Barzahlung
Meine Lehrzeit als Industriekaufmann/-frau absolvierte ich Anfang der 60er Jahre in einem großen Autohaus mit Kfz-Werkstatt.
Ab dem zweiten Lehrjahr wurde ich im Lohnbüro eingesetzt.
Ich war erst 16 Jahre alt, aber schon nach kurzer Zeit wurde mir die Abrechnung für die Löhne der Arbeiter übertragen. Die Abrechnung war damals allerdings wesentlich einfacher als heute, denn die gesetzlichen Bestimmungen für die Abzüge wie Lohnsteuer und Sozialabgaben waren noch überschaubar.
Zu dieser Zeit bekamen die Arbeiter wöchentlich, immer freitags, eine Lohnabrechnung.
Es wurde aufgrund von Gesetzen genau unterschieden zwischen Arbeiter und Angestellten.
Arbeiter wurden nach Stundenlohn bezahlt und erhielten damals, wie gesagt, noch wöchentlichen Lohn. Angestellte bekamen ein festes Monatsgehalt, das zum Monatsende fällig wurde. Es gab nur Barauszahlungen.
Erst seit 2001, als das Betriebsverfassungsgesetz geändert wurde und im Jahr 2005 alle Rentenversicherungen, wie die Landesversicherungsanstalten LVA (für Arbeiter) und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte BFA, zur Deutschen Rentenversicherung zusammengefasst wurden, gibt es gesetzlich diese Unterscheidung nicht mehr.
Ich rechnete also jede Woche den Wochenlohn für die Arbeiter aus. Der auszuzahlende Nettolohn wurde in Scheinen und Münzen in eine braune Lohntüte eingetütet und dem Mitarbeiter ausgehändigt. Dazu kam noch ein Lohnstreifen, der wirklich ein Streifen von ca. 1,5 cm Breite und ca. 35 cm Länge war, auf dem mit Handschrift der Bruttolohn und die Abzüge für Steuer und Sozialversicherung eingetragen waren. Das war das Abrechnungsformular
für den Mitarbeiter.
Die auszuzahlende Bargeldsumme und die genaue Stückelung der D-Mark-Scheine und der Mark und Pfennigmünzen, musste donnerstagabends feststehen. Erst dann war -ohne Ausnahme- Arbeitsende.
Jeden Freitagmorgen fuhr ich zuerst mit meinem Fahrrad zur Bank. Auf dem Gepäckträger hatte ich meinen Teenagerkorb
, das war ein Flechtkorb mit Henkel, den man mit einem bunten Tuch abdeckte und der zu dieser Zeit bei jungen Mädchen sehr in Mode war.
Bei der Bank holte ich aus dem Schließfach die Tagesauszüge für die Firma und am Bankschalter die Lohngelder für ca. 50 Arbeiter. Am Monatsende kamen auch die Gehälter für noch mal ca. 40 Angestellte dazu. Alles kam in den schicken Korb auf dem Gepäckträger.
Dann fuhr ich zur Post, um aus dem Schließfach die Firmenpost zu holen. Die kam auch in den Korb.
Auf dem Rückweg arbeitete ich die Einkaufliste ab, die ich von den Kollegen für das Frühstück mitbekommen hatte:
- vom Bäcker verschiedene Brötchen
- vom Metzger kalte und warme Wurst
- vom Lebensmittelhändler Joghurt, Käse, Butter
und vom Kiosk die Bildzeitung für zehn Pfennig.
Wenn ich zur Firma zurückkam, war mein Teenagerkorb immer randvoll gepackt. Die Lohngelder lagen gut versteckt unter den ganzen Einkäufen.
In der Firma wurde erstmal in großer Runde gefrühstückt. Es gab keine festgelegten Pausen. Wann und wie lange wir Frühstücks- und Mittagspause machten, konnten wir - solange es im Rahmen blieb - selbst bestimmen. Feierabend war erst, wenn die Arbeit erledigt war. Dies war selten vor 18.00 Uhr der Fall.
Nach dem Frühstück schlossen meine Vorgesetzte und ich uns in einem Raum ein, um die Lohntüten mit dem Bargeld zu füllen. Das geschah aber nicht etwa aus Sicherheitsgründen, sondern nur deshalb, damit wir in Ruhe arbeiten konnten.
Es wollten nämlich immer einige Kollegen vorzeitig den Lohn, denn vor dem Gebäude standen häufig die Ehefrauen mit Kindern, die das Geld sofort von ihren Männern in Empfang nahmen. Manche der Frauen wollten auch das Geld direkt von uns haben, was wir aber in jedem Fall ablehnen mussten. Das tat uns in den Fällen leid, bei denen wir wussten, dass abends nicht mehr viel von dem Lohn übrig war.
Wenn mal das Bargeld nicht gleich restlos aufging - es war also noch Geld übrig oder es fehlte etwas - musste alles noch einmal ausgetütet und nachgezählt werden, bis der Fehler gefunden war. Das dauerte natürlich entsprechend länger.
Wir mussten uns dann lautes Gepolter an der Tür und auch Beschimpfungen anhören.
Einige Zeit später wurde die wöchentliche Lohnabrechnung umgestellt auf monatliche Abrechnung. Das bedeutete, dass nur noch einmal im Monat die Löhne gerechnet wurden und wöchentlich ein runder Betrag als Abschlag in Höhe der zu erwartenden Lohnsumme gezahlt wurde.
Der restliche Lohn wurde dann zusammen mit den Gehältern am Monatsletzten weiterhin bar ausgezahlt.
Es galt aber immer noch: Freitag war Zahltag!
Die Lohnabschläge wurden wie folgt gezahlt:
Ich zog mir einen Arbeitskittel mit großen Taschen an, stopfte das Bargeld - in diesem Fall nur Scheine - lose in die Taschen und ging mit einer Unterschriftenliste in die Werkstatt. Dort ging ich von Werkbank zu Werkbank und zählte dort jedem Arbeiter den entsprechenden Betrag vor und er quittierte auf meiner Liste den Empfang.
Wenn jetzt zum Schluss das Geld nicht reichte oder noch ein Rest blieb, hatte ich ein Problem, denn ich konnte ja nicht wie bei den Lohntüten alles noch mal nachzählen. Das kam aber zum Glück selten vor, denn wenn ich mich wirklich mal verzählte, machten mich die Kollegen meistens darauf aufmerksam.
Die Bargeldbeschaffung ging noch einige Zeit wie bereits beschrieben vonstatten. Dann ereignete sich in der Stadt ein spektakulärer Raub von Lohngeldern, bei dem auch Personen zu Schaden kamen.
Der Firmenleitung wurde daraufhin wohl zum ersten Mal klar, wie gedankenlos man bisher mit dem Geldtransport umgegangen war und in welche Gefahr man mich als Minderjährige gebracht hatte. Man verfiel daraufhin prompt in Aktionismus und die Lohngelder kamen wie folgt in die Firma:
Zwei leitende Angestellte fuhren zusammen in einem Auto zur Bank. Der Fahrer blieb mit laufendem Motor direkt vor dem Bankeingang im Auto sitzen, während der andere mit einer am Arm angeketteten Aktentasche in die Bank ging und das Bargeld holte. Das war bei dem damaligen Verkehr noch möglich. Sofort, nachdem der Kollege mit dem Geld aus der Bank kam, fuhr der Fahrer ohne Zwischenhalt zurück in die Firma.
Nach der Ankunft kamen sie dann zu zweit in unser Büro und ketteten die mit Geld gefüllte Aktentasche erst an meinem Schreibtisch los. Dann ließen sie mich und meine Kollegin mit dem vielen Bargeld allein.
Ich dachte so für mich, dass ich mit meinem Fahrrad und dem Korb auf dem Gepäckträger viel unauffälliger war. Dass ich mich wirklich in Gefahr befand, war mir damals nicht bewusst.
Nach einiger Zeit wurde die Prozedur wieder etwas gelockert, aber mein Fahrrad mit dem Teenagerkorb wurde nie mehr als Geldtransporter eingesetzt.