Das Missverständnis
Es war Anfang der 1980er Jahre. Drei Jahre zuvor war ich von Offenbach nach Norderstedt gezogen und genauso lange war ich auch in zweiter Ehe verheiratet.
Ich hatte bei meinem ersten Arbeitgeber in der neuen Heimat gekündigt und war nun bei einer Raiffeisengenossenschaft in Hamburg als Lohnbuchhalterin beschäftigt. Ich fühlte mich zu dieser Zeit rundum wohl, ich hatte mich nach anfänglichem KulturschockLesen Sie auch:Kulturschock
von Margot Bintig langsam an die norddeutsche Mentalität gewöhnt, die neue Firma gefiel mir gut und privat lief auch alles bestens.
An meinem neuen Arbeitsplatz konnte ich, im Gegensatz zur alten Firma, selbstständig arbeiten. Ich habe zum ersten Mal Daten direkt mit der Tastatur am Bildschirm eingegeben, Lochkarten gab es hier schon nicht mehr. Mein Vorgesetzter, der Personalchef, war ein älterer Herr, kurz vor der Rente, und wohl deshalb wollte und konnte er mit dem neumodischen Zeug
, wie er die EDV nannte, nichts anfangen und war froh, wenn ich ihn damit nicht belästigte. Dafür arbeitete ich eng mit dem EDV-Leiter zusammen.
Dieser bezog mich auch mit ein, als ein neues Lohnprogramm gekauft werden sollte. Die Entscheidung fiel auf ein Programm für mittelständische Unternehmen, bei dem man noch firmenspezifische Änderungen und Schnittstellen für das eigene Unternehmen, wie zum Beispiel für die Buchhaltung oder die Nachkalkulation flexibel einrichten musste.
Das Programm war von der Firma NCR aus Augsburg. Ich sollte nun eine Woche zur Schulung nach Augsburg fahren, um anschließend das Programm auf die Belange der Firma einzurichten. Auf meine Frage an den EDV-Leiter, ob er denn mitkomme, sagte er Das schaffen Sie schon allein
. Von dieser Einschätzung war ich weit entfernt.
Trotzdem fuhr ich zwei Wochen später sonntagmorgens ohne Begleitung mit dem Intercity nach Augsburg. Schon am frühen Nachmittag kam ich an und fuhr mit dem Taxi zu dem von der NCR gebuchten Hotel. Ich hatte mir extra die frühe Verbindung ausgesucht, denn ich wollte mir Augsburg, eine der ältesten Städte Deutschlands, ansehen, bevor es am nächsten Tag ernst wurde.
Schon im Foyer sah ich zwei Männer, ich schätzte sie als Vater und Sohn ein, die mich ständig ansahen und die, wie ich dachte, über mich redeten. Ich lag hier richtig, denn der Ältere von den beiden kam auf mich zu und fragte, ob ich auch zu der NCR-Schulung wolle. Wie kamen sie nur darauf? Wie ich am nächsten Tag feststellte, war ich die einzige Frau bei dieser Schulung. Als ich bejahte, stellte er sich als der Inhaber eines mittelständischen Unternehmens in Freiburg vor, seinen Begleiter als seinen Angestellten, der eigentlich die Schulung besuchen sollte. Er selbst sei nur aus Interesse dabei, denn er wolle sich auf dem Gebiet der EDV auch besser auskennen und wissen, was seine Mitarbeiter tun. Das genaue Gegenteil von meinem Personalchef. Sie waren, genau wie ich, absichtlich früh angereist, um sich Augsburg anzusehen. Bevor wir uns fast festgequatscht hatten, verabredeten wir uns eine Stunde später an gleicher Stelle, um gemeinsam die Stadt zu erkunden.
Wir gingen erst zur Fuggerei. Sie ist die älteste Sozialsiedlung der Welt, die eine Stadt in der Stadt bildet. Sie wurde 1521 gegründet von Jakob Fugger – dem reichsten Menschen, der jemals gelebt hat – für in Not geratene Augsburger Bürger. Die Fuggerei wird auch heute noch bewohnt und damals wie heute zahlen die Bewohner den gleichen Mietzins wie bei der Gründung. Heute, im Jahr 2021 beträgt er jährlich 0,88 Euro Jahreskaltmiete und drei Gebete täglich.
Nach so viel Kultur und Geschichte gingen wir in die Altstadt und kehrten in der ältesten Gaststätte ein. Es war sehr urwüchsig, Holztische und Stühle und eine Bank um die Wände herum. Über die Speisekarte war ich ziemlich erstaunt. Es gab bayrische Hausmannskost und die Preise lagen hier, so wie auch in den anderen Lokalen, weit unter denen, die ich von Hamburg gewohnt war. Jetzt hatte ich schon mal ein offenes Spesenkonto und jetzt das … Es wurde ein netter Abend, bei dem wir selbstverständlich auch das bayrische Bier probierten. Obwohl wir nach dem guten und deftigen Essen reichlich satt waren, konnten wir uns das Dessert nicht verkneifen. Auf der Karte stand Nonnenpfürzle
, über die wir uns sehr amüsierten und deshalb unbedingt probieren mussten. Zuerst wollten wir es uns teilen, doch dann dachten wir an den Kosakenzipfel
von Loriot und wollten unsere neue Freundschaft nicht aufs Spiel setzen, deshalb bestellten wir jeder eins. Nonnenpfürzle
ist eine Art Schmalzgebäck, das mit Vanillesoße übergossen wurde. Der Abend wurde dann frühzeitig beendet, denn der nächste Tag würde unsere ganze Aufmerksamkeit erfordern.
So war es auch. Die Schulung war sehr anspruchsvoll und ich hatte Mühe, dem Stoff zu folgen. Wir drei saßen selbstverständlich wieder zusammen und ich stellte fest, dass der Jüngere in die Materie viel besser eingearbeitet war als ich, sodass er mir gut weiterhelfen konnte. Der Ältere gab sich wenig Mühe, sich in den Stoff einzuarbeiten, hörte aber aufmerksam zu. Er war ja der Chef und hatte seine Leute, die damit arbeiten mussten.
In den Pausen und auch abends waren wir immer zusammen. Jetzt waren auch die Lerninhalte das Thema. Trotz des Altersunterschiedes, ich war damals Mitte 30, den jüngeren der beiden Männer schätzte ich auf Mitte 20 und den älteren auf über 50 Jahre, hatten wir die gleiche Wellenlänge. Ich empfand es als sympathisch, wie der Chef und sein Angestellter freundschaftlich miteinander umgingen. Nachdem ich inzwischen an die norddeutsche Zurückhaltung gewohnt war, fühlte ich mich jetzt fast wieder wie zu Hause, wo ich mit Fremden schnell Kontakt bekam.
Doch nach drei Tagen ging bei mir abends im Zimmer das Telefon. Der Ältere der beiden rief an und fragte, ob er noch mal rüberkommen könne, wir würden uns doch so gut verstehen und dann könnten wir auch, bla, bla…, das alte Spiel.
Ich sagte ihm freundlich, aber bestimmt ab, was er akzeptierte, doch er meinte, dass wir drei für den Rest der Zeit weiterhin so gut zusammenbleiben könnten wie bisher, dem ich zustimmte.
Wir trafen uns am nächsten Tag wie zuvor zum Frühstück, in der Mittagspause und gingen am Abend zusammen aus. Aber es war nicht mehr wie vorher. Ich hielt etwas Distanz zu dem Älteren und schloss mich jetzt mehr dem Jüngeren an. Ich konnte ihm auch aufgrund seiner größeren EDV-Erfahrung viele Fragen stellen, die er mir verständlicher beantworten konnte als der Kursleiter. Wir hatten schon unsere Telefonnummern ausgetauscht und ich dachte, dass ich ihn später anzapfen
kann, wenn ich allein mit dem Programm nicht mehr weiterkomme. Ich fühlte mich schon etwas überfordert mit dieser Aufgabe, denn ich hatte noch kaum EDV-Kenntnisse.
Möglich, dass ich es unbewusst etwas übertrieben habe mit der Annäherung an den Jüngeren, denn am Abend bekam ich wieder einen Anruf aufs Zimmer. Diesmal war der Junge dran. Er sagte, dass er bemerkt habe, dass ich mehr seine Nähe suche als zuvor, aber er sei frisch verheiratet und sehr glücklich in seiner Ehe. Er suche kein kurzfristiges Abenteuer.
Ich musste mich beherrschen, um nicht laut loszulachen, doch ich sagte ihm ganz ruhig, dass er wohl etwas missverstanden habe, denn ich suche nur fachliche Unterstützung. Ich klärte ihn über den wahren Grund meiner Annäherung
nicht auf. Dem jungen Mann war es jetzt wohl peinlich, und wir legten den Hörer nach kurzer Verabschiedung schnell wieder auf.
Am nächsten Tag gab ich vor, keine Zeit zu haben, weil ich die Lerninhalte noch mal durchgehen wolle, um am darauffolgenden letzten Tag noch entsprechende Fragen stellen zu können. Das war auch nicht falsch, denn in Hamburg musste ich das Gelernte ohne Hilfe umsetzen. Das Abendessen nahm ich allein im Hotel ein. Hier konnte ich wenigstens die Spesen etwas erhöhen, denn in dem internationalen Hotel waren die Preise deutlich höher als in den Lokalen am Ort.
Am Abreisetag ging es vom Schulungszentrum direkt zum Bahnhof. Die Verabschiedung von den zwei Männern war kurz und kühl. Ich saß dann im Zug mit kiloschweren Programmunterlagen und der Gewissheit, dass Freundschaft zwischen Männern und Frauen eine ziemlich komplizierte Sache ist.
Ich habe die Umstellung auf das neue Lohnprogramm recht gut hinbekommen, bei Fragen rief ich direkt im NCR-Schulungszentrum an.