Als Au-pair-Mädchen in Frankreich
oder:
Auch ein Pastor ist nur ein Mensch
Im August 1959 fuhr ich mit dem Zug von Hamburg-Hauptbahnhof nach Valence in Süd-Frankreich; ohne umzusteigen eine 24-Stunden-Fahrt. (Valence liegt 120 km südlich von Lyon und 25 km nördlich von meinem neuen Zuhause
, wo ich in 12 Monaten perfekt Französisch lernen wollte. Mein neues Zuhause war das Städtchen Romans. Eine Schulfreundin aus der Berlitz School bot mir an, mich als ihre Nachfolgerin vorzuschlagen, wenn sie ihre 12 Monate als Au-pair-Mädchen absolviert hat. Dies war meine große Chance, denn ich wollte meine französischen Sprachkenntnisse nach meinem Diplom als Dolmetscherin/Korrespondentin im Mutterland
vervollkommnen. Das war die Forderung meines Vaters für eine vernünftige Grundlage, um dann nach England zu gehen und auch dort – wie hier in Romans – als Au-pair-Mädchen in einer Familie zu leben und zu dienen
. Aber zuerst musste ich noch die englischen Zeugnisse erarbeiten und die Prüfungen schaffen, was mir nun auch gelungen war.
Ich machte mich also auf den Weg nach Frankreich. Liebevoll wurde ich von der Familie nachts um 1.30 Uhr begrüßt und meine Freundin Ingrid, die mich mit dem Herrn des Hauses in Valence vom Zug abgeholt hatte, wies mich in alles ein, was ich wissen musste, um die erste Nacht in dem neuen Zuhause zu überstehen. Ich weiß nur noch, dass ich hundemüde und mir alles ziemlich egal war.
Meine neue Familie bestand aus Monsieur, Madame, der adeligen Großmutter Madame Donnedieu-de-Vabre, und 6 Kindern – die älteste Tochter, Colette, 12 Jahre alt, dann die beiden Brüder Jean-Pierre und Bernard, 11 und 9 Jahre alt, es folgte das zweite Mädchen, Marie-Claire, 6 Jahre alt, die heute noch meine beste Freundin ist und mich im September wieder einmal besuchen wird, Schlusslichter waren Robert mit 4 Jahren und mein ganz persönlicher Schatz Petit-Georges, 3 Wochen alt.
In Romans bei der Familie Fauche verbrachte ich eine wunderbare Zeit, auch wenn ich in meinem ganzen Leben nie wieder so hart arbeiten musste wie dort. Morgens begann der Tag für mich um 6 Uhr und vor 22 Uhr war selten Feierabend. Das Gute war, niemals habe ich mich ausgebeutet oder überfordert gefühlt. Ich bin sehr behütet und auf eine bestimmte Art auch als verwöhnte einzige Tochter meiner Eltern sehr beschützt aufgewachsen und so betrachtete ich diese Chance, mit 18 Jahren alleine in die große weite Welt zu dürfen, als einen großen Vertrauensbeweis meiner Eltern.
Ganz schnell wurde ich das 7. Kind der Familie Fauche, ich fühlte mich in dieser protestantischen Familie wohl und hatte nicht ein einziges Mal Heimweh. Man stelle sich heute einmal vor, die Familie hatte keinen Fernseher, kein Telefon, keinen Kühlschrank, keine Waschmaschine. Das große Haus, in dem jedes Kind ein eigenes Zimmer hatte, lag vier Kilometer vom Zentrum des Ortes Romans entfernt. Ohne mein Mofa, das mir sofort zur Verfügung gestellt wurde, weil ich nicht gern Fahrrad fuhr, hätte ich keine Chance gehabt, mehr von dem Ort Romans oder seiner Umgebung, in der es nur Weinfelder gab, kennenzulernen.
14 Tage war ich mit meiner Freundin Ingrid noch zusammen, um in meine vielfältigen Aufgaben eingewiesen zu werden. Dann begann der Ernst des Lebens für mich – es war alles ganz prima. So lieb auch alle zu mir waren, wusste ich, dass ich irgendetwas machen musste, um mir einen gewissen Freiraum zu schaffen. So fragte ich nach 3 Wochen ohne Ingrid, ob ich nicht irgendeine soziale Arbeit in der Kirche machen könnte. Für Madame war die Kirche sehr wichtig, denn in Süd-Frankreich hat es die protestantische Kirche nicht sehr leicht. Es muss viele Ehrenamtliche und Geldspenden geben, um die angenommenen Pflichten zu erfüllen und das Gehalt des Pastors zu erwirtschaften
. Somit war Madame sehr glücklich, dem Kirchenvorstand zu melden, dass ihr Au-pair-Mädchen gern ein Amt übernehmen würde. Sie schlug mich als Leiterin der Petites Ailes
vor; eine Mädchengruppe im Alter von 5-10 Jahren, die auf ihre Pfadfinderaufgaben vorbereitet werden. Um meine 15 kleinen Mädchen zu betreuen und zu begeistern, musste ich einen Fernkurs über den Umgang mit Kindern absolvieren. Es gab keine Schwierigkeiten. Meine kleinen Mädchen, die aus allen sozialen Schichten kamen, waren für mich pflegeleicht, und ich schloss sie alle schnell in mein Herz. 15 Kinder waren gemeldet, aber es fehlte immer mal das eine oder andere Kind, denn es war ja eine freiwillige Sache und da man in Frankreich nur den Donnerstagnachmittag schulfrei hatte, mussten oft auch andere Dinge erledigt werden.
Als aber ausgerechnet die 7-jährige Tochter des Pastors dreimal hintereinander fehlte, machte ich mir große Sorgen und fragte meine Madame, ob die Kleine vielleicht krank sei oder ob irgendetwas anderes passiert ist. Madame druckste irgendwie herum und ich merkte, irgendetwas muss ich verbockt
haben. Nur war ich mir gar keiner Schuld bewusst, im Gegenteil, die kleine Monique hatte ich ins Herz geschlossen, weil sie sehr lebhaft war und trotzdem absolut gehorsam. Ich ließ nicht locker, ich wollte wissen, was ich falsch gemacht habe. Madame beruhigte mich: Ich hätte nichts falsch gemacht. Der Pastor, den ich übrigens jeden Sonntag in der Kirche traf, und der mich inzwischen ganz gut kannte, wollte nicht, dass seine Tochter von einem Nazi-Mädchen erzogen
wird. Der Pastor, mit dem ich oft sprach – indirekt war er ja mein Chef – hielt mich für eine Nazi-Deutsche
, als hätte ich persönlich den Weltkrieg erklärt und das Unglück über seine Familie gebracht. Madame tröstete mich, als ich in Tränen ausbrach, weil ich es nicht glauben konnte – ein Kirchenmann urteilte so über mich. Ich bin im Krieg geboren, meinen Vater habe ich erst mit 6 Jahren kennen gelernt, weil er drei Jahre in Kriegsgefangenschaft war. Madame wollte nun mit dem Pastor sprechen, aber da habe ich all meinen Mut zusammengenommen und Madame erklärt, das will ich alleine machen
, ohne ihre Hilfe und vor allen Dingen, ohne protegiert zu werden.
Ich möchte nicht sagen, dass ich dem Pastor die Leviten gelesen habe, aber ich habe sehr viel Luft abgelassen und nicht immer ganz leise, was mir ganz selten in meinem Leben passiert ist – übrigens hier zum ersten Mal. Als Entschuldigung erklärte er mir, er hasst die Deutschen, weil sie seinen Vater und seine beiden Brüder getötet haben und darum will er nicht, dass seine Tochter von einer Nazi-Deutschen
erzogen
wird und sie (die kleine Monique) diese Nazi-Deutsche auch noch liebt.
Auch ein Pastor ist nur ein Mensch! Und kann seinen Kummer auch nicht immer runterschlucken
, aber für mich war diese Haltung unfassbar und wenig christlich. Ein persönliches Gespräch hätte ihm wie auch mir viel Kummer erspart.
Zum nächsten Treffen der Petites Ailes
erschien Monique wieder, fiel mir um den Hals und übergab mir einen selbstgepflückten Blumenstrauß. Die Frau des Pastors nahm mich nur in den Arm, drückte mich und sagte, einer musste ihm so etwas mal sagen. Sie freute sich, dass ihre Tochter nun wieder in die Gruppe kommen durfte.
Als meine Au-pair-Zeit zu Ende ging, entschuldigte sich der Pastor bei mir, es tat ihm leid, dass er mir gerade den Anfang als Au-pair Mädchen so schwer gemacht hatte. Rückblickend war ich stolz, dass ich es mit einem Pastor aufgenommen hatte und ohne Blessuren davon gekommen bin.