Norderstedts Patenkinder
Davon haben Sie noch nie gehört? Wir haben sie schon seit dem Jahre 1980, unsere Patenkinder aus Vietnam. Denn es ist nun schon fast 35 Jahre her, dass die Cap Anamur
im chinesischen Meer die BoatpeopleUnter dem Begriff Boatpeople (engl. f. Bootsmenschen, freier Bootsflüchtlinge) versteht man ursprünglich die in der Folge des Vietnamkrieges in Südostasien geflohenen Menschen, zumeist vietnamesischer Herkunft.Quelle: Wikipedia
gerettet hat und etliche der damals aufgefischten Vietnamesen in Norderstedt gelandet sind.
Es ist fast schon vergessen. Doch gibt es eine Gruppe von Menschen, die das nicht vergessen hat. Kürzlich habe ich davon vernommen. Eine der damaligen Paten
feierte ihren neunzigsten Geburtstag, nein, nicht in Norderstedt, sondern weit entfernt in einer Seniorenresidenz in der Pfalz, wohin sie vor etlichen Jahren mit ihrem Mann umgezogen ist. Sie erhielt dort an diesem Tage Besuch von allen ihren nahen Angehörigen, wozu auch etliche ihrer vietnamesischen Patenkinder
aus Norderstedt gehörten, die die Reise in die Pfalz nicht gescheut hatten, um ihre Patin zu ehren.
Als wir im Jahre 1980 das kleine soziale Experiment Paten für Vietnam
unternahmen, habe ich nicht geahnt, dass es ein geradezu vorbildliches Beispiel für Integration werden würde, ein Norderstedter Beispiel, von dem kaum jemand weiß. Denn als wir, eine kleine Gruppe Norderstedter Frauen, die sich zu einer Frauenvereinigung
zusammengeschlossen hatten, beschlossen, es nicht beim Mitleid für die Boatpeople bewenden zu lassen, sondern praktisch tätig zu werden, ahnten wir noch nicht, dass wir in Kürze die Gelegenheit dazu erhalten würden. Und da ich gerade zufällig den Vorsitz der Frauengruppe führte, war meine Aktivität gefragt.
Wir hatten uns dafür allerdings schon vorbereitet und waren nach Georgsmarienhütte bei Osnabrück gefahren, wo eine erste Gruppe vietnamesischer Flüchtlinge gelandet war. Alfred Wagner, einer unserer tätigen Politiker, hatte uns in einem kleinen Bus dorthin kutschiert. Im niedersächsischen Georgsmarienhütte hatten wir eine sehr aktive Gruppe kennengelernt, die die Betreuung der unbekannten Flüchtlinge übernommen hatte. Sie hatten Familien angeworben, die sie Paten nannten und die sich bereit erklärt hatten, ihren Patenkindern
Anschluss an ihre eigenen Familien zu gewähren und sie, vor allem in den ersten Wochen, überall hin zu begleiten ‒ zu Behörden, zur U-Bahn, beim Einkaufen und beim Arztbesuch. Denn die Flüchtlinge aus dem fernen Asien trafen ja auf niemanden, der ihre Sprache verstand im Gegensatz zu Asylbewerbern anderer Völker.
Da uns das Programm der Niedersachsen beeindruckt hatte, beschlossen wir, diesem Beispiel zu folgen, falls Norderstedt Flüchtlinge bekommen sollte. Überraschend schnell erhielten wir die Gelegenheit, unseren Beschluss in die Tat umzusetzen. Doch erwies sich, dass es nicht so einfach war, geeignete Paten zu finden. Zum Mindesten durfte ein Familienmitglied nicht berufstätig sein, um über die notwendige Zeit zu verfügen. Hilfreich war dann die Mitteilung, dass einige in der Gruppe, die für Norderstedt vorgesehen war, über englische Sprachkenntnisse verfügten. Also suchte ich in meinem Kreis nach Paten mit genügend Zeit und Schulkenntnissen zum Dolmetschen in der englischen Sprache.
Neben persönlichen Freunden bot überraschen die Loge zum Rechten Winkel
Hilfe an, so dass ich bald einen überparteilichen Betreuungskreis
beisammen hatte, dessen Zusammenarbeit hervorragend klappte.
Auf Zeitungsberichte hin erhielten wir Bekleidung und Bettwäsche, Fahrräder, Kinderwagen, Haushaltsgegenstände und so viele Möbel, dass das Rote Kreuz, das auch seine Hilfe angeboten hatte, damit zwei kleine Wohnungen ausstatten konnte. Die übrigen Mitglieder der Gruppe (25 Personen) wohnten im Städtischen Gästehaus
, das es damals noch gab, und führten ein Leben, wie es mir aus Jugendherbergen bekannt war, bis für alle Flüchtlinge Wohnungen gefunden waren.
Die Anpassungsfähigkeit unserer Flüchtlinge war erstaunlich. Ein kleines Mädchen, das wie auch alle anderen bei der Aufnahme kein Deutsch verstanden hatte, bekam bereits im zweiten Grundschuljahr in Deutsch
eine Eins im Zeugnis.
Ich erinnere mich noch genau, wie interessiert alle an unserer Nikolausfeier
waren (um sie mit deutschem Brauchtum bekannt zu machen) und erfreut die Gaben, die der heilige Mann aus der fremden Kultur ihnen schenkte, entgegennahmen. Und wie begeistert sie die Möglichkeit ergriffen, alle ihre deutschen Patenfamilien
zu einem gemütlichen Abend mit original vietnamesischem Dinner einzuladen.
Mehrere junge Männer der Gruppe machten qualifizierte Berufs- und Hochschulabschlüsse.
Um von der Gegenwart zu sprechen:
Für die damalige Patin, die zusammen mit ihrem Mann 1980 die Patenschaft für drei junge Männer übernommen hatte, nun ihren neunzigsten Geburtstag feierte, kamen mit Selbstverständlichkeit alle drei Patenkinder
sie besuchen, natürlich mit ihren Familien.
Sie haben alle in Deutschland eine Ingenieursausbildung gemacht. Der Eine hat in Deutschland nach 17 Jahren seinen Vater wieder begrüßen können, der in Vietnam in einem Lager eingesperrt war.
Einer der Drei hat eine deutsche Lehrerin geheiratet und die in Deutschland geborenen Zwillinge Tina und Tanja waren auch mitgekommen, um der deutschen Patenoma
zu gratulieren. Als ich 1980 das kleine Experiment organisierte, hatte ich nicht damit gerechnet, dass es ein absoluter Erfolg werden würde.
Mir war klar, dass die sorgfältige Auswahl der Paten wesentlich dazu beigetragen hatte und sicherlich auch die Tatsache, dass es sich bei unseren
Norderstedter Vietnamesen um besonders integrationswillige und -fähige Menschen gehandelt hat. Ein intellektueller Hintergrund war sicherlich auch von Vorteil.
Trotzdem sollten wir in unserem Lande, statt ständiger Kritik auch häufiger über gelungene Integration
berichten, wie in diesem Fall über Flüchtlinge aus dem Jahr 1980 als Ruhmesblatt für die Stadt Norderstedt.