Und morgens grüßt das Murmeltier …
Mitte der 1960er Jahre verbrachten wir unseren Sommerurlaub gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar. Unser Ziel war Lloret de Mar in Spanien, etwas nördlich von Barcelona. Obwohl wir insgesamt drei Wochen Urlaub hatten, mieteten wir nur für eine Woche eine Ferienwohnung. Die Hin- und Rückfahrt wollten wir ganz entspannt durch Frankreich und die Schweiz reisen, der Weg war das Ziel.
Wir übernachteten in kleinen Pensionen oder Privatunterkünften. Die Adressen bekamen wir vom örtlichen Fremdenverkehrsverein. Zu dieser Zeit war das Internet, das es heute ermöglicht, Unterkünfte bereits von zu Hause aus in 360 Grad-Ansicht vor der Buchung anzusehen, noch in weiter Ferne. Die kleinen Herbergen waren sehr unterschiedlich. Bei Privatvermietungen räumten oft die Vermieter ihr eigenes Schlafzimmer und schliefen selbst im Wohnzimmer. Oder sie machten aus den Kinderzimmern Fremdenzimmer, wenn die Kinder bereits ausgezogen waren. Der fehlende Komfort wurde meistens durch große Gastfreundschaft ausgeglichen.
An eine Unterkunft erinnere ich mich besonders gern: Am Neuchâteler See fanden wir spätabends eine kleine Auberge. Eine ältere Dame mit Schürze und Häubchen öffnete die Tür und begrüßte uns freundlich. Wir traten in einen großen Vorraum, die Dielen knarrten, schwere alte Holzmöbel standen im Raum und die Gemälde an den Wänden waren vermutlich Ahnenbilder.
Sie führte uns die Stufen hinab in den Keller. Wir hatten nicht vor, im Keller zu übernachten, doch es war schon zu spät, um etwas anderes zu suchen. Die alte Dame sprach nur französisch, was keiner von uns beherrschte, doch wir verstanden, dass bei schönem Wetter das Frühstück auf der Terrasse serviert wird. Wir bekamen zwei große Zimmer, sauber und im Stil des letzten Jahrhunderts eingerichtet. Wir fühlten uns in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt.
Am nächsten Morgen kam die große Überraschung: Als wir die Fenster und die schweren Holzfensterläden öffneten, sahen wir, dass sich unsere Zimmer im Erdgeschoss eines Hanghauses befanden. Das Haus stand mitten in den Weinbergen, die das ganze Gebiet umgaben. Unter uns lag der in der Morgensonne glitzernde See.
Wie versprochen gab es ein gutes Frühstück auf der Terrasse, die mit Weinreben umrankt war und von der aus man direkt auf den See blicken konnte. Die ganze Atmosphäre war wie verzaubert. Es war einer der Orte, bei denen ich mir fest versprach wiederzukommen, doch mein Versprechen nie einlöste.
Nach ein paar weiteren Stationen erreichten wir unser Ziel in Lloret de Mar. Unsere Ferienwohnung war in einem kleinen Wohnblock direkt am Meer. Wir luden das Auto aus und bezogen die Wohnung.
Später ging ich nochmal zum Auto, um ein paar restliche Sachen zu holen. Als ich die Autotür aufschloss, kam ein älterer Mann auf mich zu, packte meinen Arm und schrie mich im bayrischen Dialekt an, was ich in seinem Auto zu suchen hätte. Er rief auch den Passanten zu, sie sollten sofort die Polizei rufen, er würde die Diebin bis zu deren Eintreffen festhalten. Es gab einen Menschenauflauf und auch unsere Freude kamen hinzu. Ich merkte schnell, dass die Sachen, die ich holen wollte, nicht mehr im Auto waren, also mussten Diebe am Werk gewesen sein. Der Mann war ziemlich unverschämt und ich konnte mich kaum wehren. Dann kam mein Mann dazu und rief: Das ist nicht unser Auto!
Ich sah ihn sprachlos an. Das war doch unser weißer BMW 1800 und ich hatte ihn gerade mit meinem Schlüssel aufgeschlossen. Mein Mann forderte den Hitzkopf auf, mich sofort loszulassen. Er sagte ihm, dass unser Auto etwas weiter vorne steht und – bis auf das Nummernschild – völlig identisch mit seinem ist. Sogar die Schlüssel schienen für beide Wagen die gleichen zu sein. Das wollte der Kerl erst nicht glauben, ging dann aber mit und schloss mit seinem Schlüssel unser Auto auf. Er probierte es mehrmals, denn er konnte die offensichtliche Tatsache nicht begreifen, dass sein Schlüssel tatsächlich zu beiden Fahrzeugen passte.
Des ko oba ned sei
meinte er, de Wahrscheinlichkeit, dass so wos passiad, is oba geringer ois sechs Richtige im Lotto
. Ich hätte lieber den Lottogewinn gehabt. Schließlich entschuldigte er sich bei mir für sein grobes Verhalten und zeterte gleich wieder laut los gegen die Bayrischen Motorenwerke: De macha so oan Pfusch und des sui Made in Germanie soan
. Eigentlich hätten wir nach so einem außergewöhnlichen Zufall den Mann eingeladen mit uns zusammen etwas zu trinken oder einen netten Abend zusammen verbracht, doch jetzt waren wir froh, dass wir den Stinkstiefel los waren. Sollten die Bayern es doch unter sich ausmachen, für uns war die Angelegenheit erledigt, es blieb eine lustige Anekdote.
Nach ein paar Tagen am Strand hatten wir genug davon, weil es zu überfüllt war. Dennoch war Lloret de Mar zu der Zeit noch weit entfernt von dem heutigen Massentourismus und Partytrubel. Wir unternahmen noch Ausflüge nach Barcelona, eine sehr schöne Stadt, die ich später noch mehrmals besuchte, sowie zum Kloster Montserrat, das in bizarre Felsen hineingebaut wurde und von dem aus man eine herrliche Aussicht genießen konnte.
Dann begaben wir uns wieder auf die Rückreise, für die nochmals viel Zeit eingeplant wurde. Einen Abstecher von der normalen Reiseroute machten wir nach Chamonix am Mont Blanc. Hier fuhren wir mit der Seilbahn zur Aiguille du Midi, einer Felsformation im Montblanc-Massiv. Bei der Mittelstation stiegen wir aus. Obwohl wir keine Bergwanderer waren, sind wir bei schönstem Wetter noch etwas spazieren gegangen, um die herrliche Aussicht zu genießen. Irgendwie haben wir die Zeit vergessen, denn als wir zur Station zurückkamen, war die letzte Seilbahn weg.
Zu unserem Glück gab es einige Meter oberhalb der Station eine Hütte mit ein paar Tischen und Bänken vor der Tür, wo bei unserer Ankunft noch Leute gesessen haben. Jetzt war alles leer. Wir gingen hoch zur Hütte und erzählten dem Wirt von unserem Malheur. Der meinte, wir könnten über Nacht bleiben, aber eigentlich sei es nur eine Unterkunft für Bergsteiger. Das bedeutete, der Dachboden war aufgeschüttet mit Stroh. Jeder bekam ein paar Decken und konnte sich dort einen Platz suchen. Was blieb uns anderes übrig? Ein Abstieg in der Dunkelheit und ohne Ausrüstung war für uns unmöglich.
Zum Abendessen gab es keine große Auswahl, denn die Tagesgäste hatten fast alle Vorräte aufgebraucht und der Wirt wartete auf Nachschub, den die erste Seilbahn am nächsten Tag bringen würde. Auch das Wasser war knapp, doch Wein wäre noch genügend da. Der Wirt stellte uns schließlich einen Topf mit Käsefondue auf den Tisch, dazu das restliche Baguette zum Eintunken. Nach der ersten Flasche Rotwein wurde es ein fröhliches und geselliges Essen. Wir lachten viel, doch nach der dritten Flasche wurde es richtig albern.
Zwischendurch musste ich natürlich auch auf die Toilette. Das Holzhäuschen stand außerhalb der Hütte, mit der Rückseite zum Besucher der Toilette, ganz nahe am Abgrund. Ein paar Schritte vor dem Häuschen war ein kleiner Schlagbaum, daran hing ein gut verständliches Piktogramm: Schranke hoch – frei, Schranke runter – besetzt. Ich machte also die Schranke herunter, ging zum Herzhäuschen, wie ich dachte, doch hier gab es keine Tür, die Vorderseite war komplett offen. Direkt am Abgrund war ein provisorischer Holzzaun zur Sicherheit. Hier war die spektakulärste Aussicht, die ich jemals von einer Toilette hatte, ich blickte auf das riesige schneebedeckte Gebirgsmassiv des Mont Blanc, das sich noch erahnen ließ und tief unter mir auf die Lichter von Chamonix.
Als wir spätabends mit unseren Decken über eine Leiter auf den Dachboden kletterten, sahen wir, dass schon ein paar Bergsteiger in der Ecke lagen und schliefen. Wir versuchten so leise wie möglich zu sein, um sie nicht zu stören. Leider war das in unserem alkoholisierten Zustand nicht möglich. Immer wieder musste einer von uns laut loslachen und die anderen stimmten mit ein. Wir konnten nicht aufhören zu lachen oder zu kichern.
Plötzlich brüllte es aus der anderen Ecke auf Deutsch mit französischem Akzent: Ihr verdammten Boches, seid endlich still, wir müssen morgen früh raus und brauchen unseren Schlaf.
Doch so ein Lachanfall ist nicht leicht zu unterdrücken, deshalb haben wir hier sicherlich keine Freunde gefunden.
Am frühen Morgen musste ich dann wieder diese besondere
Toilette aufsuchen. Als ich so ruhig dasaß, stand plötzlich direkt vor mir ein putziger, etwa 60 Zentimeter kleiner grauer Kerl und sah mich unverwandt an. Ich sah ihm direkt in die Augen, doch er ließ sich nicht beeindrucken. Er kannte dieses Bild sicher schon. Ich saß länger als nötig auf dem stillen Ort und hielt Zwiesprache ohne Worte mit einem Murmeltier. Als ich aufstand, war es blitzschnell verschwunden.
Als wir gegen acht Uhr morgens aus dem Strohbett kamen, gab es kein Wasser zum Waschen und kein Frühstück. Wir wollten die erste Gondel nach unten nehmen. Da sahen wir in einigem Abstand eine ganze Familie Murmeltiere stehen, die uns wohl verabschieden wollten. Im Ort suchten wir ein Café zum Frühstücken, doch zuerst machten wir auf der Toilette des Lokals eine Katzenwäsche, um einigermaßen zivilisiert am Frühstückstisch zu erscheinen.
Über Luzern und nach einer Schiffsfahrt auf dem Vierwaldstädter See, fuhren wir dann auf direktem Weg nach Hause.
Es war ein Urlaub, über den wir noch lange gesprochen haben.