatte ich noch etwas bekommen, eine Rarität, die es auf Lebensmittelkarten nicht zu kaufen gab, ein Gläschen Honig, echten Bienenhonig. Der Lehrer des Dorfes, der in seinem Garten Bienenstöcke besaß, hatte ihn mir geschenkt, ohne Gegenleistung.
Es war eine seltene Menschenfreundlichkeit und ich dachte daran, wie meine Mutter sich freuen würde. Sie hatte jetzt so wenig Grund dazu. Als ich die Hälfte des Rückweges bewältigt hatte und die Straße an der Stelle emporstrampelte, wo sie eine kleine Höhe erklomm, sah ich auf der sonst menschenleeren Straße ein paar Menschen. Im Näherfahren erkannte ich ein Trüppchen junger Männer. Es mochten vier oder fünf sein. Ich überlegte: Deutsche junge Männer gab es nicht. Sie waren gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft. Es mussten also polnische oder russische Kriegsgefangene sein, die bis vor Kurzem auf den Bauernhöfen der Umgebung gearbeitet hatten. Sie waren von der Besatzungsmacht
in einem Lager bei Sendenhorst zusammengefasst worden und konnten sich frei bewegen. Wie man hörte, sollten sie in Kürze nach Polen oder Russland zurückgeschickt werden.
Das Auftauchen der jungen Männer beunruhigte mich nicht weiter. Ich hatte bisher keinerlei Schwierigkeiten mit ihnen gehabt. Bei Begegnungen pflegte ich ihnen kurz zuzulächeln und sah dann immer freundliche Gesichter und hörte auch manchmal einen Zuruf, den ich nicht verstand. Im Städtchen wurde mir bereitwillig Platz gemacht, wenn ich mit dem Fahrrad aufkreuzte. Deshalb war ich auch sehr überrascht, als sich der Trupp der Fünf wenige Meter vor mir blitzschnell auseinanderzog, die Arme ausbreitete und eine Sperrkette bildete.
Wäre ich misstrauisch gewesen, hätte ich blitzschnell kehrtmachen und die Straße zum Dorf zurückrasen müssen. Von der plötzlichen Aktion überrumpelt, verpasste ich diese Reaktion. So sah ich mich denn umringt. Zwei kräftige Männerfäuste fassten die Lenkstange, zwei hielten den Sattel fest, ein dritter junger Mann zog mich vom Sattel. Ich versuchte es mit Verhandlung und flehte: Oh, bitte, dieses ist Mammas Fahrrad. Wir brauchen es dringend. Wir haben nur dieses eine und wohnen da oben
ich zeigte mit der Hand. Wir können nicht einkaufen ohne Fahrrad. Wir können nicht soweit tragen.
Doch die jungen Männer lachten nur. Einer fasste mich unter die Arme, ein zweiter bückte sich und ergriff meine Beine, während ich mich heftig strampelnd wehrte und verzweifelt: Oh, bitte nicht!
schrie. Dann schwangen sie mich durch die Luft und trudelten mich vom Straßenrand den Abhang hinunter. Die Straße verlief an dieser Stelle erhöht, weil es links und rechts der Straße einmal Sandgruben gab, die nun aber längst planiert und mit Gras und Getreide bewachsen waren. Etwas weiter weg in der Tiefe der ehemaligen Sandgrube lag auch ein Bauernhof, aber mein Jammern konnte man dort natürlich nicht hören. Der Abhang war an dieser Stelle mit Gras bewachsen und außer einem Stein, der mein bloßes Knie schrammte und etlichen Disteln begegnete mir nichts Widerwärtiges bei meinem Trudeln in die Tiefe. Als ich mich, unten angekommen, benommen hochrappelte, schauten zehn Meter über mir vom Straßenrand fünf lachende Gesichter auf mich herunter und anfeuernde Rufe waren zu vernehmen. Zweifellos fanden die Fünf ihren Einfall oder vielmehr Überfall, den sie vermutlich vorher verabredet hatten, ganz hervorragend und mich als kostenloses Belustigungsobjekt höchst geeignet.
Ach, sie konnten ja nicht wissen, dass meine Eltern drei Tage vor Kriegsschluss mit ihrem Fahrrad und nur je einem Koffer auf dem Gepäckträger bei mir eingetroffen waren. Es war alles, was sie aus einem Einfamilienhaus in einer gänzlich zerstörten Stadt hatten retten können. Die belustigten Räuber oben am Straßenrand ließen nun als Krönung ihrer tollen Idee die Steckrübe den Berg zu mir herunterkollern. Dann folgten die Kartoffeln und sogar das Stückchen Store, das ich im Dorf ergattert hatte und das ein wenig zur Abschottung gegen die allzu dicht wohnenden Nachbarn dienen sollte, kam heruntergerollt und blieb an einer Distel hängen. Das Honigglas fand ich in meiner Einkaufstasche am Straßenrand vor, die Milchkanne und die Börse mit den paar Mark Wechselgeld ebenfalls, als sich meine Quälgeister entfernt und ich den Hang hinaufklimmend Kartoffeln und Rübe aufgeklaubt hatte.
Meine Mutter weinte, als ich ohne ihr Fahrrad mit den Einkäufen angeschleppt kam und vom Überfall erzähltee. Nun hatten meine Eltern und ich zusammen nur noch ein Herrenfahrrad und nichts zum Tauschen, womit sich ein Rad erwerben ließ. Solche oder ähnliche Geschichten haben damals Tausende von Menschen erlebt und waren nicht ungewöhnlich, wenn sie nicht noch ein Nachspiel gehabt hätten. Da die Kriegsgefangenen aus dem Lager Sendenhorst in ihre siegreichen Heimatländer rückgeführt werden sollten, stellte die englische Besatzungsmacht Transporte zusammen und die Umgebung begann aufzuatmen. Denn es geschah immer wieder, dass irgendwo in der Nähe oder auch weiter weg ein roter Feuerschein die Nacht erhellte und Feuersirenen aufheulten. Ehemalige Landarbeiter steckten nachts die Höfe, auf denen sie zwangsverpflichtet gewesen waren, in Brand. Es brannten zwar längst nicht alle einzelnstehenden Höfe ab und man munkelte, dass nur die Gehöfte in Flammen aufgingen, auf denen die Arbeiter streng nach Vorschrift
und oft auf Druck von oben
schlecht behandelt worden waren, aber die verständliche Rache traf nicht nur die Landwirte, sondern auch Flüchtlinge und Ausgebombte, mit denen die Gehöfte vollgestopft waren.
Die Militärpolizei fuhr regelmäßig nachts Streife, konnte aber die nächtlichen Feuerwerke nicht verhindern. Schnelle Rückführung der ehemaligen Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter lag gleichzeitig im Interesse der Bevölkerung und der Besatzungsmacht. Die Hauptbetroffenen waren allerdings dagegen, gegen die schnelle Rückführung. Man hörte von Demonstrationen, vor allem der Russen gegen die Militärpolizei, die anscheinend Zwang anwenden musste, um die jungen Männer zum Einstieg in die Transportlastwagen zu bewegen. Es war uns zuerst unverständlich. Mussten sie nicht glücklich sein, dass es heim zu Muttern
ging? Von Leuten, die sich mit ihnen verständigen konnten, erfuhr man aber, dass es Russen gab, die ein weiteres Verbleiben in Deutschland der Rückkehr nach Hause bei weitem vorziehen würden, falls man ihnen die Wahl ließ. Aber die Wahl hatten sie nicht, niemand fragte sie. Mit Fahrrad hatte die Rückführung insofern zu tun, als die Besatzungsmacht
ihren russischen und polnischen Schützlingen die vielen Fahrräder, die sich in den Lagern angesammelt hatten, nicht hinterherschickte, sondern sie einkassierte. Es sollten sich tausend Fahrräder beim Stab
in Gremmendorf befinden, sagte das Gerücht. Jeder, der einen Diebstahl oder Raub seines Fahrrades beweisen könne, dürfe sich dort ein Fahrrad abholen, sagte das Gerücht.
Als ich davon vernahm, machte ich mich stehenden Fußes auf. Vorher ließ ich mir von unserem Dorfpolizisten eine gestempelte Bescheinigung ausstellen über Diebstahl eines Fahrrades durch polnische Landarbeiter
(besitze ich auch noch heute.) Nach fünfzehn Kilometer Fußmarsch auf staubiger Landstraße an der großen Kaserne angekommen, hatte ich das unerwartete Glück, schon nach einer halben Stunde vorgelassen zu werden. In dem hellen Büro saß ein einzelner englischer Offizier hinter einem großen Schreibtisch. Höflich forderte er mich auf, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Überrascht bemerkte ich sein tadelloses, völlig akzentfreies gutes Deutsch. Was habe ich wieder für ein Glück, dachte ich, an einen deutschsprechenden Offizier zu geraten, und schaute mein Gegenüber aufmerksam an. Tatsächlich, ich täuschte mich wohl nicht, wenn ich den sympathisch aussehenden, fließend deutsch sprechenden Offizier für einen Deutschen hielt, einen deutschen Juden aller Wahrscheinlichkeit nach.
Nun wird heute jeder denken, dass nur überzeugte Nazis mit ideologischem Blickwinkel jüdische Mitbürger von Deutschen unterscheiden können. Wer weiß schon, dass es im Biologieunterricht ein Fach Rassenkunde
gegeben hatte, in dem wir nicht nur über Aussehen und Eigenschaften der europäischen Rassen, sondern auch über Kennzeichen der jüdischen Rasse
belehrt worden waren? Und da ich zu den wenigen gehörte, die sich für die Judenfrage
interessierten, weil wir unter ihnen gute Bekannte hatten, wusste ich auch, dass das jüdische Volk
keineswegs aus krumm- und kurzbeinigen, hakennasigen Untermenschen bestand, wie es uns eine offizielle Propaganda und besonders DER STÜRMER
weismachen wollten. Dieser hier auf der anderen Seite des Schreibtisches hatte jedenfalls keinerlei Ähnlichkeit mit derlei gehässigen Karikaturen. Mit den ausdrucksvollen dunklen Augen in dem schmalen Gesicht sah er eher spanischmaurisch aus. Gott sei Dank, dachte ich. Wenn es ihm gelungen ist, rechtzeitig zu emigrieren, sind unsere Goldschmidts
1938 sicher auch heil in Amerika angekommen! Zu diesem Zeitpunkt gingen die ersten Gerüchte um (wir hielten es für Gerüchte – wir hatten weder Radio noch Zeitungen) über die makabren Hintergründe der sogenannten Umsiedlung
und das ganze Ausmaß der Verbrechen an den Juden.
Trotz meiner Sympathie für den jungen Mann gefiel mir aber keineswegs, dass er in der Uniform des Siegers hinter dem großen Schreibtisch saß, mit mir als Bittsteller davor. Auf seine Aufforderung hin schilderte ich kurz den Überfall der polnischen Landarbeiter. Irgendwie muss meine Schilderung wohl zu anschaulich ausgefallen sein, so dass die dunklen Augen meines Gegenübers vor Vergnügen zu funkeln begannen. Er musterte mich eingehend und kritisch, während ich berichtete, lächelte dann breit und spöttisch (jedenfalls empfand ich das so) und fragte dann langsam und genüsslich: Was haben die Polen Ihnen weggenommen? Ein Fahrrad? Wirklich – nur das Fahrrad? Nichts als das Fahrrad?
Er schüttelte den Kopf, während sein Grinsen sich verstärkte (vielleicht war es ja auch ein wohlgefälliges Lächeln?) und sagte dann langsam und mit Nachdruck: Dumme Polen!!
Schweigend, wie ein hypnotisiertes Kaninchen, starrte ich mein Gegenüber an, während das Blut mir in Gesicht und Wangen schoss. Keines Wortes war ich mächtig, obwohl es mir normalerweise nicht an Schlagfertigkeit mangelte. Höchstwahrscheinlich machte ich mit knallrotem Kopf und aufgerissenen Augen einen nicht eben intelligenten, weil begossenen Eindruck, was den ironischen Frager dazu veranlasste, in ein herzhaftes lautes Gelächter auszubrechen.
Das war zu viel. Ich fühlte, wie der Zorn in mir hochstieg. Leider, – aber höchstwahrscheinlich zu meinem Glück – stand der Schreibtisch zwischen mir und dem erheiterten jungen Mann in der Siegeruniform. Ich hatte das starke Bedürfnis, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. So aber blitzte ich ihn nur wutentbrannt an, raffte mit einem einzigen Handgriff meine Tasche vom Boden auf, sprang vom Stuhl und ergriff die Flucht. Als die Tür hinter mir zuknallte, hörte ich noch das laute Gelächter. Wütend verließ ich das Kasernengelände, ohne nach links und rechts zu sehen und machte mich schnurstracks auf den Heimweg. Automatisch hatten meine Füße den Weg zur Landstraße eingeschlagen. Eine halbe Stunde später hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich nachdenken konnte. Da wurde mir klar, dass ich keineswegs einen Klugheitstest bestanden hatte. Im Gegenteil. Mit normalen Maßstäben gemessen, hatte ich mich sehr dumm benommen, als ich kopflos die Flucht ergriff. Der lachende englische Offizier, dessen Heiterkeitsausbruch ich unfreiwillig hervorgerufen hatte, hatte mir meinen Fahrradwunsch ja nicht abgeschlagen. Vermutlich hätte er ihn erfüllt!
Sicherlich wäre es klug gewesen, überlegte ich, in meinem Kurzbericht an das Mitgefühl des Zuhörers zu appellieren. Tränen sollten ja auch sehr hilfreich sein. Aber die waren im BDM steng verpönt gewesen. Ein deutsches Mädchen weint nicht!
war uns so lange eingebläut worden, bis wir Tränen für den überholten Kitsch
einer vergangenen Zeit angesehen hatten. Nein, um ein Fahrrad zu weinen, hätte ich niemals fertiggebracht und wenn wir es noch so notwendig brauchten. Vielleicht, nein, sogar sicher hatte der lachende Sieger in seiner schneidig-adretten Uniform recht gehabt mit seinem – nur – ein Fahrrad –?
Wenn die fünf Fremdarbeiter über mich hergefallen wären? So etwas passierte jetzt manchmal, nachdem die jungen Männer frei waren und sich Alkohol beschaffen konnten. Daran hatte ich nur flüchtig gedacht. Und so tröstete mich dieser Gedanke, als ich niedergeschlagen fürbass heimwandelte
.
Das sah so aus, dass ich, mit den an den Schnürriemen zusammengebundenen Schuhen über der Schulter barfuß auf dem Grasstreifen neben der Straße hertrottete. Einerseits hatte das seinen Grund darin, dass ich die Sohlen meiner guten Schuhe
schonen musste; denn wir kannten keinen Schuster, der bereit gewesen wäre, nur für Geld
Schuhe zu besohlen. Andererseits aber hatte ich auch, der vielfach gestopften Socken wegen, Blasen an den Füßen. Fünfzehn Kilometer sind sehr lang, wenn man sie zum zweiten Mal an einem Tag laufen muss und außer Radfahrern und einer englischen Militärstreife, die man nicht anhalten
konnte, tat sich an diesem Nachmittag nichts auf der Landstraße.
Im Zusammenhang mit meinem missglückten Debüt als Bittstellerin hatte ich ausgiebig Zeit, darüber nachzudenken, ob Tugenden wie Tapferkeit und Stolz, die unsere Generation als Ideale kultiviert hatte, noch sinnvoll sein konnten in einer Zukunft, in der wir als Besiegte und Bittsteller in einer Trümmerlandschaft ohne Zukunftsperspektive und Hoffnung leben mussten. Würden wir das überhaupt können? Später, viele Jahre später, als die Geschichte meines Bittganges um ein Fahrrad in meinem Gedächtnis wieder auftauchte, wunderte ich mich nachträglich. Wieso hatte ich von einem englischen Offizier, den ich als Feind ansah und zudem noch für einen deutschen Juden gehalten hatte, das Verhalten eines edlen englischen Gentleman
erwartet, wie es längst überholten
romantischen Vorstellungen entsprach? Und das ist wohl auch eines der Rätsel, für das nur Psychologen eine Erklärung finden oder auch nicht.