Schule zur Untermiete
Mädchen, Mädchen, immer nur Mädchen, während meiner gesamten Schulzeit war ich in einer Mädchenklasse. Mädchen und Knaben – ja so sagte man damals noch – gingen meistens in getrennte Schulen, jedoch immer in getrennte Klassen. Aus verschiedenen Gründen musste ich mehrfach die Schule wechseln.
Eingeschult wurde ich 1952 in die Goetheschule, die Mädchenschule an der Goethestraße, die ungefähr 500 Meter von unserer Wohnung entfernt war. Wir wohnten in einer Straße, die die Grenze bildete zwischen dem Westend, in dem die privilegierten Bürger der Stadt ihre Häuser oder Villen hatten, hier wohnten der Oberbürgermeister, die Herren Doktoren X und Y, der Apotheker Z sowie die Herren Direktoren A, B und C, und dem Innenstadtbereich, in dem die weniger Privilegierten wohnten. Das Einzugsgebiet der Schule umfasste beide Bezirke.
Meine Lehrerin, Fräulein Barisa, bevorzugte offensichtlich die Kinder der Herrn A,B,C und X,Y,Z. Die Frauen und Mütter spielten persönlich keine Rolle, denn sie wurden als Anhängsel Frau Oberbürgermeister
, Frau Apotheker
und Frau Doktor
genannt. Ich spürte die Benachteiligung, denn obwohl ich manches besser wusste als diese Kinder, wurde ich nie dran genommen, wenn ich mich meldete. Es war auch schwer, alle Kinder zu berücksichtigen, denn wir waren mehr als 40 Kinder in der Klasse.
Meine Mutter besuchte mehrere Elternabende und beobachtete, dass die Lehrerin sich nur mit der Hautevolee unterhielt und die anderen Eltern kaum beachtete. Als Fräulein Barisa einmal die Eltern ausdrücklich warnte, dass ihre Kinder nicht mit einem bestimmten Kind aus der Klasse spielen sollten, weil die Mutter ein Ami-Flittchen
sei, so soll sie sich tatsächlich ausgedrückt haben, und es deshalb einen schlechten Einfluss auf die anderen Kinder nehmen würde, platzte meiner Mutter der Kragen und sie legte sich mit der hochnäsigen Lehrerin an. Es kam zu einem Eklat und ich wurde sofort aus der Schule genommen. Ich hatte somit bereits in der ersten Klasse einen Schulwechsel.
Ich wurde dann in die Bleichschule, die Mädchenschule an der Bleichstraße, eingeschult. Bleichen war für uns, dank moderner Waschmittel, unbekannt, deshalb nannten wir sie nach dem Bleistift nur Bleischule
, was für uns ein sinnvoller Name für eine Schule war.
Diese Schule war in entgegengesetzter Richtung zu meiner bisherigen Schule und ungefähr einen Kilometer von zu Hause entfernt. Es war ein altes und heruntergekommenes kleines Schulgebäude. In den Klassen waren noch die alten, zweisitzigen Schulbänke mit einem Loch für das Tintenfass in dem schräggestellten Schreibpult. Ich wurde auf den freien Platz neben Anneliese gesetzt, die meine beste Freundin wurde. Daraus entstand eine Freundschaft fürs Leben, die jetzt seit 65 Jahren besteht. Auch mit dem Rest der Klasse verstand ich mich gut, unser Klassenlehrer war nett und freundlich und nahm seinen Beruf ernst.
Die neue
Schule wurde aber schon bald abgerissen und sollte durch ein neues Gebäude ersetzt werden. Während der Bauzeit musste für uns Schülerinnen eine neue Bleibe gesucht werden. Wir kamen vorübergehend in der Wilhelmschule unter, der Knabenschule an der Wilhelmstraße. Diese war noch mal etwa 500 Meter weiter als die Bleischule
.
Mädchen und Knaben zusammen, das ging gar nicht und deshalb hatten wir Unterricht im Schichtwechsel. Eine Woche gingen die Jungen morgens zur Schule und mittags die Mädchen, die nächste Woche war es umgekehrt. Das gefiel aber vielen Eltern nicht und so mussten wir nach einiger Zeit wieder umziehen. Wir wurden dann von der Mathildenschule, der – Schule an der… na sie wissen schon – aufgenommen. Sie war einen weiteren Kilometer von der Wilhelmschule entfernt. Mein Schulweg war jetzt fast drei Kilometer lang.
Die Mathildenschule war eine Schule für Mädchen und für Knaben, eine große Schulkaserne aus der Jahrhundertwende. Sie wurde als Doppelhaus gebaut, mit zwei identischen Teilen und zwei Haupteingängen, die nebeneinander lagen. Die eine Seite war für Jungen, die andere Seite für Mädchen. Im Halbkreis um die Schule herum lag der große Schulhof, der zwischen den beiden Eingängen mit einer etwa 60 Zentimeter hohen Mauer getrennt war. Sie war ein unüberwindliches Hindernis, denn während der Pausen patrouillierten die Lehrer an der Mauer entlang. Der große Schulhof blieb aber auf beiden Seiten fast leer, denn Jungen wie Mädchen hielten sich überwiegend vor der Mauer auf und es kam zum Schlagabtausch zwischen beiden Seiten. Der ging so: Einige Jungs zogen eine Schau ab, was sie alles konnten und wie stark sie waren. Die Kommentare kamen prompt von jenseits der Mauer nach dem Motto: Alles was du kannst, das kann ich viel besser
– Kannst du nicht
. Andere zeigten demonstrative Nichtbeachtung für die andere Seite, heimlich wurde aber alles registriert, was sich da abspielte. Darüber wurde dann ausgiebig auf dem Heimweg diskutiert.
Damit es in dem großen Treppenhaus mit seinen breiten Steintreppen kein Gedränge gab, mussten wir uns zu Schulbeginn und nach der Pause in Zweierreihen aufstellen und dann Klasse für Klasse in die Schulräume gehen. Die Bleischülerinnen
waren im obersten Stockwerk untergebracht, wir waren ja nur Untermieter.
Es gab auch noch die Pestalozzischule, eine Schule für lernbehinderte Kinder, die Hilfsschule
, wie es damals immer noch hieß. Wir nannten sie die Pesta
. Das Wort sprachen wir voller Verachtung aus und wollten mit keinem dieser Schüler etwas zu tun haben. Das wurde auch von den Erwachsenen unterstützt, denn das waren die Schmuddel- oder Gassenkinder, von denen wir uns fernhalten sollten.
Nun kommt Hansi ins Spiel: In meiner Nachbarschaft wohnte Lena, ein etwas älteres Mädchen, mit dem ich gerne spielte. Sie hatte immer ihren kleinen Bruder Hansi dabei, ein frecher kleiner Kerl, der uns ständig störte. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, gab es einen Streit und Hansi verbiss sich voller Wut in meinen Oberarm . Er hing wie ein bissiger Hund an mir und ließ nicht los. Nachdem ich mich endlich befreien konnte, lief ich laut heulend nach Hause und bekam hier erst mal eine Standpauke gehalten: Du bist so ein großes Mädchen, wie kannst du dir von einem kleinen Kind so etwas gefallen lassen?
. Ich musste zum Arzt, der die Wunde behandelte und mir eine Tetanusspritze gab. Ich hatte noch mehrere Arzttermine und lange Zeit Schmerzen. Mein Stiefvater ließ es sich aber nicht nehmen, mein Missgeschick spöttisch bei jeder Gelegenheit in aller Öffentlichkeit zum Besten zu geben. Ich fühlte mich sehr bloßgestellt.
Als Hansi drei Jahre später in die Schule kam, schwänzte er oft den Unterricht und wurde deshalb bald in die Pestalozzischule umgeschult. Auch hier ging er häufig nicht zur Schule. Da verabredeten meine und Hansis Mutter, dass ich ihn morgens zur Schule bringen sollte, denn es war nur ein kleiner Umweg auf meinem Schulweg. Das wurde über meinen Kopf hinweg entschieden und es gab keine Diskussion darüber.
So musste ich jeden Morgen, mit dem Rotzlöffel an der Hand, zur Pesta
gehen und warten, bis er im Schulgebäude verschwunden war. Alle sahen mich morgens am Eingang zur Hilfsschule stehen, das war so was von ober-ober-peinlich.
Nachdem ich diesen lästigen Teil des Schulweges hinter mir hatte, holte ich meine Freundin Anneliese von zu Hause ab. Auf dem gemeinsamen Weg kamen immer mehr Klassenkameradinnen dazu und so waren wir ein lustiges Grüppchen, wenn wir morgens auf dem Schulhof eintrafen. Den langen Schulweg habe ich so kaum wahrgenommen.
Für Hansi war es genauso beschämend, dass er morgens von einem Mädchen zur Schule gebracht wurde und er setzte es durch, dass er nach ein paar Monaten wieder allein zur Schule gehen durfte.
Die Bauzeit unserer neuen Schule dauerte viel länger als geplant und so konnten wir erst zwei Jahre vor Beendigung der Schulzeit in ein eigenes, modernes Schulgebäude einziehen. Die Schule hieß nun Eichendorffschule und wir mussten uns lange mit der Literatur des Namensgebers wie dem Leben eines Taugenichts
und anderen Wandersmännern herumschlagen.
Nachtrag: Wie es sich aufgrund seines späteren Werdegangs herausstellte, war Hansi durchaus nicht lernbehindert, sondern nur ein schwieriger Schüler.